Tibet-News Februar 2012
Kein Grund zum Feiern
Serthar in der Tibetisch Autonomen Präfektur Kardze war einer der Schauplätze des harten Vorgehens von Polizei und Militär gegen tibetische Protestierer. Foto: ICT.
Als am 22. Februar das Jahr des Wasserdrachens begann, stand nur wenigen Tibetern der Sinn nach einer ausgelassenen Begrüßung des neuen Jahrs. Zuviel war passiert in den zurückliegenden Wochen und Monaten, um Losar gewohnt festlich begehen zu können. Angst war vielmehr das beherrschende Gefühl in Lhasa und anderswo in Tibet. Schon Tage vor dem Beginn des tibetischen Neujahrsfests hatte ein massives Truppenaufgebot das Bild im historischen Zentrum der tibetischen Hauptstadt geprägt. Zudem hatten staatliche Funktionäre damit begonnen, den tibetischen Bewohnern der Altstadt von Lhasa „Besuche“ abstatten. Berichten zufolge wurden dabei gezielt Familien ins Visier genommen, deren Angehörige als Pilger ins indische Bodhgaya gereist waren, um dort an der Kalachakra-Zeremonie unter Vorsitz des Dalai Lama teilzunehmen. (Mehr dazu entnehmen Sie bitte hier einem weiteren Artikel in diesem Newsletter.) Offenbar kursierten Befürchtungen, die Behörden planten, tibetische Wohnungen nach Fotografien des Dalai Lama und ähnlichen Gegenständen zu durchsuchen. Die Menschen hätten deshalb damit begonnen alle Gegenstände, die für „verdächtig“ gehalten werden könnten, zu verbrennen oder wegzuwerfen. Für die meisten Beobachter wenig überraschend: Wie viele andere Regionen Tibets blieb auch Lhasa zu Beginn des tibetischen Neujahrsfests für ausländische Besucher geschlossen.
Auch die tibetische Führung im Exil hatte dazu aufgerufen, das Jahr des Wasserdrachens nicht festlich zu begrüßen. In seiner Losar-Botschaft forderte Kalon Tripa Lobsang Sangay, seine Landsleute auf, stattdessen „die Klöster zu besuchen, Opfergaben zu überreichen und Butterlampen für all diejenigen Tibeter innerhalb Tibets anzuzünden, die sich aufgeopfert und unter der Repressionspolitik der chinesischen Regierung gelitten“ hätten.
In einem Videobeitrag, den Sie hier auf dem neu eingerichteten ICT-Videoblog anschauen können, fasst ICT-Geschäftsführer Kai Müller die aktuelle Lage in Tibet zusammen. Aufgenommen wurde das Video am 17. Februar 2012 in Dharamsala (Indien). Aktuelle englischsprachige Berichte der ICT finden Sie regelmäßig hier auf unserer Webseite.
Unmittelbar vor dem Beginn des neuen Jahrs waren die Spannungen vor allem im Osten und Norden Tibets erneut eskaliert. Allein im Monat Februar fanden sechs Selbstverbrennungen statt, vier in den autonomen tibetischen Gebieten in der Provinz Sichuan und zwei in den autonomen tibetischen Gebieten in der Provinz Qinghai. Erneut waren Polizei und Militär mit aller Härte gegen protestierende Tibeter vorgegangen. Eine Bildergalerie mit seltenen Belegen für die Gewalt der chinesischen Polizeigewalt finden Sie hier. Entstanden sind die Aufnahmen am 24. Januar 2012 in Serthar (chin.: Seda) in der Tibetisch Autonomen Präfektur Kardze, die verwaltungstechnisch Teil der Provinz Sichuan ist. An diesem Tag hatte die Polizei das Feuer auf unbewaffnete tibetische Protestierer eröffnet und dabei einen Mann erschossen. Sein Name wurde mit Dawa Dragpa angegeben.
Undercover in Tibet
Das in Ngaba gelegene Kloster Kirti. Von hier soll kein ausländischer Journalist berichten. Mehr als die Hälfte aller Selbstverbrennungen von Tibetern in den vergangenen zwölf Monaten fanden hier statt. Foto: ICT
Er befinde sich in einer seltsamen Lage, sagt der Mann, der quer auf der Rücksitzbank eines Autos liegend in eine Kamera spricht. Sein Hinterkopf erreicht kaum das Seitenfenster, ein Teil seines Körpers ist von einem Nylonschlafsack bedeckt, vermutlich war er völlig darunter verborgen, als der Wagen auf seiner zehnstündigen Fahrt mehrere Kontrollposten der chinesischen Sicherheitsbehörden passierte. Das Auto fährt durch Ngaba, „die Stadt, die die chinesische Regierung vor der Welt verborgen halten will“, Heimat des Klosters Kirti und damit Schauplatz von mehr als der Hälfte aller aktuell bestätigten 23 Selbstverbrennungen von Tibetern seit Februar 2009. Es ist ein bemerkenswerter kleiner Film von weniger als zwei Minuten Länge, der hier auf der Webseite des Londoner Guardian angeschaut werden kann.
