Himmelsbaum : offen gesagt empfinde ich Deine Darstellung von Riggs Essay als polemisch verkürzt. Leider wird auch nicht so recht deutlich, was Riggs Interpretation ist und was Deine.
Die gegenwärtige Ritualform und Interpretation des Gelübdenehmens (jukai) gehen lediglich auf die Mitte des Tokugawa-Shogunats (1603–1868) zurück. Zuvor wurden sie über einhundert Jahre intensiv diskutiert und schlussendlich gewann eine radikale Interpretation: das Nehmen der Gelübde birgt die Erleuchtung selbst in sich. Damit ist das Gelübdenehmen im Soto Zen Ausdruck des Endziels der Praxis anstatt ihr Anfang (S. 189).
Ein wenig komplexer ist es schon. Zentral in Riggs Essay ist ja die Rolle der Zen-Reformer, insbesondere von Manzan Dōhaku (1635-1715) und Menzan Zuihō (1683–1769) hinsichtlich einer 'Rückbesinnung' auf Dōgen - und dies in einem Umfeld, das durch den Impuls der in Japan neu installierten Ōbaku-shū geprägt war. Hinsichtlich jukai folgte der mainstream im Sōtō - so zumindest Riggs - vor allem der eher konservativen (und, wie Riggs zeigt, problematischen) Interpretation Banjin Dōtans (1698 - 1775), insbesondere hinsichtlich der Einheit von Zen und Gelübden (zenkai itchi).
Das merkwürdige, von Dir angeführte Zitat verdient etwas mehr Kontext. Zunächst ist das keine Aussage eines Sōtō - Lehrers (allenfalls eine indirekte, also kein wörtliches Zitat), sondern sie stammt vom Autor selbst und ist eine mE (mangels angeführter Belege) nicht ohne weiteres nachvollziehbare Interpretation: "Following the interpretation of Banjin, the precepts are not something to be carefully followed [Anmerkung: kein Beleg, kein Zitat Banjins, keine Fußnote o.ä. stützt diese Aussage]. Instead of considering how to observe the precepts in one's everyday life, one somehow keeps them without keeping them. I will skip over ... Instead I turn to ..." - Die Anfänge der auf die merkwürdige Aussage folgenden Sätze, um zu verdeutlichen, dass Riggs diesen kryptischen Satz nicht weiter erläutert und auch nicht belegt, dass eben dies gängige Auffassung im Sōtō - Zen sei. Das soll stattdessen seine Schilderung des Ablaufs einer modernen "Zen Precepts Assembly" im Eiheiji leisten. Für mich nicht nachvollziehbar. Zitat über diverse Kurzvorträge des 104-jährigen Abtes, die so vorgestellt werden:
"He gave short talks of up to ten minutes in the dharma hall, usually speaking to the ordinands about the meaning of what they were doing, teaching that Zen and the precepts are one and the same and that to receive the precepts is to become a buddha." Für mich würde daraus zunächst einmal gerade das Gegenteil folgen - nämlich "the precepts are something to be carefully followed." Ich komme später darauf zurück.
Zu der merkwürdigen Sache mit dem shōzai muryō: das Papier ist Teil einer speziellen Reuezeremonie (sangeshiki), in der der Ordinand all sein "uralt verstricktes karma" offenlegt und bekennt - gemeinsam in der Gruppe mit der Reueformel (zu diesem sangemon wie auch allgemein zu sange kann man hier im Archiv fündig werden) aber auch in Form eines kurzen, persönlichen Einzelbekenntnisses jedes Ordinanden, anlässlich dessen dem Leiter der Ordinationszeremonie das shōzai muryō überreicht wird. Das ist natürlich nur die 'Außenseite' des inneren Vorbereitungs- und Reinigungsprozesses der Ordinanden vor dem Empfang der Gelübde. Dieses shōzai muryō wird übrigens nicht verbrannt (das wäre eine recht alberne magische Handlung), sondern vielmehr das Register der Ordinanden, die künftig keine Ordinanden mehr, sondern Ordinierte sind. Lies es nach: "The register containing the names of the ordinands is burned before the abbot in a brazier, and the abbot tells the ordinands, that their transgressions have been entrusted to him and that he warrants, with his full authority, that those transgressions have been consumed in the fire."
