Beiträge von Thorsten Hallscheidt im Thema „Sind die klassischen Texte insgesamt für jeden Buddhisten verbindlich?“

    Das ist Unsinn. Es gibt die Wirklichkeit außerhalb von uns. Das Subjektive ist lediglich das unvollkommene Abbild dieser Wirklichkeit. Nur die bud. Nur-Geist-Schule bestreitet das. Und die können wir als Irrweg freundlich beiseite legen.

    Nun wird vieles von dem klar, was Du zuvor gesagt hast, und der Thread mündet unmittelbar in die Diskussion darüber, was unter shunyata zu verstehen ist und wie diese Sicht, die sicher nicht nur die Cittamātra-Richtung als verbindlich für die buddhistische Lehre bezeichnet, in Relation zur Behauptung einer "objektiven" Wirklichkeit "außerhalb" von uns steht. Das wäre aber OT.

    Und, um nicht falsch verstanden zu werden. Ich halte das Bemühen um "objektive" Erkenntnis durchaus für sinnvoll und möglich, sofern man sich immer dessen bewusst bleibt, dass sie auf subjektiver Welterfahrung basiert und somit vorläufig ist: Also eine temporäre mehr oder weniger nützliche und sinnvolle Vereinbarung zwischen Subjekten. Nach buddhistischer Terminologie: relative Wahrheit.

    Das alles sind nichtmal irgendwelche neueren Thesen in der Buddhologie, sondern seit Jahrzenten anerkannt, Mainstream quasi. Nur die bud. Community liest die Texte noch wie ein evangelikaler Christ seine Bibel: Als wörtliches Zeugnis des Religionsgründers.

    Die religionswissenschaftliche Perspektive ist ein möglicher Zugang zur buddhistischen Lehre – einer, der die Lehre zum Objekt der Forschung aus der Dritten-Person-Perspektive macht. Es ist eine Außenperspektive, die sich in Polarität zur Innenperspektive zu setzen versucht, da sie für sich Objektivität statt Subjektivität, wissenschaftliche Genauigkeit statt religiöser Überzeugung, Rationalität statt Irrationalität, historische Faktizität statt Überlieferung und Übertragungslinien proklamiert. Zu recht?


    Es ist die Frage, welchen Stellenwert eine solche Sicht bei einer Lehre haben kann, die erklärtermaßen vor allem die Innenperspektive betrifft. Meiner Ansicht nach verhält es sich dabei ähnlich wie bei der Relation von Kunstwissenschaft zu Kunst. Es ist interessant zu lesen, was Kunstwissenschaftler alles herausgefunden haben zu Kunstwerken und Künstlern der verschiedenen Epochen und Kulturen. Für die aktuelle Produktion von Kunst ist es aber nur von geringer Bedeutung und für die Rezeption ebenso – zudem ist die kunstwissenschaftliche Perspektive für das tiefe Begreifen von Kunstwerken oft eher hinderlich. Warum? Weil die Kern-Phänomene, um die es bei der Kunst geht, für die wissenschaftliche Sicht schlicht nicht zugänglich sind.


    Kunstwissenschaftler können, wie ich in häufigen Gesprächen gemerkt habe, das nur schwer ertragen und schreiben sich die Finger wund, um den Kern der Kunst dennoch zu fassen. Oder sie behaupten, er gäbe diesen Kern gar nicht. Dennoch ist das Erleben, was den Schaffensprozess und die unmittelbare, nicht intellektuell behinderte Rezeption ausmacht, mit nichts vergleichbar, was Wissenschaft an Abhandlungen, Betrachtungen und Sichtweisen hervorbringen kann. Man kann ein Buch über die Ökologie des Meeres schreiben oder lesen. Die Erfahrung aber, Wochen oder Monate im und auf dem Meer zuzubringen, wird das nicht einmal im Ansatz erfassen oder vermitteln können. Ähnlich ist es in der Kunst oder in der religiösen Praxis (die gar nicht so unterschiedlich sind).


