Zitat 2.1. Das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18)
Das Gebot in Lev 19,18 wird auf zwei unterschiedliche Arten aus dem Hebräischen übersetzt:
1. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Diese Übersetzung ist die uns geläufige. Sie entspricht der griechischen Fassung von Lev 19,18 in der Septuaginta und in den neutestamentlichen Zitaten des Nächstenliebegebotes in Mt 22,39; Lk 10,27; Röm 13,9; Gal 5,14 und Jak 2,8. Der Vergleich „wie“ bezieht sich (adverbial) auf das Lieben. Die genauere Verhältnisbestimmung kann dabei unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie wir die elliptische Formulierung ergänzen (Schüle, 2001, 519):
1.1.: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie du dich (auch) selbst lieben sollst.“
In diesem Fall haben wir es mit zwei Aufforderungen zu tun: Einer Aufforderung zur Nächstenliebe und einer Aufforderung zur Selbstliebe. Psychologisch gewendet hieße das:
Zitat
„Nächstenliebe setzt voraus, dass sie von Individuen ausgeht, deren Selbstverhältnisse mit genügend Sicherheit, Vertrauen und im Blick auf die eigenen Unzulänglichkeiten mit ausreichender Geduld und Nachsicht ausgestattet sind. Erst dann ist Nächstenliebe möglich, die nicht mit Selbstverlust oder verzehrender Selbstaufopferung zusammenfällt, die also eine genuine und authentische Form der Zuwendung zum Nächsten erlaubt“ (Schüle, 2001, 519).
1.2.: „Du sollst deinen Nächsten lieben, (so) wie du dich selbst liebst.“
Bei dieser Übersetzung gilt die Selbstliebe als anthropologische Konstante, aus der die Aufforderung zur Nächstenliebe abgeleitet wird.
Beide Übersetzungen sehen in der (geforderten oder gegebenen) Selbstliebe des Menschen die Bedingung, unter Umständen auch das Maß der Nächstenliebe (Härle, 2011, 185).
Der hebräische Text in Lev 19,18 wird aber auch noch anders übersetzt:
2. „Liebe deinen Nächsten, [denn] er ist wie du“ (Schüle, 2001, 531; Buber/Rosenzweig, 1954, 326; Buber, 1955, 69).
Der Vergleich bezieht sich hier (attributiv) auf den Nächsten und auf das „Du“. Beide sind gleich. Inwiefern? Das Gebot der Nächstenliebe steht im Kontext anderer Gebote, die Rücksicht gegenüber den Schwachen der (israelitischen) Gesellschaft fordern (z.B. Lev 19,13f.). Das heißt für Lev 19,18:
Zitat
„Der Nächste, der mir gleich ist, ist ein Mensch, der wie ich auf den Schutz lebensfreundlicher Rechts- und Sozialformen angewiesen ist, der wie ich der Nähe und der intimen Wärme vertrauter Menschen bedarf, weil er ohne dies alles nicht leben und weil er dies alles nicht aus sich selbst heraussetzen kann. Es geht demnach um eine sozialanthropologische Einsicht grundlegender Art“ (Schüle, 2001, 529).
Wer ist nach Lev 19,18 der „Nächste“? Der „Nächste“ meint hier zunächst den Mit-Israeliten. Das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) gilt aber auch dem Fremden (Lev 19,34). Der Grund ist ein theologischer:
Zitat
„So ist das Gebot der Fremdenliebe und des Schutzes des Fremden zu erklären mit der Besonderheit des im Alten Testament, insbesondere in der Tora vorherrschenden Gottesbildes im Verhältnis zu den Gottesbildern der Umwelt Israels: JHWH als Gott eines Volkes von versklavten Fremden, die er in die Freiheit führte; darum liebt er nicht nur sein Volk, sondern auch diejenigen, die als Fremde in seinem Volk leben, und gebietet, sie zu lieben und zu schützen“ (Moenikes, 2012, Abschnitt 2.2.3.).
Eine erhebliche Ausweitung ergibt sich, wenn man schöpfungstheologisch argumentiert. Im Anschluss an das Gebot der Nächstenliebe heißt es in unmittelbarer Gottesrede: „Ich bin der Herr“ (Lev 19,18).
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„Das führt, meiner Einschätzung nach, zu einer engen Verbindung von Liebes- und Schöpfungsverständnis, insofern auch die alttestamentlichen Schöpfungsaussagen wesentlich auf der Semantik von ‚Bedürftigkeit‘ und ‚Umgebung‘ aufbauen“ (Schüle, 2001, 533).
Umstritten ist, ob Lev 19,18 auch das Gebot der Feindesliebe einschließt (Moenikes, 2012) oder nicht (Gaß, 2011, 203-204).
Zitat
Der zu liebende Nächste ist einer, den der Adressat des Nächstenliebegebots nicht hassen, sondern den er zurechtweisen (
Lev 19,17), an dem er sich nicht rächen und dem er nicht nachtragen soll (
Lev 19,18a), was impliziert, dass dieser dem Angesprochenen Leid zugefügt hat. Der zu liebende Nächste ist damit der (nahestehende [israelitische], nicht nationale!) Feind, das Nächstenliebegebot ein implizites Feindesliebegebot“ (Moenikes, 2012, Abschnitt 2.2.1.).
Aber: Ist der Feind mir „gleich“ (siehe die 2. Übersetzung von Lev 19,18)? Sofern ich die Gleichheit so verstehe, dass nur ein „Volksgenosse der gleichen Kultgemeinschaft“ gemeint ist (Hofius, 1991, 106), wäre diese Frage zu verneinen. Aus dem generellen „[denn] er ist wie du“ würde ein einschränkendes „wenn er ist wie du“. Die frühjüdische Tradition kennt jedenfalls auch die Aufforderung, „alle Söhne des Lichts zu lieben, […] aber alle Söhne der Finsternis zu hassen“ (1QS 1,9f.). Dahinter steht die Überzeugung, dass Gott für das Gute und gegen das Böse eintritt (Söding, 1995, 618).
Lev 19,18 wirft eine weitere Frage auf: Kann man Liebe gebieten, verordnen? Sofern wir unter Liebe eine intime, gefühlsintensive Beziehung zwischen zwei Menschen verstehen, müssen wir diese Frage verneinen (Mühling, 2012, 125-130). Das Gebot der Nächstenliebe steht im Kern des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26). Liebe hat hier eine stärker formalisierte Struktur. Es geht darum, ein (soziales) Umfeld zu schaffen, das der umfassenden (nicht nur emotionalen) Bedürftigkeit der Menschen gerecht wird. Insofern kann das Alte Testament „Sozialgesetzgebung“ und „Liebe“ zusammen denken.