Im Soto-Zen scheint exzessiver Alkoholkonsum ja schon eine gewisse Tradition zu haben: Kodo Sawakis größte Leidenschaft schien der Konsum von Sake (Reiswein) zu sein, und das hat er offenbar auch an seine Schüler weiter gegeben. Taisen Deshimaru schreibt in seinem Buch "Die Praxis der Konzentration" auf S. 103:
"Obwohl die fünfte Regel beispielsweise vorschreibt, keinen Alkoholmißbrauch zu treiben, muß dieses Gebot dennoch je nach den Umständen (Ort, Zeit etc.) verändert werden. So denkt sich ein Zen-Meister bei der Erziehung eines Schülers nichts dabei, diesen trinken zu lassen, ja er trinkt sogar mit, wenn es nötig ist."
Wieso "scheint" Dir das so? Wie viele Soto-Zen-Übungsgemeinschaften hast Du denn kennengelernt und in wie vielen davon konntest Du "exzessiven Alkoholkonsum" feststellen? Gar "traditionellen"? Wie viele Schüler Sawakis (Du sprichst ja in Mehrzahl) trinken bzw. tranken denn Alkohol? Mir ist außer Deshimaru keiner bekannt, wobei mich diese Frage (anders als mein persönlicher Umgang mit der 5. kai) auch nicht sonderlich umtreibt. Ich bin nun zwar nicht viel herumgekommen, aber mir persönlich ist "exzessiver Alkoholkonsum" in diesen Kreisen (Soto-Zen) noch nicht begegnet. Allenfalls, dass man im Rahmen eines Arbeitseinsatzes (kein samu) mittags Pizza bestellt hat und einige Teilnehmer (beileibe nicht alle) sich dazu eine Flasche Rotwein teilten (die nicht bestellt war, aber kostenfrei als Bonus für die große Bestellung mitgeliefert wurde). Exzessiv würde ich das nicht nennen, traditionell auch nicht ... Dass zumindest während eines Sesshin - also beim gemeinsamen Üben - Alkohol nicht absolut tabu ist habe ich noch nicht miterlebt.
Zunächst: Sawaki und Deshimaru sind erstens nicht (vor allem nicht in Bezug auf ihren Umgang mit der fünften kai) repräsentativ für das Soto-Zen insgesamt und zweitens ist es sicher sinnvoll, zwischen beiden zu differenzieren. Ich bin jetzt nicht so der große Freund von Sawakis Texten und habe daher nicht viel von und über ihn gelesen. Das, was ich gelesen habe, hat mir jedoch den Eindruck vermittelt, dass seine "größte Leidenschaft" Zazen war und nicht der Alkohol. Was letzteres angeht, so ist die fünfte kai keine Selbstverpflichtung, keinen Alkohol zu trinken, sondern eine Selbstverpflichtung, "nicht den Wein der Täuschung" zu verkaufen - was zumindest nach meinem Verständnis impliziert, ihn auch nicht sich selbst zu verkaufen. Was auch einen sehr viel weiteren Bereich impliziert als lediglich Alkoholrausch. Generell umfasst diese kai den Umgang mit allem, das geeignet ist, zu täuschen und - aus solchen Täuschungen resultierend - unheilsame Handlungen zu bedingen. Man kann sich beispielsweise auch an bestimmten Medien berauschen ... In diesem Sinn kann man mE durchaus auch das "surāmeraya" in den Pali-Texten verstehen und die dort für diese sīla gegebene Begründung geht ja in dieselbe Richtung, beruht also auf den potentiellen Folgen einer solchen Intoxikation.
Ob sich nun Sawaki oder Deshimaru durch ihren Alkoholkonsum täuschen ließen und in Folge unheilsam handelten, ist eine Frage, die letztlich nur sie selbst beantworten konnten. Mit einiger Sicherheit kann man allerdings davon ausgehen, dass Deshimaru zumindest ein körperliches Alkoholproblem hatte.
Zitat "Dreißig Jahre habe ich daran gedacht, mit dem Trinken aufzuhören. Manchmal machte ich es, aber mit dem Willen war es schwierig. Man bot mir Whisky an und wenn Besucher kamen, öffnete ich die Flasche. Das ist nicht so gut. Ich habe vor vier, fünf Tagen mit dem Saké, mit dem Whisky auftgehört ... und es kommt zu Wohltaten. Mein Körper ändert sich tief. Ich muß weitermachen."
