Beiträge von Thorsten Hallscheidt im Thema „Der Karmapa, Missbrauchsvorwürfe, eine Initiativen von Karma Kagyüs“

    Moin Sonny Rocket

    Ich war einmal bei einem Vortrag von ihm, der damals einiges in mir ausgelöst und bewegt hat und in manchen Facetten bis heute noch wirkt. Ich erinnere mich auch, dass ich die Überinszenierung seiner Person – der riesige Thron und die ganze Entourage – befremdlich fand. Im Gegensatz dazu hat er auf Fragen aus dem Publikum sehr lebensnah, zugänglich und freundlich reagiert.

    Die sicher sehr ehrenwerten Leute von der Karma-Kagyü-Initiative haben offensichtlich nicht verstanden, wo das Problem liegt - die 'Krankheit'. Eine solche 'Sangha' lässt sich nicht heilen. Worum es da wirklich geht, kann man eigentlich schon seit 2011 wissen. Mein Rat wäre: sucht euch eine Übungsgemeinschaft, in der ihr nicht eine Schafherde seid, die sich willig scheren lässt. Was wollt ihr da noch?

    Hiermit diskreditierst Du mal eben eine ganze Traditionslinie, Marpa, Mahamudra, Milarepa... Und das offenbar noch zu Zufriedenheit vieler hier. Kein Wunder, dass so viele, die sich dem tibetischen Buddhismus zurechneten, dieses Forum verließen. Anfangs fand ich diese Reaktion übertrieben. Nun merke ich am veränderten Klima, dass dem wohl nicht so war. In diesem Thread ist gut nachvollziehbar, wie Missbrauchsskandale dazu verwendet werden, religiöse Strukturen insgesamt infrage zu stellen. Respekt vor buddhistischen Linien, die der eigenen Weltsicht fremd sind, sieht anders aus.


    Das veränderte Klima hier zeigt sich für mich vor allem daran, dass weniger aus der buddhistischen Lehre heraus und viel mehr über traditionelle Formen des Buddhismus geschrieben wird – und zwar vor allem aus einer säkularen Perspektive, die sich generell an religiösen Strukturen abarbeitet.

    Die Praxis ist das Zentrum der buddhistischen Lehre, eine Praxis, die im achtfachen Pfad ihre Verwirklichung findet. Die verschiedenen buddhistischen Linien haben diverse Strategien hervorgebracht, das Erwachen zu ermöglichen. Zum Teil stammen diese Strategien aus anderen Zeiten und anderen kulturellen Kontexten. Bei aller berechtigter Kritik verdienen diese Schulen dennoch Respekt und auch die Mühe, sich mit den Inhalten dieser Schulen auseinanderzusetzen, bevor man sie anhand von Skandalen und Missständen herabwürdigt.


    Das vajrayāna kann ein ungeheuer effizientes Mittel sein, aber es ist eben auch ein gefährliches Fahrzeug, das nicht ohne Grund bis vor wenigen Jahrzehnten nur im Geheimen weitergegeben wurde. Wenn nun die Werkzeuge dieses Fahrzeugs von unvorbereiteten, schlecht informierten, spirituell kaum gefestigten, psychisch instabilen, in den Sila nicht gefestigten Personen ausgeübt wird, ist vollkommen klar, dass das zu Leid, Verwirrung und Elend führen muss. Aber damit ist dieses Fahrzeug nicht weniger wirksam oder respektabel. Der tibetische Buddhismus ist uns sehr fremd. Seine kulturellen Ausprägungen sind befremdlich, teils gefährlich und entsprechen in vieler Hinsicht nicht den exotisch-bunten Hippie-Fantasien, die viele zu spirituellem Hyperkonsum und Eskapismus einladen, bei dem man Initiationen sammelt wie Abziehbildchen.


