Beiträge von Thorsten Hallscheidt im Thema „Die Ich-Illusion. Nur eine Folge der Praxis?“

    Subjekt ist das, was nicht Objekt der Erwägung, des Betrachtens oder des Gehörens werden kann. Nichts überragt den grenzenlosen Geist, sagen wir im Zen. Wem sollte dieser grenzenlose Geist gehören? Dem beschränkten ICH mit all seinem Streben und seinen Befindlichkeiten? Wo findet alles Erwägen und alles Sein statt? Wo finden Subjekt und Objekt statt? Wo finden ICH und DU statt? Wo finden Welt und Zeit statt? Wo findet Erwachen statt?


    Was bedeutet in letzter Konsequenz grenzenlos? Diese Frage ist viel wichtiger.

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    Wenn man ein Gesicht an einer Plakatwand anschaut, sieht man, dass es aus Offsetdruck-Punkten aufgebaut ist. Beim Ich ist es ähnlich. Je genauer ich hinschaue, desto mehr merke ich, dass das, was ich für wesentliche Bestandteile dessen gehalten habe, was mein Bild von mir selbst ist, aus veränderlichen und leidvollen Phänomenen besteht, die alle Nicht-Ich sind, weil ich sie weder besitzen noch kontrollieren noch behalten kann. (Das bin ich nicht, das gehört mir nicht, das ist nicht mein Selbst. Quelle)


    Das genaue Hinschauen führt dazu, dass ich sehe, dass das Gesicht auf der Plakatwand aus Farbpunkten besteht, die alle Nicht-Gesicht sind. Der genaue Blick auf das Ich führt dazu, dass ich sehe, dass das Ich aus Phänomenen besteht, die alle Nicht-Ich sind.


    Die Praxis des genauen Hinschauens führt also nicht zu einer Ich-Illusion, sondern dazu, dass das Ich als zusammengesetzt erfahren wird wie das Gesicht auf der Plakatwand aus Punkten.


    Zusammengesetzt heißt aber nicht, dass auf der Plakatwand kein Gesicht zu sehen wäre. Es ist ein Gesicht zu sehen, nur besteht es aus etwas anderem, als ich zunächst angenommen hatte. Auch ein zusammengesetztes Ich ist existent, aber auf eine andere Art und Weise, als es erscheint. Es ist weder homogen noch unwandelbar noch ewig. Ein homogenes, unwandelbares und ewiges Ich ist Atman, dem Buddha nach dem genauen Hinschauen Anatman (anatta) gegenübergestellt hat. Das Ich existiert, aber es ist leer von inhärenter Eigenexistenz. Auf der Plakatwand ist etwas zu sehen, das ich Gesicht nennen kann, aber es besteht aus farbigen Punkten. Es ist also aus einer bestimmten Perspektive betrachtet ein Gesicht, aus einer anderen betrachtet sind da nur Punkte. Beides ist richtig und beides ist falsch, denn weder sind da nur kontextlose Punkte noch ist da ein wirkliches Gesicht. Punkte und Gesicht sind zwei Seiten derselben Münze. So auch beim Ich.

    Ich habe eine interessante Fußnote in der mittleren Sammlung nach der Übersetzung von Kay Zumwinkel gefunden:


    Zitat

    Im Pali gibt es zwei Begriffe, die so etwas wie "Person" bedeuten und von einigen Gelehrten fälschlicherweise als Synonyme betrachtet werden: puggala und sakkāya. Puggala ist eine neutrale Bezeichnung für die Individualität, die auch Erleuchtete haben, im Gegensatz zur Illusion von einer Persönlichkeit oder Ich-Identität – sakkāya. Wenn man diese beiden Begriffe gleichsetzt, dann muss man kommentarielle Verrenkungen vornehmen und die Lehre des Buddha im "konventionell gesprochen" und "letztlich wirklich gesprochen" einteilen. In den Suttas findet sich eine derartige Unterteilung nicht. Der Buddha hat immer nur auf eine Art gelehrt – nämlich "der Wirklichkeit entsprechend". Zur Unterscheidung im Deutschen wurde puggala mit "Person" und sakkāya mit "Persönlichkeit" übersetzt.

    aus "Die Lehrreden des Buddha aus der Mittleren Sammlung", Jhana-Verlag, Band 1, S. 112

    Das wäre dann wohl nach dem Wagenbeispiel die Benennung, der Begriff "Körper". Es ist aber eben nur ein Begriff und nicht die Sache die er bezeichnet. Der Körper ist ja kein Ich, es ist ein zusammengesetzter Körper. Also ist man nicht das was man wahrnimmt, man macht sich nur diesen Begriff.

