Beiträge von Sudhana im Thema „organspende-zwischen-tod-und-hoffnung“

    Im Mai 2001 wurde vom Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer eine Bekanntmachung zum Schmerzempfinden bei Hirntod herausgegeben, wonach es…
    “...nach dem Hirntod keine Schmerzempfindung mehr gibt.

    Dazu zwei lesenswerte, darauf bezogene Statements im Deutschen Ärzteblatt aus demselben Jahr:

    Hirntod: Die Seele lebt

    Hirntod: Scholastik

    Jedenfalls - auf eindeutige naturwissenschaftliche Beweise konnte sich auch diese Bekanntmachung nicht beziehen. Richtiger ist, dass aus dem Fehlen messbarer Reaktionen auf extreme Schmerzreize (denen der Körper bei der vorgeschriebenen Feststellung des Hirntodes ausgesetzt wird) auf ein fehlendes Schmerzempfinden geschlossen wird. Das war 2001 Stand medizinischer Kenntnisstand, der wie jeder naturwissenschaftliche Kenntnisstand nicht unumstößlich, sondern falsifizierbar ist. Sogar sein muss, wenn er tatsächlich naturwissenschaftlichen Kriterien entsprechen soll. Dies zu unterschlagen, ist schlicht unredlich.


    Wie schon geschrieben, stammt diese "Bekanntmachung" aus dem Jahr 2001. Eine Beurteilung, die durchaus der Revision unterworfen war und ist (selbst, wenn man sie nicht als interessengeleitet abtun will), wie man 7 Jahre später in einer größeren deutschen Zeitung lesen konnte:

    Todeszeitpunkt und Organspende - Wie tot sind Hirntote? - Gesundheit - Süddeutsche.de

    Das dort thematisierte Papier kann man hier einsehen - empfehlenswert, wenn man sich fundiert mit dem Thema Hirntod auseinandersetzen möchte:

    The President's Council on Bioethics: Controversies in the Determination of Death: A White Paper by the President's Council on Bioethics

    Money Quote:

    Zitat

    In certain respects, the medical facts have introduced complications for those who would defend the equation of this condition with the death of the human being: Patients diagnosed with total brain failure may retain certain limited brain functions (such as the secretion of ADH to regulate urine output), and they certainly retain enough somatic integrity to challenge claims that the body immediately becomes “a disorganized collection of organs” once the brainstem is disabled. In addition, advances in intensive care techniques, displayed in cases of prolonged somatic “survival” after “whole brain death,” challenge claims that the body cannot continue in its artificially supported state beyond a short window of time.

    Der aktuelle Vorstoß - wieder einmal; der letzte war erst 2011 - zur Einführung der Widerspruchslösung wirft neben medizinischen und ethischen auch politische Fragen auf: insbesondere die, ob dem Staat ein Zugriffs- und Verwertungsrecht auf die Körper seiner Bürger zustehen sollte. Das wurde schon vor etwas mehr als einem halben Jahr in diesem Kommentar thematisiert:

    Organspende: Mein Körper ist kein Ersatzteillager - Kommentar

    Dass ein vor gerade mal 8 Jahren nach umfangreichen - und kontrovers geführten - Diskussionen gefundener Kompromiss hinsichtlich gesetzlicher Regelung schon wieder zur Disposition gestellt werden soll, zeigt mE insbesondere in der Begründung - dass diese Regelung nicht den Bedarf der Transplantationsindustrie nach verwertbaren menschlichen Organen deckt - dass auch die Einführung einer Widerspruchslösung lediglich das nächste Salamischeibchen sein wird, das da heruntergeschnitten wird. Der nächste Vorstoß kommt bestimmt. Der Kampf um die Verwertungsrechte menschlicher Organe wird wohl erst beendet sein, wenn menschliche Organe ein ganz normales Handelsgut sind, mit allen marktwirtschaftlichen Implikationen. Dann wird sich auch hier, in der 'ersten Welt', z.B. die Frage stellen, warum man eigentlich jemandem Sozialleistungen zahlen sollte, der zwei gesunde Nieren hat und ohne weiteres eine davon verkaufen könnte. Oder einen Teil seiner Leber, eine seiner beiden Hornhäute ... Die Organausstattung des Menschen ist erstaunlich redundant. Und so lange es "Bedarf" gibt, sollte man den doch auch erfüllen, oder? An Bedarfsbefriedigung ist doch nichts auszusetzen, oder? Schöne neue Welt, die solche Bürger trägt ...