    Respekt bedeutet aber, sich diesen kulturellen Ausprägungen nicht ausschließlich mit eurozentrisch-wokem Wertekanon des dekadenten Spätkapitalismus zu nähern, sondern das Fremde auch unvoreingenommen als fremd zu betrachten, mit aller gebührender Vorsicht. Immerhin hat der tibetische Buddhismus über Jahrhunderte höchst wirksame psychologische Mechanismen hervorgebracht, die man ebenso wenig mal eben konsumieren kann, wie man ein Krebsmedikament zum Vergnügen verspeisen würde. Die tantrischen Initiationen, Guruyoga, Mahamudra und Dzogchen sind solche Werkzeuge. Werkzeuge – kein Schmuck, den man sich umhängt, kein exotischer Adrenalinkick, den man sich im buddhistischen Zentrum um die Ecke mal eben zu Gemüte führt.


    Die tantrischen Traditionen, Techniken und historischen Gestalten (wie auch die Lehrer, die in ihrer Tradition ausgebildet sind) sind in ihrer Radikalität, Abgründigkeit und Paradoxie tatsächlich zum Teil mit unserem westlichen Werteverständnis überhaupt nicht vereinbar. Das macht sie aber nicht wertlos, disfunktional (im Sinne des Erwachens) oder "böse". Man sollte nur sehr genau beachten und wissen, auf was man sich einlässt, wenn man denn unbedingt diesen Weg zum Erwachen gehen möchte. Es ist aber unter Buddhisten und solchen, die Buddhismus konsumieren, oft wenig angesagt, sich intensiv mit einer kulturellen Technik und ihren philosophischen, psychologischen und sozialen Hintergründen auseinanderzusetzen. DAS hingegen könnten die Dharmazentren tatsächlich ändern. Es müsste einen umfangreichen Dharma-Führerschein für die Anwendung buddhistischer Techniken geben, bevor sich die Menschen in Abhängigkeiten und psychologische Abenteuer stürzen. Aber dann würde die Attraktivität dieser Techniken und Kulturen sicher bald gegen Null gehen.


    Beides keine guten Ideen: Kinder spielen mit Waffen, Wellness-Buddhisten spielen mit Tantra- und Vajrayāna.

    Insofern kann man da lange warten und es wird also quasi immer nötig sein, Druck von Außen - eben durch die öffentliche Diskussion von nicht gerichtlich bewiesenen Gerüchten - auszuüben.

    Das klingt fast so, als wäre eine ständige öffentliche nicht-buddhistische, säkulare Instanz, die Gerüchte und Verdachtsfälle bespricht und beurteilt, notwendig, um die Würdenträger der jeweiligen Institutionen von Ausschweifungen, Missbrauch und Korruption abzuhalten. Denkt ihr nicht, dass es auch sehr im ureigensten Interesse der Menschen dort liegt (Ehrenamtliche und Lehrende, die ihr ganzes oder einen großen Teil ihres Lebens der Weitergabe der Lehre widmen), die zehn unheilsamen Handlungen zu vermeiden, um den Buddhaweg zu gehen? Es mag naiv klingen, aber ich glaube, dass die allermeisten Praktizierenden, Helfenden und Lehrenden diesen Weg eingeschlagen haben, weil sie von seiner Bedeutung, heilsamen Kraft und Richtigkeit bis ins Tiefste überzeugt sind, sodass alle drei Gruppen von sich aus schon alles versuchen werden, Buddha, Dharma und Sangha vor inneren wie äußeren Gefahren zu schützen, auch ganz ohne öffentliche Kontrollinstanz.


    Hier entsteht aber etwas der Eindruck, als würden es in Dhamazentren nur so von liederlichen Lustmönchen und korrupten Geldhaien wimmeln, die sich gegenseitig dabei behilflich sind, die devoten Idioten aus dem Westen abzuziehen...


