Beiträge von Thorsten Hallscheidt im Thema „Abwehrhaltungen gegen Lehrerkritik“

    Aber das geschieht doch bestenfalls nicht als Reaktion auf Vorwürfe sondern im beständigen Austausch.

    Ja, genau, darum sind auch Brückenbauer, die sich aufrichtig für die jeweils andere Seite, andere Kultur interessieren und fähig sind, Inhalte zu verstehen, zu übersetzen und zu transportieren von so unschätzbarem Wert.


    Nishitani Keiji, Hajime Nakamura, Paul Tillich, Enomiya-Lassalle, Thich Nhath Hanh waren und sind zum Teil für mich solche Figuren.

    Aber man muss natürlich auch die Frage stellen: Ist unser derzeitiger Wertekompass hinsichtlich des Dharma immer nützlich und hilfreich? Sind Wertvorstellungen oder Praktiken anderer Kulturen, die unseren Wertvorstellungen entgegenlaufen, möglicherweise hilfreicher? Und wenn ja, für wen, unter welchen Bedingungen? Prüfen, prüfen, prüfen.

    Aber wenn es buddhistische Linien gibt, die diese Integrität nicht sicher stellen können oder wollen, dann haben sie in unserem Kulturkreis eben nichts zu suchen.

    Ja, klar. Aber auch in unserer Kultur gab es auch Werteverschiebungen. In den 70er Jahren z.B. war es weit weniger anrüchig, unmittelbare sexuelle Avancen zu starten. Im Rahmen der sexuellen Befreiung galt es zum Teil sogar als verklemmt und rückständig, darauf mit Empörung zu reagieren. Heute würde man solche Übergriffe natürlich anders bewerten, weil sich auch das Bewusstsein verändert hat. Was also vor 50 Jahren in buddhistischen Gruppen noch relativ normal war, kann heute im Rückblick zum Skandal werden, zumindest wenn wir heutige Maßstäbe an die Handlungen vergangener Zeiten anlegen.

    Zudem kommen viele "authentische" buddhistische Lehrer aus wirklich sehr anderen Kulturen. Und wenn man ihr (Fehl-)Verhalten in unserer Kultur nicht kritisiert und somit nicht korrigiert, setzt sich dieses Fehlverhalten fest oder wird gar nicht erst erkannt. Die Gurus haben somit schlechte Chancen, sich an hiesige Gepflogenheiten anzupassen, bzw. sie müssten ihre eigene Unfehlbarkeit infrage stellen lassen und sich für die Kultur, in der sie lehren, interessieren. Aber wer wagt unter Buddhisten schon seinen Guru (Meister, Lehrer) zu kritisieren, und welcher Guru mag schon von seinem Thron der Allwissenheit steigen? ;)


    Ich war zum Teil erschüttert, wie wenig z.B. manche tibetische Lehrer, die hier unterrichten, über unsere Kultur wissen. Es gab Diskussionen, bei denen schnell klar wurde, dass sie sich weder für die hiesige Geschichte, Mentalität, Philosophie noch für Kultur oder sittliche Regeln interessierten.


    Die tibetischen Häuser, die ich kennenlernen durfte, versuchen ja auch möglichst viel von der tibetischen Kultur zu kopieren, sodass für die Lehrenden auch kaum ein Anpassungsdruck bestand und besteht. Im Zen, sofern ein japanischer Meister anwesend ist, oder ein europäischer, der die japanische Kultur für das Non Plus Ultra hält, ist es ja ähnlich. Man versucht Sitten, Ästhetik und Gepflogenheiten des Herkunftslandes zu kopieren. Das gilt dann als "unverfälschte Lehre". Im Theravada das Gleiche.


    Ich fand dieses unreflektierte Kopieren anderer Kultursysteme immer schon sinnlos und gefährlich, weil damit auch Missverständnisse und Konflikte importiert werden, die aus unterschiedlichen Werte- und Bildsystemen resultieren. Sexueller Missbrauch ist da nur ein Konfliktfeld unter vielen.


    Eigentlich müssten sich die buddhistischen Lehrer, die aus anderen Kulturen zu uns kommen, zunächst vielleicht im Rahmen einer Weiterbildung oder eines Studiums über die Kultur informieren, in der sie zukünftig lehren sollen. Das findet aber offenbar nicht statt. Das Ergebnis ist, dass diese Leute zwar ihre buddhistische Lehre innerhalb ihres kulturellen Kontextes vermitteln können, aber kaum in der Lage sind, diese Lehre in die neue Kultur und die anderen kulturellen Vorstellungen zu integrieren. Zudem können Sie auch oft nicht unsere Sprache, so dass man auf Dolmetscher angewiesen ist, und sie wissen auch nicht, mit welchen Bildungsgrad oder mit welchen sozialen oder psychologischen Hintergründen sie es bei ihren Schülern zu tun haben. Das fand ich ziemlich frustrierend.


