Beiträge von Thorsten Hallscheidt im Thema „LGTB+ und Buddhismus“

    Ich habe nun das Heft durchgelesen. Für mich persönlich gehen allerdings die Forderungen, Beschreibungen und Probleme, die in den verschiedenen Artikeln dargestellt werden nicht über manche andere Partikularinteressen hinaus, die sicher aus der Binnenperspektive ihre Berechtigung und herausragende Wichtigkeit haben. Schutzraum, Selbstfindung, Diskriminierung... das betrifft viele Gruppen (Süchtige, Alleinerziehende, Migranten, Dicke, Kranke, Arbeitslose, Kriminelle, Gewalttätige, u.s.w.)


    Für mich bleibt die Frage bestehen, ob ein buddhistisches Zentrum grundsätzlich diesen Partikularinteressen und -problemen Rechnung tragen sollte. Wahrscheinlich werden sich bei Bedarf einfach solche Gruppen bilden. Ob der Buddhismus attraktiver dadurch wird, dass er von vornherein Angebote für bestimmte Gruppen von Menschen macht? Wer sich von der buddhistischen Lehre angezogen fühlt, der möchte wahrscheinlich zunächst einmal – egal aus welcher Gruppe oder Milieu er oder sie stammt, eine Welt der Ruhe und der Entspannung finden, in der die Probleme unserer irrwitzigen Zeit zeitweise in den Hintergrund treten. Erst im zweiten Schritt kommen wahrscheinlich die Fragen von Identität und Anhaftung, Ethik und Befreiung auf.


    Ich finde es wichtig, dass dieses Thema – wie einige andere – gesamtgesellschaftlich diskutiert wird. Speziell bezüglich der buddhistische Lehre sehe ich da nicht so viel Relevanz, da hier grundsätzlich schon jede Art von Diskriminierung, Wertung und Vorurteil recht weit oben auf der Agenda der zu unterlassenden Verfehlungen stehen.


    Off-Topic: Während des Lesens ist mir eine Gruppe ins Bewusstsein getreten, von deren Diskriminierung ich bisher nur sehr wenig gelesen oder gehört habe, die aber wahrscheinlich sehr massiv ist. Es sind die Leute, die sich den Buddhismus zum großen Teil nicht leisten können. Buddhismus ist, zumindest wie ich ihn hier in Deutschland kennengelernt habe, in der Hauptsache ein Phänomen der finanziellen Mittelschicht bis Oberschicht. Die Angebote verschiedener Buddhistischer Gruppen sind für einen Hartz IV Empfänger kaum zu stemmen. Klar, es gibt die Mönche, die von sehr wenig leben. Ich meine hier eher die Laienanhänger, die sich den Kurs, den Vortrag oder das Sesshin einfach nicht leisten können.

    Die Beispiele, die Du genannt hast machen für mich Sinn.


    Problematisch wird es nur, wenn vor lauter special interests der Sangha zersplittert. In manchen Dojos treffen sich regelmäßig zwischen 10 und 20 Personen. Wenn man diese vergleichsweise kleinen Gruppen noch in unterschiedliche Untergruppen teilen würde, würden manche wahrscheinlich an manchen Tagen alleine sitzen. Insofern ist es eine Frage der Praktikabilität und des Gesamteffekts auf den Sangha, ob derartige Ansätze Sinn machen. Im Zenkloster in Weiterswiller, bei dem ich regelmäßig an Retreats teilnehme, gibt es auch verschiedene Angebote, die unterschiedliche Interessengruppen ansprechen. Die Sesshins aber sind nicht nach solchen Gruppen geteilt. Im gemeinsamen Praktizieren, sofern es sich um Meditation handelt, sollte es vielleicht keine Aufteilung geben, oder?

    Wieso werden queere buddhistische Gruppen beurteilt (und sogar kritisiert), während niemand das bei einer Frauengruppe machen würde?

    Wenn es eine queere Gruppe geben sollte, warum dann nicht auch eine für Farbige, für alleinerziehende Mütter oder Väter, für Hochbegabte, für Rentner, für Studierende, für Arbeitslose, für ehemalige (und aktive) Alkoholiker, Drogenabhängige, Rollstuhlfahrer, Professoren, Künstler, reiche Menschen, arme Menschen u.s.w. ? Jede dieser Gruppen hat ein spezielles Dukkha-Profil und könnte so auf die jeweiligen milieuspezifischen Probleme und Herausforderungen zugeschnitten den Dharma praktizieren. Wäre das ein Ziel?