    Ich habe aber im Gegenteil selten freundlichere und friedlichere Menschen getroffen als in den diversen Zentren der verschiedenen Traditionen, die ich im Laufe meines Lebens besuchen durfte. Das bedeutet nicht, dass mir nicht auch immer wieder Dinge störend aufgefallen wären, oder dass es keine Skandale gegeben hätte – aber unter dem Strich bleibt doch für mich wenigstens der Eindruck, dass in so einem Zentrum eine Menge Menschen mit viel Engagement, Opferbreitschaft und Mühe zusammenkommen, um sich selbst und die Welt etwas besser zu machen. Ich sehe viel mehr redliches und begeistertes Tun als Missbrauch, Vertuschung oder Arroganz.


    Die Augen sollten wir keinesfalls verschließen, nicht vor den Fällen von Missbrauch und Gewalt, aber auch nicht vor den unzähligen Taten von den Vielen, die solche Zentren und deren positive Wirkungen überhaupt erst möglich machen.

    Ja, aber leider hat das offenbar im vorliegenden Fall nicht funktioniert ("Protektion" durch "Gönnerin" und die anderen Lamas - wenn's denn stimmt...)

    genau: wenn`s denn stimmt. Das ist der entscheidende Punkt.


    Es gibt hier eine elegante Formulierung um das Problem zu beschreiben, ohne im Zweifelsfall ungewollt Schaden zu verursachen: Es gibt den bestätigten Fall A und B, es ist aber davon auszugehen, dass die Dunkelziffer höher ist, weil Abhängigkeiten, tradiertes Rollenverständnis, Hierarchien und Angst vor Gesichtsverlust strukturell Missbrauch, Verdrängung und Vertuschung fördern können. Daher ist es wichtig, dass die entsprechenden Institutionen diese Probleme durch unabhängige Gremien und tiefgreifende strukturelle Veränderungen (im Besonderen a), b) und c) ) in den Griff kriegen.

    Wie sollte man mit solchen Fällen umgehen?


    Innerhalb der entsprechenden Institutionen das Problem benennen und angehen. Im Zweifelsfalle von außen auf eine Institution zugehen, um Aufarbeitung zu ermöglichen oder zu erzwingen. In jedem Fall aber nicht auf einen Verdacht hin eine öffentliche Debatte losschlagen, weil man damit unter Umständen mehr Schaden anrichtet als Nutzen entsteht. Die öffentliche Debatte ist (durch die derzeitige Kultur der Empörung) eine Waffe in diesen Fällen und sollte mit Bedacht und nur dann eingesetzt werden, wenn andere Mittel versagen.

    Man kann nur beiden Seiten die Möglichkeit geben, Stellung zu nehmen und dann versuchen, sich möglichst unvoreingenommen selbst eine Meinung zu bilden.

    Nicht ganz, denn die öffentliche Diskussion über einen Verdachtsfall bedeutet ja schon eine Schädigung für den, der solch eines Verbrechens verdächtigt wird, ist also nicht neutral. Daher ist es meiner Ansicht nach angemessener, nur über solche Fälle öffentlich zu diskutieren, die in juristischem Sinne bewiesen sind.

    Wir könnten dem Zentrum und dem Lama ja anbieten, sich hierzu hier zu Wort zu melden, um uns ihre Sicht mitzuteilen.

    Ja, klar. Könnten wir. Versuchen wir´s.


    Und wenn Zentrum und Lama sich dazu nicht bereit erklären, ist die Sache eindeutig, nicht wahr? Und wenn sie sich äußern, ist es eh gelogen, oder? Auf so einen Verdachtsfall gibt es keine angemessene Art zu reagieren. Das ist der Grund für die generelle Unschuldsvermutung bis zum Gegenbeweis vor Gericht, genau dieses Dilemma.


    Ein Jugendfreund von mir war mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe während einer Party eine Bekannte von ihm vergewaltigt. Beide waren schwer betrunken, und es war nicht klar und wurde nie aufgeklärt, was wirklich passiert ist. Trotzdem: Er war in seinem Freundeskreis und im Job geliefert und musste schließlich die Stadt und das Land verlassen, und auch bei mir hat der reine Verdacht damals schon ausgereicht, schon fast automatisch auf Distanz zu gehen. Ich weiß bis heute nicht, was passiert ist, ob er schuldig war oder nicht. Ich weiß aber, dass der Verdacht schon reicht, einen Menschen zu ruinieren.

