Leerheit bedeutet, dass etwas nicht aus sich selbst heraus existieren kann: Also leer von inhärenter Eigenexistenz. Nicht leer im Sinne von Nicht-Existenz. Leerheit ist Leerheit von bestimmten Charakteristika, die wir unwillkürlich (qua Gewohnheit, Sozialisation, Karma, physische Disposition, Kultur) einem Phänomen zuschreiben. Dabei ist das, was alles dazukommt, damit etwas zu einem Ding (Gegenstand, der uns gegenüber steht) für uns wird, sehr weitreichend. Eine Tasse z.B. benötigt nicht nur all die Materialien, aus denen sie besteht, die Menschen, die sie herstellen, transportieren, das Licht, das ihr eine Farbe gibt, unsere Sinnesorgane und mentalen Verarbeitungsprozesse, um wahrgenommen zu werden, etc., sondern auch unsere kulturellen Vereinbarungen, Vorstellungen, Erinnerungen, dass es sich eben um eine Tasse handelt und nicht um einen Toaster. Im Milindapañha gibt es jenen berühmten Dialog zwischen dem buddhistischen Mönch Nagasena und dem König Menandros über die Bestehensweise der Person (Ich) anhand eines Streitwagens, mit dem der König zum Treffen gekommen ist.
Besonders bezüglich des Ich, von dem zur Zeit Buddhas angenommen wurde, es gäbe einen festen unwandelbaren Wesenskern (Atman), ist diese Sichtweise (Anatta) revolutionär. Wenn ich nach diesem festen Kern suche, werde ich nicht fündig. Da sind immer nur veränderliche Bestandteile, die in wechselseitiger Abhängigkeit die Illusion eines konstanten Ichs (das bin ich) hervorbringen, die aber nicht mehr ist, als ein Sack voller Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen, Gewohnheiten und Vorstellungen (Skandhas).
Daher unterscheidet der Buddhismus zwei Wahrheiten, die aber weitgehend gleichwertig sind. Die Ebene der relativen Wahrheit (kulturelle Vereinbarungen, Begriffe, Definitionen, etc. ) und der letztlichen Wahrheit, die darin besteht, dass keine dieser relativen Wahrheiten von sich aus existieren und absolut gesehen als wahr angesehen werden können, sondern nur in Bezug und in Abhängigkeit von- und zueinander.
Eine Kerzenflamme geht von Kerze zu Kerze weiter. Eine Kerze ist abgebrannt und ich entzünde die nächste Kerze an der Flamme der alten. Ist es die gleiche Flamme oder eine andere, die jetzt brennt? Über Jahrzehnte, täglich, sekündlich (vielleicht von Leben zu Leben) entzündet sich ein "Ich" an neuen Gefühlen, Wahrnehmungen, Dingen und Themen (Identifikation). Ist es das gleiche Ich oder jedes Mal ein anderes, durch die Dinge, Wahrnehmungen, Gefühle, Umstände, etc gewandeltes und hervorgebrachtes neues Ich?