    ...im Grunde, warum nicht?


    Ich fände es schade, weil gerade durch die Vielfalt an Menschen in Dojos und Tempeln sehr viele unterschiedliche Blickwinkel auf den Dharma und die Wirklichkeit zusammenkommen. Austausch und Erfahrung des Anderen finde ich besser als Separierung.

    Hallo Dharma Buddy.


    Danke für Deine ausführliche Antwort.

    Die "Identifikation mit einem Label" ist keine Frage von Lifestyle sondern für die meisten queeren Menschen das Ergebnis eines oft schmerzhaften Prozesses der Selbstakzeptanz. Es ist sogar die Voraussetzung für eine Lebensgestaltung, von Liebe und Partnerschaften. Ich glaube, Du wirst in dem Heft einige Artikel finden, die sich damit beschäftigen.

    Ich hatte geschrieben, dass es auch um Gruppenzugehörigkeit, milieu-spezifische Ästhetik und Lifestyle geht, da mir durchaus bewusst ist, dass es sich auch um einen schmerzhaften Prozess der Selbstakzeptanz handelt.


    Vielleicht muss ich meinen eigenen Background etwas beleuchten: Meine Mutter hatte ihr coming out als ich zwölf war und zwar auf dem Land vor fast vierzig Jahren. Das war kein Vergnügen. Auch bei einem meiner bis heute besten Freunde aus der Jugendzeit habe ich den Prozess der Selbstfindung (er ist irgendwo zwischen homo und bi) und all die Probleme, die damit zusammenhängen, sehr genau und (wortwörtlich) hautnah miterleben dürfen (:. Schließlich waren und sind die Kunsthochschulen, wo ich studiert habe, Orte, an denen sexuelle Orientierung und Identität eine besondere Rolle spielen. Viele meiner Freunde und Bekannte dort würden sich irgendwo zwischen LGTBQ+ verorten. Ich selbst habe auch gesucht und vieles ausprobiert. Lange Zeit hat mich Geoge Bateille sehr fasziniert, denn je genauer ich mich mit meiner eigenen sexuellen Identität beschäftigt habe, desto vielfältiger und (nicht zuletzt) abgründiger wurde das, was ich vorgefunden habe. Mit anderen Worten: für mich ist die Präsenz von queeren Menschen tatsächlich totaler Alltag, fasst schon mein Leben lang. Dass ich selbst nicht queer bin... ich habe meine eigene Sexualität als schillernd erlebt, und würde mich auch einer Zuschreibung von hetero oder bunt oder sonstwas verweigern.


    Identität ist daher für mich etwas, das nie den gegenwärtigen Status meiner Person beschreibt. Es ist eine Erzählung, die ich mir von mir selbst mache, wenn ich vergangene Erfahrungen und Vorstellungen zu einer "Persönlichkeit" zusammensetze. Aber das ist nichts festes, unveränderliches, und meist ist die Erzählung ohnehin unvollständig und über weite Teile falsch. Daher glauch ich nicht, dass Identität "die Voraussetzung für eine Lebensgestaltung, von Liebe und Partnerschaften ist". Im Gegenteil. Liebe und Partnerschaft gedeihen dort, wo Identität zu Beziehung wird – zu einem Sich-in-Beziehung-setzen. Das ist ein Zustand, in dem das, was ich bin, nicht länger von Vorstellungen, dieser oder jener zu sein, und daraus resultierenden Erwartungen an mich oder andere geprägt wird, sondern von meiner Beziehung zur Wirklichkeit. Ändert sich die Wirklichkeit, verändere ich mich – verändere ich mich, verändert sich die Wirklichkeit.


    Sicher ist es wichtig, dass Menschen herausfinden, wer sie sind, dass sie vielleicht auch soetwas wie eine Identität entwicklen. Aber mindestens genauso wichtig ist es, da nicht stehen zu bleiben. Wenn Menschen nach ihrer Identität suchen, und das habe ich bei mir und vielen anderen erlebt, so ist das ein Prozess, der vor allem auf Trennung und Abgrenzung ausgerichtet ist: Ich bin anders als andere Menschen. Das hat zumindest bei mir dazu geführt, dass ich andere gesucht habe, die ähnlich anders waren wie ich – und Leute verachtet habe, die nicht so waren wie ich oder das neue Gruppen-Wir, dem ich mich zugehörig gefühlt habe. Es gab Codes und Klamotten, bestimmte Gewohnheiten und Musik, die definiert haben, wie anders wir waren. Das habe ich auch bei meinen Freunden aus der LGTBQ+ Gemeinde genau so erlebt. Dort gab es ebenso Gruppenidentifikationen, die andere ausgeschlossen haben, ganz einfach, weil da unter anderem Themen verhandelt wurden, an denen andere keinen Anteil haben sollten und vielleicht auch nicht konnten. Als Mensch, vor allem als Künstler, ist es scheinbar ungeheuer wichtig eine Persönlichkeit zu haben, einen Stil, eine Form von definierbarem Produkt und Sein. Soweit so gut...