    Tja. Jetzt ist also diese Geschichte im Raum. Und jetzt?


    Wir wissen nicht, was wirklich geschehen ist. Wir wissen nicht, ob der Lama tatsächlich einen Missbrauch begangen hat oder ob das potenzielle Opfer aufgrund einer narzisstischen Kränkung etwas Derartiges vielleicht nur so empfunden – oder erfunden – hat. In jedem Fall ist der Verdacht öffentlich. Und das reicht ja schon, um eine ganze Linie, eine ganze Tradition zu diskreditieren. In solchen Fällen gilt merkwürdigerweise nicht der Täter als unschuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Der Schaden entsteht schon mit dem reinen Verdacht, denn "es muss ja etwas dran sein, wenn so ein Verdacht überhaupt entsteht", oder? Der Verdacht wird immer weiter getragen, auch ohne Beweise. Aus einem "vielleicht hat er" wird ein "bestimmt hat er". Aus einem möglichen Täter wird das strukturelle Problem einer ganzen Tradition und deren Praxis.


    Und wie schnell steckt derjenige, der relativiert und hinterfragt, mit den potenziellen Tätern und denen, die deren Taten vertuschen, unter einer Decke? Wie schnell wird behauptet, man nähme Täter in Schutz und verachte die Opfer? Wie schnell wird man selbst Opfer von Shitstorm und Verdächtigung, wenn man nicht bereit ist, ohne hinreichenden Beweis aufgrund von Verdacht und Gerücht moralische Empörung zu teilen?

    Aber es ist schon schwierig, wenn es um ein Zentrum geht, das man selbst kennt und sehr wertschätzt...

    Man neigt dann eher dazu, ZUNÄCHST die Person infrage zu stellen, welche die Vorwürfe erhebt, was bei allen Fällen von Missbrauch zur Folge haben kann, dass (auch vom Opfer) vertuscht wird....

    Ich mag das tibetische Zentrum in Hamburg, das stimmt, aber ich bin zum Zen gewechselt, weil ich mit einigen Dingen dort (und im tibetischen Buddhismus) für mich (!) nicht einverstanden war. Ich habe mich auch gerne während des Studiums dort mit den Lehrenden und Verantwortlichen angelegt, wenn ich der Meinung war, etwas würde nicht den rechten Weg gehen. Nun hat sich ja auch herausgestellt, dass gar nicht das Zentrum gemeint war, das ich kenne. Dennoch würde ich ebenso nach Belegen fragen wollen.


    Da steht ein Vorwurf im Raum und es folgt die - absolut - berechtigte Frage nach "konkreten Belegen" . Danach allerdings ein "In-Frage-Stellen" desjenigen, der die Vorkommnisse publik gemacht hat ("Wes Geistes Kind bist du?").

    Das bezog sich auf den Dreiklang "unsympathisch, schmierig, schwul". Egal, um wen es sich handelt: Ich halte diese Art der "Charakterisierung" für unzulässig.


    Ich bezweifle, dass dieses Forum der geeignete Platz ist, konkrete, aber ungeklärte Fälle von Missbrauch zu lösen.

    Ja, absolut, das sehe ich auch so!

    _()_

    Einmal hatte ich eine knifflige Frage, welche das Äußerst Subtile Sinken bei der Meditation betrifft. Ich tue mich mit Englisch ziemlich schwer, machte mir aber die große Mühe, über zwei Stunden lang an einer E-Mail auf Englisch an ihn zu feilen, bevor ich sie abschickte. Das war damals ziemlich schwierig für mich, weil ich ein äußerst stressiges Leben hatte und das Schreiben dieser E-Mail mich zusätzlich stresste. Seine Antwort war: ich solle gefälligst praktizieren und nicht solche blöden Fragen stellen.