Der Mann auf dem Video heißt Jonathan Watts und ist britischer Journalist. Für seine Zeitung berichtet Watts schon seit vielen Jahren aus China. Doch ein derart massives Aufgebot an Sicherheitskräften hat auch der erfahrene Korrespondent noch nicht erlebt. Er habe sich unbedingt ein eigenes Bild von der Lage vor Ort, "im Herzen des tibetischen Protests“, machen wollen, sagt Watts, der sich der damit verbundenen Risiken durchaus bewusst ist. Denn eigentlich ist es Journalisten verboten, nach Ngaba zu fahren, ein Team des amerikanischen Fernsehsenders CNN wurde unlängst schon weit vor Erreichen seines Ziels von der chinesischen Polizei festgehalten und zurückgeschickt.
In dem Video zu sehen sind Straßenszenen aus Ngaba. Alle dreißig bis vierzig Meter stehen Dutzende chinesische Militärangehörige oder Polizisten. Unterstützt werden sie von Angehörigen einer Art Freiwilligentruppe, Zivilisten mit roten Armbinden. Die Bereitschaftspolizei ist in voller Kampfmontur aufmarschiert, der Guardian-Korrespondent beobachtet sogar einige mit Nägeln gespickte Knüppel, das Bild mutet ihn „fast mittelalterlich“ an. Feuerwehrautos stehen in den Straßen, einige Polizisten tragen Feuerlöscher. Für die nähere Zukunft ist er pessimistisch. Eine Verbesserung der Lage könne er sich nicht vorstellen, solange es nicht „eine Art von politischer Initiative“ gebe, sagt Watts am Ende des Videos.
Hunderte verhaftet
Tausende Pilger aus Tibet waren ins indische Bodhgaya gereist, wo der Dalai Lama den Vorsitz über das Kalachakra-Ritual innehatte. Auf dem Bild leitet er eine Gebetszeremonie. Foto: Phayul.com.
Vom 31. Dezember bis zum 10. Januar fand unter dem Vorsitz des Dalai Lama im indischen Bundesstaat Bihar das Kalachakra statt, eine buddhistische Zeremonie, zu der Menschen aus allen Teilen der Welt angereist waren, unter ihnen auch geschätzte 7.000 – 8.000 Pilger aus Tibet. Für viele von ihnen dürfte die Reise nach Bodhgaya ein Höhepunkt ihres Lebens gewesen sein, durften sie doch an dem Ort, an dem der Überlieferung zufolge Buddha seine Erleuchtung erlebt hatte, den Dalai Lama erleben. Doch schon in Bodhgaya machten Gerüchte die Runde, unter den Pilgern befänden sich zahlreiche Informanten der chinesischen Regierung. Und als von Ende Januar an die Tibeter wieder in ihre Heimat zurückzukehren begannen, häuften sich Berichte von Festnahmen. Die exakte Zahl der Inhaftierten ist nicht bekannt, sie dürfte jedoch in die Hunderte gehen, manche Quellen gehen von mehr als 500 aus. Und immer sind noch nicht alle Pilger aus Indien zurückgekehrt
Die tibetischen Pilger werden in verschiedenen Haftzentren festgehalten, eines davon befindet sich in einer Schule, ein anderes in einem Armeelager. Einige der Haftzentren befinden sich in der Nähe des Flughafens, dort dürften vor allem diejenigen inhaftiert sein, die mit dem Flugzeug aus Indien zurückgekehrt sind. Offenbar sind viele Familien in den Haftzentren voneinander getrennt worden, unter den Festgehaltenen befinden sich auch viele ältere Menschen. Viele der Inhaftierten müssen für ihren erzwungenen Aufenthalt in den Haftzentren pro Tag mehrere Hundert Yuan bezahlen und werden zudem der so genannten „rechtlichen Erziehung“ unterzogen. Ein Tibeter aus Lhasa, der jetzt im Exil lebt, sagte, die Inhaftierungen bedeuteten „unerträglichen psychologischen und finanziellen Druck“ für die tibetischen Familien und die Gemeinden.
Einige Tibeter sind auf ihrem Rückweg „verschwunden“. Eine Quelle aus Osttibet berichtete der ICT von einer Verwandten, von der es wochenlang kein Lebenszeichen mehr gegeben hatte, nachdem sie von Nepal kommend die Grenze nach Tibet überschritten hatte. Erst nach einem Monat wurde bekannt, dass sie in der Nähe von Lhasa inhaftiert ist. An den Grenzen zur Autonomen Region Tibet (TAR) wird das Gepäck der Rückkehrer aus Indien streng durchsucht. Religiöse Objekte wie Gebetsketten und Bilder des Dalai Lama werden von den Behörden rigoros konfisziert. Offenbar sind auch chinesische Buddhisten davon nicht ausgenommen. Weitere Einzelheiten können Sie hier einem englischsprachigen ICT-Bericht entnehmen.
Quelle: http://savetibet.de/mediathek/…012/texte-02-20120/#c6395