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    Zunächst ist zu bedenken (um dies verdeutlichend zu wiederholen), dass die Herangehensweise der modernen westlichen Medizin an die Problematik einer Definition des Todes durchaus nicht rein wissenschaftlich ist, sondern auch auf einer rational nicht begründbaren ethnozentrischen Voraussetzung beruht – nämlich auf dem abendländischen Leib-Seele-Modell. Als Gegenbeispiel sei hier das - durchaus mit modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen kompatible - buddhistische Menschenbild angeführt, das sich besonders deutlich vom christlich geprägten Bild eines beseelten Körpers unterscheidet. Der Mensch ist nach buddhistischer Auffassung eine Einheit psychischer und physischer Faktoren, wobei keinem dieser Faktoren die Rolle eines 'Persönlichkeitskernes' oder einer Seele zugewiesen werden kann. Eine Person existiert demnach nur durch das Zusammenwirken dieser grundsätzlich gleichwertigen Faktoren, als ihre Funktion. Eine eingehende Erörterung ist z.B. bei Suwanda H. J. Sugunasiri, The whole body, not heart, as seat of consciousness: the Buddha's view, Philosophy East and West, 45/3, July 1995, P.409-430 zu finden.


    Der Tod ist nach diesem Verständnis daher nicht der Eintritt eines bestimmten Ereignisses – etwa der Ausfall eines bestimmten Organs – sondern wird prozesshaft begriffen als die allmähliche Auflösung eben dieses Funktionszusammenhanges der die Person ausmachenden Faktoren. Da keiner dieser Faktoren für sich als Träger des Ich begriffen wird, kann auch keiner von ihnen allein ein Kriterium für den Eintritt des Todes, also für einen abgeschlossenen Sterbeprozess, liefern. Einen bestimmten Zeitpunkt innerhalb dieses Auflösungsprozesses als Eintritt des Todes zu definieren, kann daher nur eine rein formale Festlegung sein. In dieser formalen Festlegung liegt die eigentliche Problematik der 'zweckgerichteten Definition', da bei den hierzu herangezogenen Kriterien tendenziell Nützlichkeitserwägungen die entscheidende Rolle spielen, die nicht dem Sterbenden selbst, sondern anderen Zwecken dienen.


    Sicher ist eine solch formale Definition des Todeseintritts nicht rein willkürlich, doch täuscht sie eine Zäsur vor, die aus sich selbst heraus – jenseits der erwähnten Nützlichkeitserwägungen – nicht zwingend nachvollziehbar ist. Die Tatsache, dass bei Feststellung des Hirntodes der Sterbeprozess in ein nicht mehr umkehrbares Stadium eingetreten ist, darf nicht den Blick dafür verstellen, dass man es immer noch mit einem Sterbenden zu tun hat, der Anspruch auf Respektierung seiner Würde hat.


    Aus dem rein formalen, legalistischen Charakter der Definition von ‘Tod’ folgt, dass eine Organentnahme zum Zweck der Transplantation (also zu einem medizinisch noch sinnvollen Zeitpunkt) auf jeden Fall einen Eingriff in den Sterbeprozess bedeutet. Bedenklich ist ein solcher Eingriff insbesondere, da nach buddhistischer Lehre in das zentrale Heilsziel der Befreiung noch im Verlauf des Sterbeprozesses eingetreten werden kann, das bewusste Erfahren des Auflösungsprozesses zumindest aber einer Annäherung an dieses Ziel förderlich sein kann. Dass mit dem Ausfall der sog. höheren Bewusstseinsfunktionen ein solches Erfahren ggf. stark verändert ist, sich auf einer anderen geistigen Ebene abspielt, ist unzweifelhaft. Aus der Unmöglichkeit, einen solchen Modus der Erfahrung medizinisch-wissenschaftlich nachzuweisen (argumentum ex silentio), kann und darf jedoch nicht auf seine Nichtexistenz geschlossen werden.


