Ich denke, es ist sinnvoll, die Frage systematisch zu behandeln, wobei ich mich hier auf den Palikanon als Grundlage beschränken möchte. Da fängt man am besten beim Wortlaut des "Gebots" an, das in dieser Formulierung sowohl als (5.) der Laiengelöbnisse wie auch als Gelöbnis für Novizen und Vollordinierte identisch ist: Surā-meraya-majja-pamādaṭṭhānā veramaṇī sikkhāpadaṃ samādiyāmi.
Um von hinten anzufangen: was ich da auf mich nehme (samādiyāmi), ist eine Übungsregel (sikkhāpadaṃ), kein Gebot. Es handelt es sich also um eine Form des Trainings oder der Schulung - work in progress. Ein Laie, der am Beginn der Übung steht und sich regelmäßig (etwa jedes Wochenende) einen Vollrausch antrinkt, folgt dieser Regel schon, wenn er seinen Alkoholkonsum deutlich reduziert. Da ist seine Übung zunächst das Reduzieren, wenn er ein radikales Aufhören nicht schafft (dass das bei Alkoholkranken nicht funktioniert, ist mir selbstredend bekannt). Die Rede ist von alkoholischen Getränken (majja), gleich ob sie aus fermentierter Getreidestärke hergestellt sind (surā - wie etwa Bier) oder aus vergorenen Früchten bzw. Honiglösung oder Zuckerrohrlösung (meraya - also Wein, Met usw.). Der Grund dafür ist, dass diese 'pamādaṭṭhānā' sind, d.h. Grund / Ursache / Anlass für pamāda. Pamāda wiederum kann man mit 'Achtlosigkeit' übersetzen, was nun allerdings nicht direkt etwas mit Achtsamkeit (insbesondere 'Rechter Achtsamkeit', samma sati) zu tun hat, sondern eher im Sinne von 'Enthemmung' zu verstehen ist - die dann zu unerwünschten, leidhaften Folgen führt. Verwerflich / leidhaft ist also nicht der Alkoholkonsum selbst, sondern es sind die durch die mit dem Alkoholkonsum verbundene Enthemmung (potentiell) daraus entstehenden Folgen.
Nun kann man das 'Surā-meraya-majja-pamādaṭṭhānā veramaṇī sikkhāpadaṃ samādiyāmi' auf zweierlei Art übersetzen. Zum einen so, dass man dem Konsum alkoholischer Getränke als Ursache von pamāda entsagt und zum anderen so, dass man dem Konsum alkoholischer Getränke entsagt, wenn sie zur Ursache von pamāda werden. Die erste Übersetzung impliziert eine grundsätzliche Abstinenz, die zweite eine Begrenzung der Menge auf ein Level, auf dem keine Enthemmung (von schwereren Bewusstseinstrübungen wie einem Alkoholrausch ganz zu schweigen) auftritt.
Für einen Vinaya-Ordinierten (nicht nur im Theravada, in anderen Vinayas ist das genau so) ist die Auslegung eindeutig: absolute Abstinenz. Dass diese Auslegung nicht zwangsläufig ist, zeigt schon, dass explizit festgelegt wurde, dass für einen Bhikku schon das Trinken einer Menge, die ein Grasblatt halten kann, als pācittiyādhammā (dazu gleich) gilt. Übrigens ist dessenungeachtet vernünftigerweise Alkohol als Bestandteil einer Medizin zulässig. Übrigens wurde die Regel erst eingeführt, als ein Bhikku (auf Betreiben einer Gruppe von sechs anderen Bhikkus) beim Bettelgang so viel Alkohol gespendet wurde, dass er danach sturzbetrunken war (Dana durfte er nicht zurückweisen) und sich entsprechend daneben benahm.
Man sollte sich ruhig auch einmal anschauen, welchen Stellenwert der Vinaya einem Verstoß gegen dieses Gelöbnis beimisst - insbesondere im Vergleich zu den anderen vier auch für Laien geltenden Gelöbnissen. Die 227 Regelverstöße, die im Therāvāda Patimokkha gelistet sind, sind nach Schwere des Verstoßes bzw. der daraus folgenden Sanktion in acht verschiedene Gruppen eingeteilt. Die kleinste dieser acht Gruppen umfasst die vier schwersten Regelverstöße (pārājikādhammā), die dann auch zum Ausschluss aus dem Orden führen: Töten, Stehlen, sexuelles Fehlverhalten und Lüge - wobei die Lüge allerdings eine bezüglich des eigenen spirituellen Entwicklungsstandes sein muss. Ansonsten findet man den Bruch der Übungsregel des Nicht-Lügens in der größten und am wenigsten schwerwiegenden Gruppe (92 der 227 Verstöße) - als ersten der Verstöße, die eine Buße erfordern (pācittiyādhammā). In dieser Gruppe findet sich dann auch der Bruch der Alkoholabstinenz - an 51. (!) Stelle. Unmittelbar vor solch schandbaren und schweren Vergehen, wie dem Anstoßen einer anderen Person mit dem Finger (Nr. 52) oder dem spasshaften Spritzen mit Wasser (Nr. 53). Aus dieser Perspektive scheint mir das Thema in der vorangegangenen Diskussion gelegentlich deutlich zu hoch gehängt.
Ob man nun als Laie die Regel leichter nehmen kann als ein Bhikku (im Sinn der zweiten möglichen Übersetzung der Regel, "wenn sie zur Ursache von pamāda werden"); man also lediglich Trunkenheit bzw. Enthemmung durch Alkohol vermeiden sollte, sollte wohl jeder für sich entscheiden. Dagegen spricht im Palikanon mW nur eine einzige Stelle: Sutta Nipata II.14.398-399. In KEN'S schwülstiger Übersetzung:
Zitat
Berauschendes Getränk soll er nicht zu sich nehmen,
Der Hausner, welcher dieser Lehre anhängt,
Zum Trinken lade er nicht ein und stimme nicht den Trinkern zu.
Denn er weiß wohl, daß dies in Wahnsinn endet.
Im Rausche nämlich tun die Toren Übles,
Verführen andere auch, die leicht sich gehen lassen.
Man meide daher diese Quelle vieler Schuld,
Solch Wahnsinn und Verblendung, die der Toren Freude.
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Wer sich nicht für einen Toren hält und / oder gelegentlich zu bestimmten Gerichten gerne ein Gläschen Wein trinkt oder nach körperlicher Anstrengung in der Sommerhitze ein Glas Radler, der möge sich damit beruhigen, dass in A.X.176 (dem Cunda Sutta), wo die zehn unheilsamen Wirkensfährten, die sich wiederum aus drei Unlauterkeiten in Werken, vier in Worten und drei im Denken speisen, aus den vier ersten Übungsregeln abgeleitet werden. Von der fünften ist da bezeichnenderweise nicht die Rede. Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, dass die Missachtung der fünften Übungsregel (was in dem Falle heisst: das Überschreiten der Grenze zur Enthemmung) häufig zum Beschreiten einer oder mehrerer der zehn unheilsamen Wirkensfährten führt. Das wiederum kann geringfügigen Alkoholkonsum durchaus zu einer interessanten Übung in Achtsamkeit machen.
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