Taisen Deshimaru, I Shin Den Shin Nr. 90 / 1980 (deutsche Ausgabe, Hrsg. AZI)
Etwas problematischer ist die Frage der Auswirkungen auf Andere, die gerade in dieser Angelegenheit auch bedeutender ist. In der klassischen Formulierung der Bodhisattva-Gelübde (im Mahayana Brahmajala Sutra) ist das fünfte der zehn Hauptgelübde das, keinen Alkohol zu verkaufen (Anderen zugänglich zu machen). Das Gelübde, selbst keinen Alkohol zu trinken, ist lediglich eines der 48 Nebengelübde (das zweite). Insbesondere problematisch sind Wirkungen auf Andere bei Lehrern, die Anderen als 'role model' dienen (was unvermeidlich ist). Da kann man nun spekulieren, ob Deshimarus problematischer Umgang mit Alkohol mit bedingt war durch seine Wahrnehmung von Sawakis 'unproblematischem' Umgang mit Alkohol (wobei es da sicherlich schwerer wiegende Ursachen und Bedingungen gab). Auch Deshimaru selbst scheint da zumindest zeitweise eine gewisse Vorbildwirkung gehabt haben - zumindest wurde vor ca. zwei Jahrzehnten von Kritikern über einen recht sorglosen Umgang mit Alkohol speziell in La Gendronniere berichtet. Ob das zutreffend war, weiss ich nicht - aber derartige Vorwürfe gegenüber Schülern Deshimarus sind mir schon sehr lange nicht mehr zu Ohren gekommen.
Wie auch immer - Deshimaru ist seit 36 Jahren tot und Sawaki auch schon seit über einem halben Jahrhundert. Vorschlag: mach doch einfach einmal ein Sesshin mit bei einer Übungsgruppe, die zur AZI oder ZVD gehört. Dann weisst Du aus eigener Anschauung, ob es da wirklich zugeht wie in einer Spelunke. Gezwungen, mitzutrinken wirst Du ganz gewiss nicht ...
Zitat Der Zenmeister Wuzu Fayan aus der Provinz Qi hatte dank des Hohepriesters Haihui Shoudan vom Berg Baiyun in der Provinz Shu seine Untersuchung der großen Angelegenheit abgeschlossen und hatte Knochen und Mark tief durchdrungen. Shouduan machte ihn zum Verwalter der Mühle am Fuß des Berges. Jedes Jahr erhielt Fayan Geld für das Mahlen von Reis und Weizen. Er eröffnete eine Pfandleihe um Zinsen zu verdienen, stellte Arbeiter ein und abgesehen von Essensopfern ging das verbleibende Geld an den Tempel. Leute spionierten ständig Fayan hinterher und kritisierten sein Verhalten vor Shoudan, wobei sie behaupteten, Fayan verbringe seine Tage in der Mühle mit Weintrinken, Fleischessen und der Beköstigung weiblicher Gäste. Der ganze Tempel war in Aufruhr. Als Fayan dies hörte, kaufte er absichtlich Fleisch und Alkohol und hängte sie vor der Mühle auf; auch kaufte er Kosmetikartikel für seine weiblichen Freunde. Immer, wenn Zenmönche an der Mühle vorbeikamen, fasste Fayan die Frauen an, neckte sie und scherzte mit ihnen ohne jegliche Zurückhaltung.
Eines Tages ließ ihn Shoudan in die Gemächer des Abts kommen und befragte ihn, ob dies wahr sei, worauf Fayan ohne weitere Worte zustimmend nickte. Shoudan gab ihm plötzlich eine Ohrfeige. Fayans Gesichtsausdruck blieb unverändert und er machte eine Niederwerfung, als er ging. Shoudan tadelte ihn und sagte: "Geh einfach sofort". Fayan sagte: "Bitte wartet, bis ich meine Abrechnung und die Buchhaltung für meinen Nachfolger abgeschlossen habe."
Einige Tage später sagte Fayan zu Shoudan: "Abzüglich der Ausgaben für Alkohol und Fleisch verbleiben für das Tempelguthaben dreihunderttausend in bar." Shoudan war darüber sehr erstaunt und verstand, dass kleingeistige Leute lediglich auf ihn eifersüchtig gewesen waren.
aus: Dogen Zenji, Reine Vorschriften für die Tempelverwaltung (Chiji Shingi)