    Aus der Lehre des Buddha habe ich etwas für mich wichtiges mitgenommen: Identität ist eine leiderzeugende Illusion. Das, was ich bin, entsteht in jedem Augenblick neu aus Ursachen und Umständen, aus Beziehungen zur Wirklichkeit. Eine Kontinuität gibt es nur aufgrund von Vorstellungen und Gewohnheiten, die aber über weite Teile illusionär, leidhaft und veränderbar sind. Das ist eine ungeheuer entlastende Erkenntnis. Ich bin persönlich ;) heilfroh, dass ich niemand mehr sein muss, dass es einfach unwichtig ist, wer oder was ich bin.


    Ich persönlich halte es für völlig unrealistisch zu glauben, wir Menschen seien frei von Identitäten oder könnten sich davon befreien. Das würde ja im Endeffekt auch bedeuten, große Teile unserer Kultur zu transzendieren. Wir uns vielleicht als "aufgeklärt", "demokratisch", "Buddhist:in", "hetero", "schwul", "Ehemann", "Vater" usw.

    Genau das bedeutet es auch. Wir Menschen sind nicht frei von Identitäten, aber wir können es bis zu einem gewissen Grad werden. Es ist völlig unbedeutend, ob Du Dich als "aufgeklärt", "demokratisch", "Buddhist:in", "hetero", "schwul", "Ehemann", "Vater" bezeichnest. Das sind alles lediglich Vorstellungen, die nur in Relation zu anderen Vorstellungen Wirklichkeit entwickeln. Entscheidend ist, wie Du im jeweiligen Augenblick handelst.

    Zitat

    Eine Identität z.B. als "Ehemann" bedeutet, sich zu einer Beziehung zu bekennen, Verantwortung zu übernehmen, das Leben auf eine langfristige Beziehung zu zweit auszurichten.


    Das hat mit dem Label "Ehemann" nichts zu tun, sondern damit, mit einem anderen Menschen in eine Beziehung zu treten, bei der die sogenannte "Identität" vor dem In-Beziehung-Sein in den Hintergrund tritt. Sich also immer wieder wieder neu in der Beziehung mit dem anderen verändern lassen.


    Wir können aber nicht auf die Label verzichten. In dem Heft schreiben vier Menschen, die sich als nicht-binär definieren, u.a. ein Monastic. Was würde denn passieren, wenn wir auf die Label verzichten? Gerade dieser Aspekt wird unsichtbar. Zurück bleiben nur die Kategorien unser Kultur, die christlich geprägt ist: "Gott schuf den Menschen als Mann und Frau". Für alles andere hat unsere Kultur noch nicht mal Begriffe.

    So, so. Weil die beiden Label "Mann" und "Frau" also zu eingrenzend sind, ist es sinnvoll, einfach noch ein paar neue zu erfinden? Gerade die Label, die Vorstellungen und Kategorien sind es doch, die uns eingrenzen, unfrei machen und determinieren. Lies mal "Sexualität und Wahrheit" von Michel Foucault. Foucault analysiert hier sehr anschaulich, wie man angefangen hat im späten 18. Jahrhundert (bis heute) in der Psychologie Sexualität in verschiedene mehr oder weniger pathologische Kategorien zu unterteilen. Und das diente und dient vor allem einem Zweck: die Gesellschaft (die kapitalistische Macht bei Foucault) bekommt Kontrolle über den freien (und somit bedrohlichen und nutzlosen) Sex, und kann sich so diese stärkste aller Energieen im kulturellen und wirtschaftlichen Wertschöpfungsprozess dienlich machen. Begriffe sind sehr ambivalente Erfindungen: So nützlich sie auch sind, Sachverhalte zu benennen, so leiderzeugend sind sie, wenn sie dazu führen, dass ich sie mit der Realität verwechsele.