Hier wäre nun tatsächlich etwas Interpretation zum Verständnis hilfreich gewesen: es ist natürlich nicht der Akt der Verbrennung des Namensregisters, der das vergangene Karma auflöst. Er symbolisiert lediglich die rückhaltlose Aufgabe des vergangenen Lebens, das einen Neuanfang ermöglicht. Die Auflösung vergangenen Karmas geschieht vielmehr zum Einen durch das rückhaltlose und vollstandige Bekennen und Bereuen (wie schon erwähnt ist der konkrete Kontext hier sangeshiki) und zum Anderen durch den Empfang der Gelübde.
Das oben angeführte Zitat ("one somehow keeps them without keeping them") fällt nun als indirektes Zitat am folgenden Tag unmittelbar nach der eigentlichen Ordination: "When all have been anointed, the abbot recites the precepts, and after each group [Anmerkung: 3 + 3 +10 Gelübde] the ordinands recite together "I will preserve them well". At the end of this part the abbot tells the ordinands that from now on, they begin again, living as a buddha, and that somehow they will keep the precepts even if they do not keep them." Der letzte Satz ist wohl kaum Teil des eigentlichen Ritus, was für mich das "somehow" ziemlich deutlich macht. Das wäre, wie wenn der Priester beim christlichen Abendmahl sagen würde "irgendwie ist das der wahre Leib unseres Herrn" ...
Es hätte dem Essay gut getan, wenn Riggs, der ja an der Zeremonie teilnahm, mit dem Abt gesprochen hätte, wie dieses "somehow" zu verstehen ist. Oder wenn er - "this ceremony clearly follows the line of thought that flows from Banjin's teaching" - speziell diesen "thought" mit einem Zitat Banjins belegt hätte, der ihn verdeutlicht. Nicht, dass das nun völlig unverständlich wäre - aber ein paar Jahre Zazen braucht es wohl schon dazu ...
Interessant, dass Riggs am Ende dieses Abschnitts ausdrücklich auf diesen Punkt aufmerksam macht: "Although the manual that was distributed to everyone at the beginning clearly says that to receive the precepts is to become a disciple of the Buddha, the ordinands themselves have become Buddhas." Da wäre es doch wünschenswert gewesen zu erfahren, wie sich beispielsweise der Abt zu diesem offensichtlichen Widerspruch (oder Missverständnis?) äußert. Und schließlich zum letzten Satz dieses Abschnitts: "They go forth in a new life, unburdened either by their past transgressions or the concern of trying to live up to a new standard." - da wären einige Aussagen der neu Ordinierten von Interesse, ob sie denn das selbst auch so sehen.
So viel zum Sōtō - "mainstream", wie ihn Riggs interpretiert. Man sollte nicht verschweigen, dass Riggs dies anschließend mit der Schilderung von "North American Sōtō Zen Precept Assemblies" kontrastiert. Pars pro toto in der Linie von Suzuki Shunryū (1905 - 1971), der nun sicherlich nicht dem japanischen Sōtō - "mainstream" zuzurechnen ist, wie auch Sawaki Kōdō (1880 - 1965) nicht. Dafür stehen diese beiden exemplarisch für einen westlichen Sōtō - "mainstream", der sich gerade in der hier zur Diskussion stehenden Frage nicht durch westliche Synkretismen auszeichnet, sondern durch explizite Bezugnahme auf Dōgen und die o.g. Tokugawa-Reformer. Ich will das jetzt nicht weiter ausführen (das Posting ist schon lang genug) sondern nur noch ein abschließendes Zitat anfügen: "this community has come to see the precepts as an aid to deepening one's commitment and expressing one's intention to follow a more Buddhist style of life. In this aspect the style of this American Sōtō group is much closer to the practice advocated by Menzan and other, more mainstream thinkers of the Tokugawa. The belief that we are already Buddha is acknowledged in the beginning of the ceremony with the phrase "In faith that we are Buddha we enter Buddha's Way", but the focus is on the meaning of the precepts and on how to follow them."