    Die Religionswissenschaft versucht durch die Außenperspektive Phänomene zu kategorisieren, zu beschreiben und zu bewerten, wozu sie letztlich keinen Zugang finden kann, solange sie Außenperspektive bleibt. Verlässt sie aber die Außenperspektive, gehen die Kernbehauptungen und -kompetenzen der Objektivität und wissenschaftlichen Genauigkeit verloren. Das ist das grundlegende Dilemma, das dazu führt, dass der religionswissenschaftlichen Perspektive letztlich keine wesentliche Relevanz für eine lebendige religiöse Praxis zukommen kann. Vielleicht kann man sie mit dem Kommentator bei einem Fußballspiel vergleichen: Interessant, eloquent, informativ, unterhaltsam, meinungsprägend – aber rennen und Tore schießen tun am Ende andere.... und auf die kommt es letztlich an.


    Damit will ich nicht sagen, dass die religionswissenschaftliche Perspektive nicht auch einiges Interessante und Erhellende beitragen kann. Ich lese solche Texte gerne und mit Gewinn. Aber sie ist eben nur ein Blick von Außen, unbeteiligt, ein Randphänomen innerhalb des Religiösen, innerhalb des Buddhismus, wie auch die Kunstwissenschaft nur am Rande etwas mit Kunst zu tun hat oder der Kommentator mit Fußball.


    Die buddhistische Community ist sehr heterogen. Darum ist das oben zitierte (evangelikaler Christ seine Bibel) natürlich Unsinn. Die religiöse Praxis fußt aber dennoch auf der Innenperspektive, darum haben die Texte für den Praktizierenden natürlicherweise eine andere Bedeutung, Funktion, Relevanz und "Wahrheit" als für die Außenperspektive, die versucht diese Texte mit den Werkzeugen einer vorgeblich objektiven wissenschaftlichen Methodik einzuordnen und zu bewerten. Das ist schon alles, und das ist sehr viel, ein fundamentaler Unterschied.

    Eher abseitige dogmatische Vorstellungen werden mit Hinweis auf die Texte, "Das steht da schließlich schwarz auf weiß", gerechtfertigt.

    Ob eine Vorstellung abseitig ist oder nicht, entscheiden eben auch die Zeit und Erfahrung. Für mich mag jetzt ein Vorstellung abwegig sein. Das kann sich aber ändern, wenn sich eine entsprechende Erfahrung einstellt. Auch löst sich manches Abwegige auf, wenn ich in der Lage bin, einen entsprechenden Kontext herzustellen. Siehe Sudhana Post oben. Die Vorstellungen von Karma und Wiedergeburt erscheinen in einem anderen Licht, wenn ich Anatta als grundsätzlich gegeben akzeptiere.

    Zitat

    Somit, Student, macht der Weg, der zur Kurzlebigkeit führt, die Leute kurzlebig, der Weg, der zur Langlebigkeit führt, macht die Leute langlebig; der Weg, der zur Kränklichkeit führt, macht die Leute kränklich, der Weg, der zu guter Gesundheit führt, macht die Leute gesund; der Weg, der zur Häßlichkeit führt, macht die Leute häßlich, der Weg, der zur Schönheit führt, macht die Leute schön; der Weg, der dazu führt, ohne Einfluß zu sein, macht die Leute einflußlos, der Weg, der dazu führt, einflußreich zu sein, macht die Leute einflußreich; der Weg, der zur Armut führt, macht die Leute arm, der Weg, der zum Reichtum führt, macht die Leute reich; der Weg, der zu niedriger Geburt führt, macht, daß die Leute niedrig geboren werden, der Weg, der zu hoher Geburt führt, macht, daß die Leute hochstehend geboren werden; der Weg, der zur Dummheit führt, macht die Leute dumm, der Weg, der zur Weisheit führt, macht die Leute weise.


    Quelle


    Sofern man annimmt, dass diese Dinge sich innerhalb eines Lebens abspielen, sehe ich nichts, was an diesen Sätzen falsch sein sollte (den Satz mit der Wiedergeburt ausgenommen).