    In traditionell buddhistischen Ländern wird daher in der Regel großer Wert darauf gelegt, diese Erfahrung des Sterbeprozesses, sein ‘Erleben’, zeitlich weit über das Verlöschen wahrnehmbarer körperlicher Funktionen hinaus möglichst frei von jeglichen störenden Einflüssen zu halten. Dies betrifft emotionalen Stress (z.B. durch Angehörige, die in unmittelbarer Nähe des Sterbenden ihrer Trauer allzu deutlich Ausdruck geben) und selbstverständlich auch physische Störungen, wobei ein Eingriff in die körperliche Integrität des Sterbenden oder Toten sicher deren extremste Form ist.


    Bei allen genannten Vorbehalten sollte jedoch ein anderer Aspekt keinesfalls übersehen werden. Die bewusste Entscheidung für eine Organspende ist eine ethisch begrüßenswerte Entscheidung, sie ist praktizierte Freigebigkeit und Mitgefühl; sie kann das Leiden Kranker lindern und durch diese radikalste Form des Sich-Entäußerns zum Nutzen Anderer auf heilvolle Weise die Überwindung von Anhaftung und Ich-Illusion fördern. Dies ist der Grundgedanke hinter buddhistischen Texten wie z.B. dem Sasa-Jataka (Jatakam Nr. 316) des Palikanon oder dem mahayanischen Vyaghri-Jataka. Voraussetzung dafür ist jedoch als Vorbereitung eine intensive persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben und ein im Bewusstsein der Konsequenzen gefasster, freiwilliger und vorbehaltloser Entschluss. Es ist dies eine Entscheidung, die ein jeder nur für sich persönlich treffen kann – sie kann und darf ihm nicht aufgedrängt werden und sie sollte auch nicht anderen Menschen, insbesondere den Angehörigen Sterbender, aufgebürdet werden.


    Aus diesem Grund ist beim Fehlen einer eindeutigen Willensäußerung eines potentiellen Organspenders eine Organentnahme ethisch fragwürdig und auch den Angehörigen ist eine stellvertretende Einwilligung in eine Organentnahme bei Zweifeln über die Einstellung des Sterbenden nicht zu empfehlen. Gerade um den Angehörigen die zusätzliche emotionale Belastung durch ein solches Ansinnen, das an sie herangetragen werden könnte, zu ersparen, ist es empfehlenswert, rechtzeitig eine eindeutige persönliche Entscheidung zu treffen und diese im Organspendeausweis zu dokumentieren.


    Die Diskussion um Organspende ist allerdings leider häufig zu sehr verengt auf die Problematik der postmortalen Organentnahme ("Leichenspende"). Ein anderer und kaum weniger komplexer Aspekt des Problemfeldes Organspende ist die sogenannte Lebendspende. Dabei spielen die oben angesprochenen philosophischen oder medizinethischen Erwägungen bezüglich des Sterbeprozesses keine Rolle. Es ist gar nicht möglich, hier grundsätzliche und generelle Aussagen unter dem Gesichtspunkt des Eingriffs in die körperliche Integrität oder einer möglichen gesundheitlichen Gefährdung des Spenders zu machen, da unter dem Begriff Lebendspende in dieser Hinsicht sehr unterschiedliche Vorgänge zusammengefasst werden - von der harmlosen Blut- oder Samenspende bis hin zur Nieren- und Teilleberspende.


    Hier ist jedoch ein anderer Aspekt von besonderer Bedeutung, der im Zusammenhang mit der Organtransplantation von Lebendspenden geeignet ist, in der Summe mehr Leid zu erzeugen als zu lindern. Das medizinisch Machbare hat neue Bedürfnisse geweckt und damit auch einen potentiellen Markt geschaffen - einen sehr lukrativen Markt, da ein großes Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage besteht. Die internationale Bellagio-Arbeitsgruppe über Transplantation, körperliche Unversehrtheit und den internationalen Organhandel stellte schon 1997 in einem Bericht fest:


    Zitat

    "Gerade diese Knappheit hat Ärzten, Krankenhausverwaltern und Politikern in einer Anzahl von Ländern Anreize gegeben, ethisch zweifelhafte Strategien zur Beschaffung von Organen zu verfolgen. Sie sind weniger durch den Wunsch motiviert, die Bedürfnisse der Patienten in ihren Ländern zu erfüllen, als durch Zahlungen von Ausländern. Speziell hat der weltweite Fehlbedarf den Verkauf von Organen gefördert

    [...]

