Ich möchte ein paar Überlegungen zu einem Spezialthema anstellen. Es ist ein Thema, das für viele nicht so interessant ist, fürchte ich. Um die Frage zu untersuchen, welchen Einfluss der DL auf die Ethik nimmt, möchte ich zunächst die Richtungen philosophischer Ethik skizzieren. Dies soll zeigen, in welcher Situation ich diese Ethik in heutiger Zeit sehe und welche Relevanz darum der Ethik des DL zukommt.
Die deutsche akademische Ethik stand lange unter dem Einfluss Kants und seiner Idee einer reinen Vernunft, welche im Sinne der Aufklärung menschliches Tun bestimmen soll. Dem gegenüber fand sich der englische Utilitarismus. Der englische Utilitarismus setzt ebenso auf die Vernunft, doch ist sein Grundsatz etwas anders als derjenige der Kant Richtung. Was der richtige Grundsatz für vernünftiges Handeln sei, war also lange Zeit ein wichtiges Streitthema philosophischer Ethik.
Nach meiner Ansicht verfolgen auch modernere Ethiker wie Habermas oder John Rawls diesen Glauben an eine moralische Vernunft und verteidigen ihn gegenüber postmoderner Skepsis an der menschlichen Vernunft, indem sie von der individuellen Vernunft auf die Gruppenvernunft ausweichen. Dennoch ist die postmoderne Kritik an der Idee einer moralischen Vernunft maßgeblich und wirkt sehr überzeugend.
Daher geriet diese hauptsächliche Auseinandersetzung in den letzten 20 Jahren zunehmend ins Hintertreffen zugunsten von zwei ehemals weniger bedeutenden Richtungen der Ethik, deren Haltung gegenüber der Vernunft wesentlich distanzierter ist.
Dominant wurde einerseits die Metaethik, die den Anspruch stellt, besonders wissenschaftlich zu sein. Sie hat ihren Ursprung in Positivismus und Wiener Kreis. Der Anspruch der Metaethik ist es, aus einem übergeordneten Blickwinkel philosophische Theorien zu beurteilen. Metaethiker treffen also keine Aussagen darüber, wie Menschen leben und entscheiden sollen, sondern systematisieren vorhandene Philosophien (etwa Kant und Utilitarismus) unter dem wissenschaftlichen Anspruch, dies wertfrei zu tun.
In gewisser Hinsicht verabschiedet sich die Metaethik also davon, Ethik sein zu wollen. Die kritische Haltung der Metaethik gegenüber der Vernunft der Aufklärung liegt ein bisschen im Verborgenen. Sie besteht in der Überzeugung, dass es gar nicht möglich sei, wissenschaftlich über menschliches Verhalten zu befinden.
Der zweite Strang kommt von Aristoteles und wird als Tugendethik bezeichnet. Diese Richtung fand über Thomas von Aquin Eingang ins Christentum und wurde zur christlichen Ethik, deren Einfluss auf die philosophische Ethik dann aber mit der Aufklärung verschwand. Akademisch geriet die Tugendethik als religiöse Ethik mit Einsetzen der Aufklärung für den Bereich der Philosophie eher in Vergessenheit.
Anders als in der Metaethik ist die Ablehnung reiner Vernunft in der christlichen Ethik offenkundig. Denn das Leitbild christlicher Ethik gilt weniger der Vernunft und viel mehr dem Gefühl - also der Nächstenliebe, die menschliches Handeln prägen soll. Philosophen wie Kant wendeten sich noch entschieden gegen das Gefühl als Bestimmungsgrund und misstrauten ihm.
Betrachten wir diese Entwicklung philosophischer Ethik mit einigem Abstand, zeigt sich Folgendes. Die ehemals ganzheitliche Tugendethik eines Aristoteles, die den menschlichen Charakter und das menschliche Leben in allen Belangen anvisierte, wurde zur christlichen Ethik und erfuhr als solche in der Aufklärung eine deutliche Verengung. Thema, worüber in den folgenden Jahrhunderten philosophisch gestritten wurde, war nunmehr allein und ausschließlich das moralische Urteil.
Die postmoderne Kritik, dass ein solches Urteil gar nicht möglich sei, weil es gar keine reine und moralische Vernunft gibt, sägte dann der philosophischen Ethik quasi den Ast ab. Die philosophische Ethik wurde zur Metaethik, die "nur mehr" sich selbst und ihre Geschichte und Sprache untersucht, nicht aber menschliches Verhalten.
Quo vadis, Ethik?
Mag ja sein, dass der eine oder andere Lehrer noch immer "seinen" Kant usw. referiert, weil sich dies so schön unterrichten lässt. Überzeugen wird er damit kaum. Beachtete Beiträge zum menschlichen Verhalten speisen sich demgegenüber aus Biologie und Evolutionstheorie, Psychoanalyse und Neurowissenschaft, Ökonomie und Politikwissenschaft. (Mag auch sein, dass dies immer schon so war.)
Genauso gibt es ein eher zeitloses Interesse an christlicher Tugendethik. Dieses steht jedoch in engem Zusammenhang mit dem christlichen Glauben und bezieht seine Argumentation aus dem Glauben. In Kurzform meint diese Argumentation: Gott hat gesagt, dass wir alle lieb sein sollen. (Christliche Ethiker formulieren das natürlich anspruchsvoller.)
Dabei bestimmt das Christentum den Motivationsgrund für moralisches Handeln aus meiner Sicht völlig richtig: Er liegt im Gefühl, dem Mitgefühl und der Nächstenliebe, und nicht in jener (scheinheiligen) Vernunft, die die Philosophen der Aufklärung erträumten.
Wenn man die These teilt, dass die Vermittlung von Tugenden gesellschaftlich sinnvoll ist, aus diesem Grund Ethik-Unterricht (etwa für Flüchtlinge) sogar vorschreibt, zeigt sich also aus meiner Sicht
• eine philosophische Ethik, die dazu nicht in der Lage ist,
• sowie eine religiöse Ethik, die für anders religiöse Menschen und nichtreligiöse Gesellschaftsgruppen überhaupt nicht nachvollziehbar ist.
Um eine für eine moderne Gesellschaft sinnvolle Tugendethik zu leisten, braucht es daher zwei Zutaten: Diese Ethik sollte auf den Erkenntnissen echter Wissenschaften beruhen und zweitens sollte sie menschliche Beweggründe wie Empathie, Nächstenliebe, Solidarität usw. in ihr Zentrum stellen.
Wenn wir nach einer solchen Ethik suchen, dann ist die säkulare Ethik des DL nicht bloß Nischenprodukt. Ganz im Gegenteil würde ich aufgrund der Qualität seiner Werke und der immensen Popularität des DL sogar sagen, dass der DL der Platzhirsch auf diesem Gebiet der Ethik ist, der Aristoteles unserer Zeit.