    Hier die Bunten, da die Grauen. Hier die Homos, die Heteros. Hier die Norm, da die Abweichung. Genau das führt zu Leid, Aggression und Trennung. Dabei sind das nur Begriffe, die einzig eine relative Bedeutung haben.

    Extreme linkspolitische Strömungen hängen diesem Ideal an und streben gesellschaftliche Gleichheit an.

    Nun ja, dabei geht es ja vor allem um Chancengleichheit, nicht darum, dass wir alle die glechen Menschen werden. Problematisch wird die Chancengleichheit dann, wenn auch eine Ergebnisgleichheit gefordert wird – wenn also jeder, der die gleichen Chancen hat, glaubt, damit auch das gleiche Ergebnis erreichen zu können. Dafür sind wir tatsächlich viel zu unterschiedlich. Der große Gleichmacher ist auch nicht die Politik. Das machen die Menschen schon selbst, indem die meisten einander gleichen wollen.


    Der Kapitalismus schafft so immer neue Bedürfnisse, mit denen sich jeder von der Masse abheben kann. Wenn sich aber jeder mit der gleichen Produktpalette von den anderen abheben möchte, ist das Ergebnis dann doch eine große Gleichschaltung. So sind die Mobiltelefone zwar äußerlich recht unterschiedlich (unterschiedlich genug, um damit Neid bei anderen auslösen zu können), aber da die meisten Menschen Smartphones nutzen (wollen oder müssen), ist der Grad von Gleichmacherei doch im Vergleich zu Individualisierung deutlich höher. Das lässt sich auf viele Lebensbereiche übertragen: Mobilität, Wohnen, Mode, Essen, Sex auch LGTBQ -> Klick


    Wie unterschiedlich wären wir, wenn wir wirklich frei genug wären, um unterdrückungsfrei unterschiedlich zu sein? Die Unterdrückung unserer tatsächlichen Unterschiedlichkeit durchdringt alle Ebenen von der staatlichen Gesetzgebung bis hinein in die Psyche. Ich denke LGTBQ würde bei echter Freiheit bei weitem nicht reichen, um die Bandbreite der sexuellen Orientierungen zu fassen. Letztlich geht es auch bei LGTBQ auch um Gruppenzugehörigkeit, Milieu-spezifische Ästhetik und Lifestyle, so individuell es auch auf den ersten Blick daherkommt.

    Für queere Menschen ist Dukkha häufig anders als für andere.

    Anhaftung, Ablehnung und Unwissenheit. Was ist hier für queere Menschen anders? Ich könnte auch sagen, für Künstler sind die Ausprägungen von Dukkha andere – oder für Manager, Arbeitslose, Politiker, alte Menschen, Kinder, Soldaten, etc. ... Letztlich äußert sich Dukkha doch bei jedem Menschen anders aufgrund seiner oder ihrer karmischen Voraussetzungen, oder?


    Die Identifikation mit einem Label (ich bin der und der, ich gehöre zu dieser oder jener Gruppe, ich bin anders als die anderen) ist ebenfalls Ausdruck von Dukkha.


    Ich bin sehr froh, dass in immer weiteren Teilen der Bevölkerung die große Bandbreite sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität normal geworden ist. Das ist ein riesiger Fortschritt im Vergleich mit den 60er Jahren, als homosexuelle Praxis in Deutschland unter Strafe stand und z.T. noch durch Gefängnis geahndet wurde (bis 1969!). Erst 1994 würde der entsprechende Paragraph 175 gestrichen.


    Nun ist LGBTQ sehr sichtbar geworden und erfährt breite Akzeptanz. Vielleicht ist nun der nächste Schritt, dass es normal wird, d.h. so normal, dass es nicht weiter auffällt. Nicht, weil die sexuelle Identität versteckt werden müsste, sondern weil es keinen Anlass mehr gibt, sie in den Vordergrund zu stellen. Meine eigene sexuelle Orientierung spielt für mein Umfeld keine Rolle. Ich definiere mich nicht darüber noch werde ich von anderen darüber definiert. Es wäre für mich persönlich sehr bizarr, wenn es anders wäre.


    Aber vielleicht gibt es auch noch viele Formen der Diskriminierung, die ich nicht wahrnehme, so dass die öffentliche Demonstration einer von der Norm (welche eigentlich?) abweichenden sexuellen Orientierung oder Identität in Deutschland noch notwendig ist. Kannst Du dazu was sagen?