    Das physische Wohlbefinden benachteiligter Populationen, besonders in Entwicklungsländern, ist ohnehin gefährdet durch eine ganze Anzahl von Bedingungen, eingeschlossen die Gefahren von Mangelernährung, minderwertiger Behausung, unsauberes Wasser und parasitäre Infektionen. Unter diesen Umständen Organverkauf dieser Liste noch hinzuzufügen, würde eine bereits verletzliche Gruppe einer weiteren Bedrohung ihrer physischen Gesundheit und körperlichen Integrität aussetzen.

    […]

    Selbst in entwickelten Ländern würde sich der Verkauf von Organen lebender Personen dem Missbrauch ausliefern."

    (veröffentlicht in Transplantation Proceedings 1997, 29:2739-45, hier übersetzt)


    Der drohenden Kommerzialisierung der Transplantationsmedizin und der Entwicklung eines weltweiten Organhandels traten schon früh internationale Organisationen mit Erklärungen entgegen (u.a. die World Medical Association, die Transplantation Society und die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen). 1987 wurden in Deutschland zunächst die wichtigsten Grundsätze für Organtransplantationen in einem Transplantationskodex zusammengefasst, zu dessen Einhaltung sich die deutschen Transplantationszentren verpflichteten. 1997 wurde schließlich mit dem Transplantationsgesetz das Verbot des Organhandels in Deutschland gesetzliche Norm. Auch die vom Europarat initiierte, am 1. Dezember 1999 in Kraft getretene sog. Bioethikkonvention, ergänzt durch das Zusatzprotokoll vom 24.01.2002, untersagt in Artikel 21 die Verwendung des menschlichen Körpers und von Teilen davon zur Erzielung finanziellen Gewinns.


    Das klingt beruhigend - ist aber kein Grund, sich entspannt zurückzulehnen. Denn der illegale Organhandel - speziell der besonders gewinnträchtige mit Nieren von Lebendspendern - ist auf Grund der enormen Gewinnspanne trotzdem eine Wachstumsbranche. Dies wurde spätestens durch den im Jahre 2003 im Auftrag des Europarates von der Schweizer Nationalrätin Ruth-Gaby Vermot-Mangold erstellten Bericht deutlich; schon damals hatten skrupellose Makler in osteuropäischen Ländern aufgrund des dort herrschenden materiellen Elends neue ‘Quellen’ erschlossen. Der Bericht Trafficking in organs in Europe (Council of Europe, Parliamentary Assembly, Doc. 9822, 3 June 2003) ist zwar nach über 15 Jahren nicht mehr sonderlich aktuell, doch ist seine Lektüre nach wie vor mehr als empfehlenswert - wobei die Organmafia mittlerweile insbesondere das Elend afrikanischer Flüchtlinge (im wahrsten Sinne des Wortes) ausschlachtet, wie eine CNN-Reportage aus dem Jahr 2011 zeigt (Refugees face organ theft in the Sinai - CNN). Mit der Nepal-Connection beschäftigt sich eine weitere Reportage desselben Senders aus dem Jahr 2014 (Nepal's Organ Trail: How traffickers steal kidneys - CNN). In China hat sich eine regelrechte Transplantationsindustrie entwickelt (An Update | The International Coalition to End Transplant Abuse in China) - wobei die vielleicht wichtigste Quelle hier Exekutierte sind. Da verschwindet dann auch die Grenze zwischen Lebendspende und postmortaler Spende, wobei der Begriff 'Spende' eigentlich nur noch zynisch gebraucht werden kann.


    Eine wichtige Frage ist hier natürlich, wer denn die Kunden der Organhändler sind, wer sind die Endabnehmer? Dieser Frage geht z.B. der hier vorgestellte Dokumentarfilm u.a. nach: 2014: Documentary explores organ trafficking - CNN Video Auch, wenn es selten ausgesprochen wird - wer es wissen möchte, erfährt ohne größere Probleme, dass es in manchen Ländern (ein hinreichend dickes Portemonnaie vorausgesetzt) möglich ist, das Problem eines fehlenden Spenderorgans auf eine Weise zu lösen, die das Gesetz hierzulande verbietet.


