Wenn ich Freunden und Bekannten gegenüber äußere, dass mir Religion wichtig ist, oder dass ich mich als religiös bezeichnen würde, hat das häufig eine ähnliche Wirkung, als würde ich eine verborgene Perversion oder eine kriminelle Vergangenheit gestehen: Hüsteln und baldiger Themenwechsel ist oft die Folge. Ist auch nachvollziehbar, wenn ich mir anschaue, welches Bild von Religionen in den Medien transportiert wird. Dabei berichten die Medien natürlich von dem, was ihnen und den Konsumenten berichtenswert erscheint: Skandale, Missbrauch, Rückständigkeit, Bigotterie, Fortschrittsfeindlichkeit, Homophobie, Sexismus, etc... Und all das ist ja auch Realität. Es ist Realität im Buddhismus, im Islam, im Christentum – und in vielen anderen Teilen der Gesellschaft. Selten wird von den positiven Effekten der Religionen berichtet, die meiner Ansicht nach unvergleichlich häufiger und einflussreicher sind als Skandale, etc...
Religion, religiöse Praxis ist meiner Ansicht nach der Schlüssel für einen besseren Umgang mit unserer Mitwelt, einfach, weil Unwissenheit, Begierden und Abneigungen genau das Feld sind, das im Kern die Ursache für die meisten der derzeitigen globalen Probleme darstellt. Darum gehört für mich zum Klima- und Artenschutz vor allem die Praxis der Geistesschulung, denn sie setzt genau da an, wo diese Probleme ihren Anfang nehmen.
Geistesschulung ist ein anderes Wort für religiöse Praxis, denn die meisten Religionen enthalten einen Weg der Transformation von Unwissenheit, Begierden und Abneigungen. Dabei geht es mit Unwissenheit eigentlich um die Fragen: Wie funktioniere ich, und wie kann ich mit mir und meinen Bedürfnissen und Abneigungen so leben, dass es für mich und andere (also die Mitwelt) besser läuft.Dafür ist auch das tiefe Empfinden von Angstbefreiung, Geborgenheit, Wunschlosigkeit und ungerichtetem Glück, das sich durch religiöse Praxis einstellen kann, ein wichtiger Baustein.
Mit anderen Worten: Jemand, der Zufriedenheit und Geborgenheit in sich selbst finden kann, braucht viel weniger äußere Quellen der Befriedigung, und dadurch auch weit weniger Energie, diese Quellen zu erzeugen, zu erwerben und gegen andere zu verteidigen. Dieser Wertewandel könnte tatsächlich zukünftig den Unterschied machen, weshalb ich auch Religion für unverzichtbar halte, wenn es um gesellschaftlichen Wandel geht. Das klingt nach: Wenn alle Menschen religiös werden, ist die Welt in Ordnung, und ruft natürlich sofort Widerspruch auf den Plan: Das sieht man ja an ISIS oder den Gesellschaften des Mittelalters inkl. Inquisition und gewaltsamer Missionierung, wie gut das klappt! Nachvollziehbar... Allerdings ist der Reflex, wegen dieser Gegebenheiten Religion grundsätzlich abzulehnen, ebenso verfehlt, weil damit auch die Quelle für Angstbefreiung, Geborgenheit, Wunschlosigkeit und ungerichtetem Glück verloren gehen, die den eigentlichen Kern der religiösen Erfahrung ausmachen. Daher ist vielleicht ein Blick auf Religion notwendig, der ergebnisoffen Nutzen und Gefahren abwägt, und die Quelle für möglichst viele Menschen öffnet, ohne mit Dogmen, Zwang oder Denkverboten alle Vorteile und Entwicklungen zunichtezumachen oder gar nicht erst zu ermöglichen.