    Nicht nur der Körper, sondern die 5 Skandha:


    Körperlichkeitsgruppe (skt./p. rūpa)
    Gefühlsgruppe (skt./p. vedanā)
    Wahrnehmungsgruppe (skt. samjñā, p. saññā)
    Geistesformationsgruppe (skt. samskāra, p. samkara auch: sankhāra)
    Bewusstseinsgruppe (skt. vijñāna, p. viññāna)


    Da gehören auch Wahrnehmung und Bewusstsein dazu. "Man" ist also nicht nur nicht das, was man wahrnimmt, sondern auch nicht das, was wahrnimmt, und auch nicht das, was sich dessen bewusst ist, dass es wahrnimmt. Aber in Abhängigkeit von allen entsteht der konventionelle Begriff "Ich". Dieser Begriff ist aber nicht nur der Bezeichner sondern auch das Gefühl, auf das sich der Begriff bezieht, nämlich das Bezeichnete zu sein.


    Das "Ich" ist weder als ein Teil der Skandha, noch als alle Skandha zusammen, noch außerhalb der Skandha zu finden, noch ist das "Ich" der Name der Skandha.


    Auch das Blatt, das am Horizont am Ast eines Baumes im Wind zittert, ist geschaffen in Abhängigkeit von den fünf Skandha, ist Form, Teil der Wahrnehmung, ist Bewusstwerdung, wird einem angeblichen Subjekt gegenüber konstruiert.


    Im Zen gibt es das Bild des Spiegels, der nicht nur Bilder sondern auch Töne, Gerüche, Tastempfindungen, Gefühle, Gedanken, Träume und Vorstellungen spiegelt. Dreidimensionaler Spiegel. Der Spiegel selbst hat keine eigenständige Substanz, er besteht nur aus den Spiegelungen. Auch das Gespiegelte hat keine eigenständige Substanz, es besteht nur aus dem Gespiegelt-Werden. Dabei ist aber der Spiegel nicht getrennt von dem, was er spiegelt. Die Dinge realisieren sich nur durch den Spiegel und der Spiegel realisiert nur sich durch die Dinge, entzündet sich an ihnen. Beide existieren nur in Abhängigkeit voneinander. Letztlich sind sie Nicht-Zwei, keine Antipoden, nicht Subjekt, nicht Objekt.

    Das lässt sich dadurch erkennen dass man nicht das ist, was man wahrnimmt.

    Zitat

    "Du bist, o König, fürstlichen Luxus und äußerste Bequemlichkeit gewöhnt. Wenn du daher zur Mittagsstunde im heißen Sande zu Fuße gehst und mit den Füßen auf den harten, steinigen Kiessand trittst, bekommst du wehe Füße, dein Körper ermattet, dein Geist wird verstimmt, und körperliche Schmerzgefühle machen sich geltend. Bist du denn zu Fuße gekommen oder mit einem Gefährt?"

    "Nein, o Herr, ich bin nicht zu Fuße gekommen, sondern mit dem Wagen."

    "Nun, wenn du mit dem Wagen gekommen bist, o König, so erkläre mir denn, was ein Wagen ist! Ist wohl vielleicht die Deichsel der Wagen?"

    "Nicht doch, o Herr!"

    "Oder die Achse?"

    "Nicht doch, o Herr!"

    "Oder sind die Räder, oder der Wagenkasten, oder der Fahnenstock oder das Joch, oder die Speichen, oder der Treibstock der Wagen?"

    "Nicht doch, o Herr!"

    "Dann sollen wohl diese Dinge, alle zusammen genommen, der Wagen sein?"

    "Nicht doch, o Herr!"

    "Oder soll etwa gar der Wagen außerhalb dieser Dinge existieren?"

    "Nicht doch, o Herr!"

    "Ich mag dich fragen, wie ich will, o König: den Wagen aber kann ich nicht entdecken. Soll etwa das bloße Wort <Wagen> schon der Wagen selber sein?"

    "Nicht doch, o Herr!"

    "Nun, was ist denn dieser Wagen? Eine Unwahrheit sprichst du, o König, eine Lüge, denn der Wagen existiert ja gar nicht. Du bist doch, o König, der oberste Herr über ganz Indien. Aus Furcht vor wem lügst du denn da? Hört mich an, ihr fünfhundert Griechen und zahlreichen Mönche! Dieser König Milinda behauptet, mit einem Wagen gekommen zu sein, doch auf meine Bitte hin, mir zu erklären, was ein Wagen ist, kann er mir einen solchen nicht nachweisen. Kann man so etwas wohl billigen?"

    Auf diese Worte spendeten die fünfhundert Griechen dem ehrwürdigen Nāgasena ihren Beifall und sprachen zum König Milinda: "Nun antworte, o König, wenn es dir möglich ist!"

    Und der König sprach zum ehrwürdigen Nāgasena:

    "Ich spreche durchaus keine Lüge, ehrwürdiger Nāgasena. Denn in Abhängigkeit von Deichsel, Achsel, Rädern usw. entsteht die Benennung, die Bezeichnung, der Begriff, die landläufige Ausdrucksweise, das bloße Wort <Wagen>."


    Quelle


    Warum sollte "Ich" also nicht auch in Abhängigkeit von Wahrnehmung bestehen?