    Es ist das altbekannte Globalisierungsproblem - die Ausbeutung der Armen durch die Reichen im internationalen Maßstab. Auch, wenn unser persönliches Einkommen vielleicht allenfalls für exotischen Sextourismus ausreicht und hingegen der Transplantationstourismus - noch - eher eine Angelegenheit für "Besserverdienende" ist: wir in den reichen europäischen Ländern gehören zu den Profiteuren der globalisierten Weltwirtschaft. Auch hier: noch. Um so mehr Anlass, sich darüber Gedanken zu machen, welche Rolle die 'Geistesgifte' Gier, Hass und Wahn im Zusammenhang Transplantationsmedizin spielen. Natürlich wird niemand, der auch nur ein Fünkchen Mitgefühl hat, einem Kranken, der die Möglichkeit sieht, seine Lebensqualität durch eine Organtransplantation entscheidend zu verbessern, Vorträge über unheilsame Motivation halten. Aber gerade, wenn es in diesem Zusammenhang um Mitgefühl geht, sollte man sich doch der Frage stellen, ob die Entwicklung der Transplantationsmedizin in der Summe zu überwiegend heilsamen oder unheilsamen Konsequenzen führt. Diese Entwicklung wird vor allem in den Ländern der sog. 'ersten Welt' noch vor allem durch freiwillige Organspenden vorangetrieben - nicht ohne immer wiederkehrende Hinweise interessierter Kreise auf einen eklatanten Fehlbedarf an Organen. Ein Fehlbedarf, der zukünftig eher noch weniger durch freiwillige Spenden abzudecken sein wird, als dies heute der Fall ist. Da ist die persönliche Entscheidung pro oder contra Organentnahme durchaus auch eine Entscheidung pro oder contra Förderung dieser Entwicklung - und des zwangsläufig damit entstehenden Marktes.


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    In Deutschland ist hinsichtlich Organ- und Gewebespende die sog. "Entscheidungslösung" rechtliche Rahmenbedingung. Ziel dieser am 01. November 2012 eingeführten Regelung war es, die Organspendebereitschaft zu fördern (vgl. die Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung). Grundlage der Entscheidung, die im Organspendeausweis dokumentiert werden sollte (mit dem man einer Organspende selbstverständlich auch ausdrücklich widersprechen kann), soll das Informationsmaterial sein, das jede krankenversicherte Person ab dem vollendeten 16. Lebensjahr von ihrer Krankenkasse oder ihrem Versicherungsunternehmen regelmäßig erhält. Ein ausgefüllter Organspendeausweis ist eine rechtsverbindliche Erklärung - liegt eine solche nicht vor, wird die Entscheidung über eine Organentnahme bei potentiellen Organspendern deren Angehörigen aufgebürdet. Sicherlich die schlechteste Lösung.


    Dass angesichts der oben erwähnten Zielsetzung - Organspendebereitschaft zu fördern - das ungefragt zur Verfügung gestellte Informationsmaterial eher den Charakter von Werbebroschüren hat, kann dabei nicht überraschen. Der mit dem Thema Organspende verbundenen komplexen ethischen Problematik wird dieses den Bürgern aufgedrängte Informationsmaterial eher nicht gerecht.


    Wenn man das Problem analysiert, sieht man recht schnell, dass auch die Befürworter einer Organspende genau das tun, was sie häufig ihren Gegnern vorwerfen: sie argumentieren auf der Basis einer bestimmten, weltanschaulich-religiös geprägten Sicht des Menschen. Auf dieser Basis - konkret in der abendländischen Kultur - wird der Tod zumeist unreflektiert als ein Ereignis verstanden, das zu einem genau definierbaren Zeitpunkt eintritt. Dieses Verständnis wurzelt in der Auffassung von der Doppelnatur des Menschen als einem vergänglichen Körper mit einer ewigen, unzerstörbaren Seele, wobei der Tod die 'Loslösung' der Seele vom Körper ist. Man war und ist noch heute in der Regel der Auffassung, diese Trennung (wenn auch nicht der konkrete Moment, in dem sie stattfindet) sei eindeutig anhand körperlicher Merkmale feststellbar.