    Es gibt dann natürlich auch Ausnahmen, zum Beispiel tibetische Lehrende, die an westlichen Universitäten studiert haben, eine westliche Sprache beherrschen, und sich intensiv mit der für sie neuen Kultur beschäftigt haben. Aus diesen Kontexten kommen dann auch ganz andere Inhalte.

    Christopher, Hendrik

    Denkt ihr, es gibt irgendeinen gesellschaftlichen Bereich, in dem Missbrauch nicht potenziell möglich wäre? Warum sollte der Buddhismus hier eine Ausnahme darstellen? Mich wundert nicht, dass es innerhalb von Strukturen, die ein Machtgefälle darstellen, immer wieder zu Missbrauch kommt. Ich kenne die Statistiken nicht, aber ich denke, dass es im Vergleich zu anderen Institutionen oder gesellschaftlichen Bereichen im Buddhismus möglicherweise seltener passiert – allein schon wegen der ethischen Ausrichtung (Ahimsa). Aber vielleicht ist das auch nur ein frommer Wunsch. Ich glaube jedenfalls nicht, dass ausgerechnet im Buddhismus der Grad der Vertuschung höher wäre, als anderswo.


    Was mich manchmal etwas frustriert, ist folgendes: wenn ein religiöses Oberhaupt, ein Lehrer, oder auch nur ein Praktizierender in irgendeiner Art und Weise kriminell wird, wird das oft mit einer medialen Generalkritik an der Institution beantwortet, auf die oft Austritte folgen (zum Beispiel in der katholischen Kirche). Im Gegenteil dazu führen aber Handlungen, die weit über das normale Maß positiv in der Gesellschaft wirken, nicht dazu, dass besonders medienwirksam und ähnlich umfangreich darüber berichtet oder auch eine ähnliche Zahl an Menschen in eine Kirche oder Religionsgemeinschaft eintreten würden. Skandale sind weit wirkmächtiger als positive Nachrichten, was auch ein Grund sein mag, dass religiöse Institutionen es eher vermeiden, dass diese Skandale in der Öffentlichkeit ventiliert werden. Der Schaden durch negativen Nachrichten ist einfach ungleich größer, als der Nutzen bei positiven Nachrichten.


    Gute Nachrichten sind einfach entsetzlich langweilig. :roll:

    void

    ich möchte hier einen Kommentar aus dem von mir verlinkten Zeit Artikel anbringen, den ich beachtenswert finde:

    Zitat

    "Der Anteil der Falschbeschuldigungen bewegt sich im einstelligen Prozentbereich (3%)"

    Die zugrundeliegende Studie bezieht sich auf 100 untersuchte Fälle in einem einzigen Amtsgericht und ist wissenschaftlich wertlos. Die Wahrheit ist, dass wir die Rate der Falschbeschuldigungen nicht kennen, da die absolute Mehrzahl der Verfahren entweder nicht vor Gericht landet oder dort aus Mangel an Beweisen keine eindeutige Entscheidung stattfindet. Die 3% beziehen sich auf Fälle, in denen am Ende eine tatsächliche Verurteilung wegen Falschbeschuldigung erfolgte.

    Gleichzeitig heißt es:

    "Nur ein Prozent aller Vergewaltigungen wird tatsächlich verurteilt."

    Hier wird die Argumentation zur Rate der Falschbeschuldigung plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Es wird einfach vorausgesetzt, dass JEDE Anzeige, unabhängig davon, ob sie vor Gericht verhandelt wurde und mit welchem Ergebnis, eine Vergewaltigung war, während als Falschbeschuldigungen nur die tatsächlichen Verurteilungen zählen. Und begründet wird das dann mit der niedrigen Falschbeschuldigungsrate, also einem perfekten Zirkelschluss.


    Sexualisierte Gewalt: Zum Schweigen gebracht
    Wirft eine Frau einem Mann öffentlich sexualisierte Gewalt vor, wird schnell auf die Unschuldsvermutung gepocht. Die ist wichtig. Doch sie macht Betroffene…
    www.zeit.de

    Dazu zählt für mich auch das reflexartige Pochen auf die "Unschuldsvermutung"

    Was heißt hier schon reflexartig. Das ist nun mal die Grundlage. Und auch Frauen sind nicht per se davon ausgenommen, Dinge falsch zu bewerten oder zu lügen, oder siehst Du das anders?

