Sophie:
Entschuldigt bitte, daß ich so in Euren Austausch " hineinplatze" mit meinem Anliegen: Ich ( ungäubige, engagierte Buddhistin ) liebe Buddha, nehme täglich Zuflucht, praktiziere, das Mantra OM MANI PADME HUM begleitet mich innerlich Tag und Nacht; aber die Karma-Lehre war mir schon vor 35 Jahren fremd, und inzwischen empfinde ich sie sogar als inhuman. Diesen Glaube, daß man sich sein Wohlergehen selbst verdient hat, und daß der andere, der gerade leidet, schlechtes Karma abarbeitet (z.Bsp. die krebskranke Freundin, oder die junge Frau in Indien, die in einer Textilfabrik 12 Std. am Tag schuftet) finde ich empörend, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Gautama Buddha, lebte er heute, dieser Ansicht wäre. - Ich liebe es, mit gläubigen Buddhisten im Tempel zu meditieren und zu chanten; aber in persönlichen Gesprächen bin ich immer wieder aufs Neue befremdet, wenn ich erfahre, wie gleichmütig sie z.Bsp. auf elende, auch vom Westen mitverursachte Zustände in der 3. Welt reagieren. Und die Aussage, wir könnten froh sein, daß wir aufgrund unserer Verdienste im Westen leben, finde ich unerträglich. Da tut sich eine Kluft auf; ich bin traurig, daß die Karma-Lehre sich so auswirken kann. --Ergeht es jem. ähnlich??
Anfangs ja. Es klingt auf den ersten Blick zynisch, vor allem, wenn Leute sich in ihrem Glück sonnen und dann eine Schuld-Geschichte daraus machen. Erst viel später habe ich einiges besser verstanden, nämlich in dem Moment, als ich selbst für mein Handeln die volle Verantwortung zu übernehmen bereit war
Karma ist nach meinem Verständnis einfach "Gewohnheit". Der Ursprung mancher Gewohnheiten ist nicht zu finden, da er Generationen – auch in evolutionären Zeiträumen gedacht – zurückliegen kann. Beispiel: Die Generation unserer Eltern und Großeltern erlebte und war für zwei Weltkriege verantwortlich, mit all seinen Folgen. Die Handlungen damals können wir heute noch spüren, auch wenn sie vielen von uns nicht klar sind, wir an den Folgen leiden ohne zu wissen woher sie kommen. Aus diesen Folgen resultieren Gewohnheiten im Denken und Handeln. Das ist Karma. Wir können nichts für diese Kriege, aber wir handeln gewohnheitsmäßig und oft ohne Wissen unheilsam als Folge davon.
Die Inderin in der Textilfabrik "arbeitet" also auch Karma ab: In ihrer Gesellschaft setzt man sich gewohnheitsmäßig nicht für Frauen ein, für Sicherheitsstandards u.v.m. (Ich will das nicht "kolonial" verstanden haben, mir ist bewusst, dass dieses Netz auch mit unserer Gesellschaft verwoben ist. Aber weil das alles derart verflochten ist, dass ein Mensch das nicht vollständig analysieren kann, verzichte ich auf weitere Erklärungen.) Dies ist für mich das, was man als "kollektives Karma" bezeichnen kann: also die Gewohnheiten einer Gesellschaft.
Dann ist da das individuelle Karma, also das, was die Inderin aus ihrer Situation macht: fügt sie sich oder versucht sie ihre Situation zu verändern, lässt sie ihren Unmut an anderen aus oder an sich, fängt sie an sich zu wehren oder versinkt sie in Selbstmitleid und unendlich mehr.