    Als typisch für diese Auffassung soll hier folgendes Zitat stehen:


    Zitat

    "Im Bereich der christlichen Anthropologie ist es wohlbekannt, daß der Augenblick des Todes für jede Person im endgültigen Verlust der konstitutiven Einheit zwischen Leib und Seele besteht. Jeder Mensch ist nämlich insofern lebendig, als er oder sie »corpore et anima unus« ist (Gaudium et spes, 14), und er oder sie bleiben es, solange diese substantielle Einheit in der Ganzheit besteht. Im Licht dieser anthropologischen Wahrheit wird deutlich, daß, wie ich bei früheren Gelegenheiten bereits betont habe, »der Tod des Menschen, in diesem radikalen Sinn, ein Ereignis ist, das durch keine wissenschaftliche Technik oder empirische Methode direkt identifiziert werden kann« (vgl. Ansprache vom 29. August 2000; in O.R. dt., Nr. 37, 15.9.2000, S. 7,4). Aus klinischer Sicht jedoch ist es der einzig korrekte – und auch der einzig mögliche Weg –, den Tod eines Menschen festzustellen, die Aufmerksamkeit und Forschung auf die Identifizierung jener angemessenen »Zeichen des Todes« zu konzentrieren, die an ihren physischen Symptomen im Individuum zu erkennen sind."

    (Johannes Paul II., Botschaft an die päpstliche Akademie der Wissenschaften, 01. Februar 2005, Libreria Editrice Vaticana)


    Traditionell wurde der Herzstillstand und das Einstellen der Atmung als Merkmal des Todeseintritts angesehen. Seit Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es jedoch verstärkt Bemühungen, neue Kriterien für den Eintritt des Todes einzuführen. Bahnbrechend war hier der Vorstoß einer Kommission der Harvard Medical School im Jahre 1968:


    Zitat

    "Unser primäres Anliegen ist, das irreversible Koma (= Coma dépassé) als neues Todeskriterium zu definieren. Es gibt zwei Gründe für den Bedarf an einer neuen Definition:

    1 . Der medizinische Fortschritt auf den Gebieten der Wiederbelebung und der Unterstützung lebenserhaltender Funktionen hat zu verstärkten Bemühungen geführt, das Leben auch schwerstverletzter Menschen zu retten. Manchmal haben diese Bemühungen nur teilweisen Erfolg: Das Ergebnis sind dann Individuen, deren Herz fortfährt zu schlagen, während ihr Gehirn irreversibel zerstört ist. Eine schwere Last ruht auf den Patienten, die den permanenten Verlust ihres Intellekts erleiden, auf ihren Familien, auf den Krankenhäusern und auf solchen Patienten, die auf von diesen komatösen Patienten belegte Krankenhausbetten angewiesen sind.

    2. Überholte Kriterien für die Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung von Organen zur Transplantation führen."

    (Beecher et al.: A definition of irreversible coma. Report of the ad hoc committee of the Harvard Medical School to examine the definition of brain death. Journal of the American Medical Association 1968; 205: 337-340, hier übersetzt)


    Noch im selben Jahr wandte sich der Philosoph Hans Jonas in einer vernichtenden Kritik gegen diesen Vorschlag und die daraus ableitbaren Konsequenzen:


    Zitat

    "Solange es sich nur darum handelt, wann es erlaubt sein soll, die künstliche Verlängerung gewisser Funktionen (wie Herzschlag), welche traditionell als Lebenszeichen gelten, einzustellen - und das ist eine der beiden erklärten Anliegen, denen die Kommission dienen wollte - , sehe ich nichts Ominöses in dem Begriff des „Gehirntodes“. In der Tat, es bedarf keiner neuen Definition des Todes, um in diesem Punkt dasselbe praktische Ergebnis wie diese zu legitimieren - wenn man sich z.B. den Standpunkt der katholischen Kirche zu eigen macht [...]: „Wenn tiefe Bewusstlosigkeit für permanent befunden wird, dann sind außerordentliche Mittel zur Weitererhaltung des Lebens nicht obligatorisch. Man darf sie einstellen und dem Patienten erlauben, zu sterben.“ Das heißt: Beim Vorliegen eines klar definierten negativen Gehirnzustands darf der Arzt dem Patienten erlauben, seinen eigenen Tod gemäß jeder Definition zu sterben, der von selbst das Spektrum aller nur möglichen Definitionen durchlaufen wird. Aber ein beunruhigend entgegengesetzter Zweck verbindet sich mit diesem in der Suche nach einer neuen Definition des Todes - d.h. in dem Ziel, den Zeitpunkt der Toterklärung vorzuverlegen: die Erlaubnis nicht nur, die Lungenmaschine abzustellen, sondern nach Wahl auch umgekehrt sie (und andere „Lebenshilfen“) weiter anzuwenden und so den Körper in einem Zustand zu erhalten, der nach älterer Definition „Leben“ gewesen wäre (nach der neuen aber nur dessen Vortäuschung ist) - damit man an seine Organe und Gewebe unter den Idealbedingungen herankann, die früher den Tatbestand der „Vivisektion“ gebildet hätten."

