Solange ich einen Schutz vor der Wirklichkeit suche, gehe ich in die falsche Richtung.
Ja, da kann ich dir prinzipiell zustimmen, wobei es m.E. nachvollziehbar, berechtigt und geradezu geboten ist, sich temporär vor der Wirklichkeit zu schützen, wenn die direkte Konfrontation einen aktuell komplett überfordern würde...
Früher oder später holt die Wirklichkeit sowieso jeden ein, im Übrigen kann das Ziel auch (noch) erreicht werden, wenn man sich zuvor mal verlaufen, bzw. Umwege genommen hat...
(Eine Richtungskorrektur ergibt sich oft von alleine, sobald es dem Menschen besser geht und er bereits ernsthaft beschlossen hatte, die Wahrheit zu suchen, sich der Wirklichkeit zu stellen.)
Es ist dann eher ein Handel: Wenn ich A,B,C befolge, wird es mit besser gehen. Damit es mir gut geht, muss ich A,B,C befolgen. Und wenn Meister X,Y oder Z sagt, dass ich A,B,C nur machen muss, damit es mit besser geht, dann mache ich das. Hauptsache es geht mir besser als jetzt.
Na ja, wenn es mir schlecht geht und ich mir selbst (vorerst) nicht anders helfen kann, suche ich Rat bei anderen Menschen, die ich für kompetent halte ("Verständige") und probiere deren Vorschläge/Anregungen auch aus, wenn sie mir Erfolg versprechend erscheinen - als "Erste Hilfe"-Maßnahme sozusagen.
Danach wird man weitersehen und prüfen, ob die Methode (der von Anderen gewiesene Weg) auch langfristig helfen würde, tiefersitzende Probleme zu lösen, z.B. das Leiden an den Daseinsmerkmalen...
So schwarz wie Mark Twain sehe ich es jedenfalls nicht:
ZitatNoch niemals sah ich einen Menschen, der wirklich die Wahrheit sucht. Jeder, der sich auf den Weg gemacht hatte, fand früher oder später, was ihm Wohlbefinden gewährte. Und dann dann gab er die weitere Suche auf.
Mark Twain (1835 - 1910), eigentlich Samuel Langhorne Clemens, US-amerikanischer Erzähler und Satiriker
Man kann es auch so betrachten (typisch "Weltling" ):
ZitatAlles anzeigenIch kann die Wirklichkeit, die uns umgibt, nicht ändern. Nicht den Klimawandel, keine Pandemie, nicht die Dummheit der Menschen und ihre grassierende Empörungskultur, welche noch schlimmer um sich greift, als die Seuche.
Was ich aber beeinflussen kann, ist meine Lebenswirklichkeit und auch mich selbst kann ich ändern.
......
Der Wirklichkeit wenigstens ab und zu einmal zu entkommen, ist für uns Menschen so wichtig wie die Luft zum Atmen. Die kleinen und großen Fluchten sind es, die uns Menschen die Kraft geben, weiter zu machen. Alle fliehen vor ihr auf die eine oder andere Weise, weil es anders gar nicht geht.
Interessant, dass, u.a. von dem Philosophen Epikur, aber auch von Buddha Shakyamuni, eine Art "Rangfolge" aufgestellt wird, bezüglich der erkannten Wahrheit(en):
ZitatEinige, sagt Epikur, haben sich zur Wahrheit durchgefunden ohne irgend jemandes Beistand. Sie haben sich selbst den Weg gebahnt. Diese lobt er am meisten, sie, die ganz dem eigenen Antrieb folgten, die ihre Vervollkommnung ganz sich selbst verdankten.
Andere, sagt er, bedürfen fremder Hilfe, außerstande vorwärts zu kommen, wenn ihnen nicht einer vorangeht, aber als Gefolgsleute sich wohlbewährend. [...] Auch diese Art Geister erklärt er für vortrefflich, wenn auch nur zweiten Ranges.
Was uns anlangt, so gehören wir nicht in die erste Reihe; wir können zufrieden sein, wenn wir für die zweite als genügend befunden werden. Verachte den Menschen nicht, der nur durch fremde Hilfe gerettet werden kann; es will schon etwas heißen, gerettet werden zu wollen.
Außer diesen findet sich noch eine andere Art von Menschen, und selbst diese verdienen es nicht, daß man sie verachte. Es sind dies diejenigen, die man zum Rechten nötigen und drängen kann, die nicht nur eines Führers bedürfen, sondern eines Gehilfen und so zu sagen eines Zwangsvollstreckers. Das ist die dritte Klasse.
Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v. Chr. - 65 n. Chr.), genannt Seneca der Jüngere; römischer Philosoph, Stoiker, Schriftsteller, Naturforscher und Politiker; Selbsttötung auf Geheiß seines ehem. Schülers Nero (Römischer Kaiser von 54 - 68)
Quelle: Seneca, Briefe an Lucilius (Epistulae morales ad Lucilium), 62 n. Chr. 52. Brief. Übersetzt von Otto Apelt (1924)
Klingt nicht ganz zeitgemäß....
Die "dritte Klasse", das sind dann wohl jene Menschen, die - aufgrund ihrer Bedürftigkeit - leicht auf "Rattenfänger" und dubiose Sekten hereinfallen und sich schlimmstenfalls von diesen unterwerfen und missbrauchen lassen....
Zum Schluss noch ein (versprochen! ) letztes Zitat:
ZitatWahrheit
Du suchst das Glück? Die Wahrheit – spricht der Meister – Die Wahrheit ist des Menschen höchstes Glück! –
Der Jüngling hört es, und die Welt umkreist er, Wirft seinen Forscherblick In alle Bücher hochgeborner Geister, – Und kehrt erschöpft, enttäuscht, ein früh Ergreister, In seines Lehrers stilles Haus zurück. Und sieht ihn bitter an und spricht: Was führst du mich den Weg so hoffnungslosen Strebens, Die Wahrheit zu finden, hoffen wir vergebens: Auf dieser Erde, weiß ich, weilt sie nicht! –
Der Meister lächelnd: Trauriges Geschick! Doch sprich, wer bin ich, daß du mir drum grolltest? Hieß ich dich wollen, was du wolltest? Die Wahrheit suchen, ist des Menschen Glück; Wer lehrte dich, daß du sie finden solltest?
Adolf von Wilbrandt (1837 - 1911), dt. Schriftsteller und Direktor des Burgtheaters in Wien
Quelle: Wilbrandt, A., Gedichte, 1874
Im Theravada-Buddhismus ist von der "edlen Suche" die Rede, gemeint ist das Streben nach dem Verständnis und der Verwirklichung von Nibbana/Nirvana, der "absoluten" Wahrheit...
Dieses gilt als tugendhaft und das spirituelle Wachstum fördernd ("unedel" wäre somit das Streben nach sinnlichen Freuden...).
Liebe Grüße, Anna