Das hat alles nichts mit Zynismus zu tun, nichts mit Schuldzuweisungen und Strafen. Es beschreibt nur wie wir, jeder einzelne von uns und auch Gruppen, mit Situationen umgehen. Nach meiner Erfahrung lehrt der Buddhadharma die Erkenntnis darüber, dass wir alle miteinander verwoben sind, dass wir auch verstrickt sind und dass es Wege aus dieser Verstrickung gibt. Wir können umlernen, unsere Gewohnheiten ändern, unsere Sichtweise verändern. Die Inderin in der Fabrik kann erkennen lernen, dass sie nicht mehr länger Opfer sein muss, sie kann lernen sich mit anderen zusammenzuschließen ........ wir können lernen, dass wir mit der Inderin verbunden sind, dass wir ihren Kampf unterstützen müssen und keine Billigkleidung mehr kaufen, auch wenn uns der Kauf des top-modischen Shirts gerade lockt.
Vielleicht hat die krebskranke Freundin geraucht, dann ist ihre Erkrankung eine Folge davon. Nicht die Erkrankung, sondern das Rauchen ist Karma. Vielleicht ist es erblich, dann ist das einfach so – ob Genetik was mit Karma zu tun hat, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber was Karma in diesem Fall sein kann, ist die Art und Weise, wie die erkrankte Frau mit ihrer Krankheit umgeht. Steckt sie den Kopf in den Sand? Versucht sie die Krankheit zu akzeptieren? Kämpft sie um Gesundung? Macht sie jemanden dafür verantwortlich? Verzweifelt sie? Findet sie für sich einen Sinn in der Krankheit? Wie geht sie mit dem Sterben um? Wie behandelt sie Ärzte und Pflegepersonal? Zieht sie sich von ihren Freunden zurück oder sucht sie deren Nähe? Auch hier sind die Möglichkeiten wieder unendlich. Auch hier geht es nicht um Schuld und Sühne, nur um die Art und Weise, wie gehandelt wird. Betrachtung und Sichtweise ist übrigens für mich auch eine Handlung. So könnte sie die Erkrankung als ungerecht betrachten oder als Herausforderung usw.
Karma, also gewohnheitsmäßiges Handeln, ist etwas, das wir selbst in der Hand haben. Das zu verändern und zu gestalten ist mit sehr viel Arbeit verbunden, mit absoluter Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Aber es lohnt sich, Lohn sind mehr Glück und Zufriedenheit - und Freiheit. Das kann jeder an sich selbst feststellen und es kommt darüberhinaus allen Wesen zugute.
Ich bin froh hier im Westen zu leben, dass ich noch nie einen Krieg erleben musste, eine Hungersnot oder Ähnliches. Das empfinde ich als Vorzug. Ein Teil dieses Privileges ist wohl einfach Ergebnis der Geografie, ein Teil jedoch sicher auf das Engagement unserer Vorfahren zurückzuführen, z.B. der Gewerkschafter aus früheren Zeiten. Wenn ich mich nun als untrennbar verwoben mit meinen Vorfahren betrachte (das geht nun sehr sehr tief), als ein Teil von ihnen, dann ist es eben auch mein Verdienst. Es wird umso mehr mein Verdienst, wenn ich die Fackel weitertrage. Ich kann dazu beitragen, dass das Leben der Inderin und deren Nachkommen verbessert. Auch wenn das erst meine Nachkommen machen, so habe ich dann mitgewirkt, denn ich habe die Kette nicht abreissen lassen, den Samen gelegt.
Dennoch, was nie vergessen werden darf, für mein Karma, meine Gewohnheiten bin nur ich verantwortlich, nur ich kann sie verändern. Aber das ist eben auch Freiheit, denn niemand kann letztendlich so über mich bestimmen, außer ich selbst. Andere können mir aber Anregungen liefern, mich inspirieren, mich begleiten. Wir können die Inderin nicht ändern, neigt sie zu Unzufriedenheit, wird auch ein besseres Arbeitsumfeld nichts daran ändern, wir können sie aber unterstützen, wenn sie ihre Gewohnheiten und die ihrer Gesellschaft verändern möchte.
Liebe Grüße
Doris