    Sofern man annimmt, dass es ein Geisteskontinuum gibt, das anfangslos ist, wüsste ich nicht, warum sich diese Kausalität irgendwann erschöpfen oder nur auf eine Existenzform beschränkt sein sollte. Wir wissen allerdings nicht, ob das der Fall ist oder nicht. Es ist aber auch nicht so entscheidend. Entscheidend bei diesem Sutra ist sie Botschaft: Nicht das Schicksal, irgendwelche Götter oder Opfergaben ist für eure aktuelle Lebenssituation verantwortlich, sondern (auch) ihr selbst, und zwar durch euer Verhalten in Gedanken, Worten und Taten.

    Ist das allen hier im Forum und in den Sanghen klar?

    Ist Dir klar, dass all diese Konzepte für die Praxis völlig irrelevant sind?

    :grinsen:


    Spätestens seit dem Mahayana ist mit Buddha auch nicht mehr unbedingt der historische Buddha gemeint. Buddha bezeichnet einen erwachten Menschen, einen, der auf der anderen Seite angekommen ist, jemanden, der die Geistesgifte überwunden hat. Aus dieser Perspektive und von solchen Menschen sind die Texte gesammelt und verfasst. Zumindest kann man das annehmen. Da es aber nur Worte sind, gibt es natürlich Diskussionen. Das ist ja auch gut. Dadurch vertieft sich das theoretische Verständnis. Aber erst die Erfahrung kann das Geschriebene verifizieren. Und ich gehe davon aus, dass die Texte als wichtig für den Buddhismus gelten, gerade weil sie von vielen Menschen verifiziert werden konnten. Verifiziert im Sinne von hilfreich für die Praxis. Dabei ist es völlig egal, ob die Aussagen von Siddhartha Gautama, einem Zen-Meister, Nagarjuna, Buddhaghosa oder von den Mainzelmännchen stammen, sofern eines von ihnen erwacht ist.


    Die zentrale Diskussion sollte nicht sein: Hat der historische Buddha das wirklich gesagt? Sondern die Frage muss sein: Ist es hilfreich für Erkenntnis und Praxis.


    Und bei letzterem zeigen es oft erst die Zeit, die Ausdauer und die Intensität der Praxis, ob eine Aussage hilfreich ist oder nicht. Ich jedenfalls habe häufiger Sutren im Laufe der Zeit als immer hilfreicher empfunden, als dass das Gegenteil der Fall gewesen wäre.


    Buddha hat gesagt bedeutet: Aus der Sicht eines erwachten Menschen stellt sich die Realität folgendermaßen dar.

    Viele Texte hören auf, "Schmarrn" zu sein, wenn Lehre und Praxis Früchte zeigen. Daher ist am Anfang sehr viel "Schmarrn" in den klassischen Texten zu finden, aber der wird weniger, da "Schmarrn" einem zunehmenden Verstehen Platz macht. Allerdings macht die voreilige Wertung "Schmarrn" einiges sehr schwer, was mit anfänglichem Vertrauen weit besser funktioniert: Ich verstehe zwar nicht genau, was gemeint ist, aber ich lasse es erst einmal stehen. Vielleicht erschließt sich mir die Bedeutung später.


    Die Leute damals waren im Zweifelsfalle nicht dümmer als wir heute, wenn es um buddhistische Lehre und Praxis aus der Binnenperspektive heraus geht. Eher muss man vom krassen Gegenteil ausgehen. Sie wussten wahrscheinlich sehr genau, was, wie und warum sie etwas taten und vertraten. Und da es auch nach Buddha noch viele Erwachte gegeben hat, sind Bedeutung und Inhalt, wie sie im Palikanon dargestellt wird, eher der Lehre des historischen Buddha entsprechend, als dass sie es nicht sind, weil sie zumeist aus der Perspektive des Erwachens heraus zusammengestellt, aufgeschrieben und übersetzt wurden.


    Die Frage, die ich mir immer stelle, ist die, warum Menschen bestimmte Texte als so wichtig erachteten, dass sie über Jahrhunderte tradiert wurden. Vielleicht geht es oft gar nicht darum, ob etwas widerspruchsfrei sich in das andere fügt oder ob es faktisch wahr ist. Vielleicht geht es manchmal auch darum, dass ein spezielle Aspekt in einem Text, einem Bild oder einer Metapher besonders gut zum Ausdruck kommt.