    (zitiert nach: Hans Jonas. Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Insel Verlag 1987, S. 220f. Jonas seinerseits zitiert hier die sog. "Anaesthesistenpredigt" Papst Pius' XII. vom 24.11.1957.)


    Anmerkung: Offensichtlich verwendet Jonas den Begriff 'Vivisektion' hier in seiner wörtlichen Bedeutung: "Zerlegung / Zergliederung von lebenden Wesen" und nicht im juristischen, i.d.R. ausschließlich auf Tiere bezogenen Sinn. Seine Folgerung lautete:


    Zitat

    "Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod ist nicht mit Sicherheit bekannt, und eine Definition kann Wissen nicht ersetzen. Der Verdacht ist nicht grundlos, dass der künstlich unterstützte Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist (wie er bis vor kurzem auch medizinisch allgemein angesehen wurde). D. h., es besteht Grund zum Zweifel daran, dass selbst ohne Gehirnfunktion der atmende Patient vollständig tot ist. In dieser Lage unaufhebbaren Nichtwissens und vernünftigen Zweifels besteht die einzig richtige Maxime für das Handeln darin, nach der Seite vermutlichen Lebens hinüberzulehnen."

    (a.a.O., S.233)


    Hans Jonas hatte seiner Kritik nicht umsonst den treffenden Titel „Gegen den Strom“ gegeben - der Vorstoß der Harvard-Kommission wurde von medizinischen Standesorganisationen aufgegriffen und das dort geforderte neue Kriterium für den Eintritt des Todes – der sog. Hirntod – wurde mittlerweile in vielen Ländern auch als juristische Norm eingeführt. Erst durch die so geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen wurde der heutige Stand der Transplantationsmedizin möglich. Das Hirntodkriterium macht einen menschlichen Körper, bei dem essentielle vitale Funktionen noch vorhanden sind, zu einer Sache, die einer medizinischen Weiterverwertung zugeführt werden darf. Die Frage, ob die Einstufung als 'Sache' objektiv gerechtfertigt ist – ob also zweifelsfrei davon ausgegangen werden kann, dass der tot Erklärte als Person nicht mehr existiert und durch die Weiterverwertung seines Körpers keinen Schaden erleidet - ist jedoch nach wie vor wissenschaftlich ungeklärt und wohl auch grundsätzlich nicht klärbar. Davon abgesehen sind hier natürlich auch Aspekte der Pietät und Würde im Umgang mit Toten und Sterbenden berührt - Aspekte, die in jeder Kultur ein Gradmesser sittlicher Reife sind.


    Schon in der frühen Erklärung der Harvard-Kommission wird deutlich von einem 'Bedarf' für das Hirntod-Kriterium gesprochen und der Verdacht liegt nahe, dass es vor allem der im zweiten Punkt der Erklärung angesprochene Bedarf war, - „Kontroversen bei der Beschaffung von Organen“ zu vermeiden - , der zur schnellen Akzeptanz der Gehirntod-Definition führte. Die Motivation durch einen ‘Bedarf’ lässt es gerechtfertigt erscheinen, in Bezug auf den Hirntod von einer 'zweckgerichteten Definition' zu sprechen. Es sind daher neben den schon angesprochenen Fragen auch eben diese Zwecke (hier speziell der unter Punkt zwei genannte), die einer genauen Prüfung in Bezug auf ihre ethische Rechtfertigung und ihre sozialen Auswirkungen unterzogen werden sollten.