    Dass wir noch immer in einer patriarchalen Arschlochgesellschaft leben, in der Männer dominieren und Frauen sehr oft strukturell benachteiligt, misshandelt und getötet werden, ist für mich wahrscheinlich ebenso unerträglich wie für Dich.

    Natürlich kann man auch da Fehler machen und falsche Aussagen können Existenzen vernichten.

    Falsche Aussagen, aber auch Missverständnisse und subjektiv unterschiedliche Interpretationen einer Situation, und nicht zuletzt auch das eskalierende Weiterverbreiten von Skandalnachrichten, die den oben genannten moralischen Furor auslösen. Bei dieser Empörungsdynamik wird aus dem Verdacht schnell eine Gewissheit, aus der Belästigung ein Missbrauch, aus dem Missbrauch die Vergewaltigung und insgesamt daraus schnell ein generelles Strukturproblem der jeweiligen Institution, ja die Institution selbst zum generellen Problem.

    Während man da einen Gericht so eine starke Beweislast und Unschuldvermutung zugestehen mag, ist es nicht gut, den 99 Frauen die da vergewaltigt wurden ohne eine Verurteilung vorweisen zu können, zu verbieten den Täter zu benennen und da innerhalb einer Institution einen eigenen nicht-gerichtlichen Prozess der Wahrheitsfindung in Gang zu bringen. Natürlich kann man auch da Fehler machen und falsche Aussagen können Existenzen vernichten.

    Ja, das sehe ich genau so. Mir ging es hier darum, ob grundsätzliches Wohlwollen, eine genaue Prüfung und auch Versuche, Erklärungen für ein Verhalten zu finden, schon als Abwehrhaltung bezeichnet werden sollten, oder ob sie nicht vielmehr im Sinne einer auch außergerichtlichen Unschuldsvermutung gerade aus buddhistischer Perspektive geboten sind. Mir ist die Empörungsdynamik in solchen Fällen unheimlich.

    Unschuldsvermutung ist keine Abwehrhaltung, sondern eine Grundlage unseres Rechtsverständnisses, auch wenn sie leider zu oft dazu führt, dass viele Sexualstraftäter ungeschoren davon kommen, da sich ihre Taten selten zweifelsfrei beweisen lassen. Sollte sie deshalb bei Sexualstraftaten nicht mehr gelten? (keine rhetorische Frage)


    Es ist auch keine Abwehrhaltung, wenn man moralische und sittliche Auffassungen anderer Kulturen oder Zeiten zur Kenntnis nimmt, und diesen Kontext mit in Betracht zieht, wenn es um eine moralische (nicht strafrechtliche) Verurteilung oder Nicht-Verurteilung von Verhaltensweisen oder Taten geht. Beispiel: Päderastie im antiken Griechenland. Nach unserer derzeitigen Rechtssprechung würden die griechischen Männer, die sexuelle Beziehungen zu Knaben hatten, im Gefängnis landen. Haben sie aber aus ihrem damaligen Moral- und Rechtsverständnis heraus falsch gehandelt? Kann man sie heute moralisch verurteilen?


    Rechtsauffassungen und moralischen Empfinden sind einem ständigen Wandel unterworfen. Und nicht zuletzt ist es eine Frage der herrschenden Macht, wie und was bewertet wird. (Dazu als Lektüre: Sexualität und Wahrheit von Michel Foucault)


    Es ist nicht hilfreich, wenn Argumente für einen Lehrer, der sexueller Übergriffe verdächtigt wurde, als Abwehrhaltung bezeichnet werden. Sollten diese Menschen trotz des Verdachtes keinen prüfenden, wohlwollenden, neutralen Blick verdienen?


    Sobald, und das ist auch Teil der Wahrheit, nur der Verdacht aufkommt, jemand könnte sexuellen Missbrauch begangen haben, sind Ruf und berufliche Existenz meist stark beschädigt, und zwar unabhängig davon, ob sich ein Verdacht bewahrheitet oder nicht. Es bleibt immer etwas hängen. Das ist fatal. Und wenn jeder, der versucht, einen solchen Verdacht aus dem Weg zu räumen oder zumindest genau zu prüfen, quasi mit-verdächtig oder als blind, devot, dumm bezeichnet wird, so hat das mit einem wohlwollenden, gerechten oder zumindest neutralen Blick auf ein Geschehnis nichts mehr zu tun, sondern eher mit moralischem Furor.