    Bei einem "äußerst stressigen Leben" musst Du Dir über subtiles Sinken in der Meditation keine Gedanken machen. Da fehlt es ja schon an der Grundlage für grobes Sinken. Es ist im tibetischen Zentrum üblich und möglich, Fragen auf Deutsch zu stellen. Die deutschen Lehrenden dort übersetzen die Fragen dann gleich ins Tibetische. Oliver Petersen oder auch Bhikṣuṇī Sönam Chökyi z.B. spechen sehr gut Tibetisch. Zudem ist auch die Antwort des Geshe äußerst unglaubhaft, weil die gerne jeden Anlass und jede Frage nutzen, um lange über verschiedene Themen des Dharma zu lehren. Der Ausdruck "blöde Frage" kommt da einfach nicht vor, selbst wenn es zu sehr blöden Fragen kommt. ;)


    unsympathisch. Sein Lächeln wirkt auf mich schmierig. Nun ja, zugegeben, das ist subjektiv. Das wirkt nicht auf jeden so. Ich jedenfalls habe damals immer gedacht, er sei schwul

    Okay.... wessen Geistes Kind bist Du?

    Ich habe 5 Jahre lang im tibetischen Zentrum in Hamburg am "systematische Studium des Buddhismus" teilgenommen, das u.A. Geshe Pema Samten und Christof Spitz leiteten. Dabei ist mir an keiner Stelle etwas aufgefallen, das strukturell auf ein Problem mit Missbrauch hingewiesen hätte. Im Gegenteil: ein besonders intensiv besprochenes Kapitel war die ethische Disziplin als Grundlage aller buddhistischen Praxis und da insbesondere die 10 unheilsamen Handlungen, zu denen auch das sexuelle Fehlverhalten gehört. Zudem wurde immer wieder betont, dass man die Lehre und vor allem aber auch den Lehrenden intensiv prüfen müsse. Dabei wurde auch auf folgende Gefahren ausführlich hingewiesen:


    Zitat

    Die Gefahren vergrößern sich, im Fall der tibetischen Tradition, durch Texte über „Guru-Hingabe“. Die ursprünglichen Adressaten dieser Texte waren verpflichtete Mönche und Nonnen, die Gelübde abgelegt hatten, die eine Wiederholung als Vorbereitung für eine tantrische Ermächtigung nötig hatten. Die Anweisungen waren niemals für Anfänger in einem Dharmazentrum gedacht, die nichts über Buddhismus wissen.

    Wir müssen folgende zwei Extreme vermeiden:

    1. die spirituellen Lehrer vergöttlichen, was die Pforte zu Naivität und Missbrauch öffnen würde und

    2. die spirituellen Lehrer dämonisieren, was die Pforte zur Paranoia öffnen und verhindern würde, dass wir wahre Inspiration und tiefgreifenden Nutzen durch sie erhalten.


    -> Quelle


    Es wurde auch auf verschiedene exotische sexuelle Praktiken und Symbole des Vajrayana hingewiesen. Ein entsprechender Kontext, besonders was potenzielle Missbrauchsgefahren angeht, findet sich hier:

    -> Klick


    Die eingangs hier benannten Probleme sind also nicht neu, werden und wurden diskutiert. Ebenso wenig aber gehen sie auf ein grundlegendes strukturelles Problem des gesamten tibetischen Buddhismus zurück.

    Ich habe mit Bedacht das geschrieben, was ich geschrieben habe. Hätte ich die Emphase wählen wollen, die Du bestimmten Aussagen gibst, hätte ich diese gewählt. Zum Beispiel würde ich nicht der Presse "Schuld" geben, da es auch von der begrenzten Ressource Aufmerksamkeit abhängt, was, wie ankommt. So könnte man auch dem Rezipienten eine "Mitschuld" geben. Aber auch das würde ich so nicht sagen wollen.


    Ich habe nicht geschrieben, dass es überall Missbrauch gibt. Ich habe Bespiele gewählt, die wegen Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt ebenfalls immer wieder in den Schlagzeilen landen, ohne dass die entsprechende Struktur gleich als ganze gesellschaftlich auf dem Prüfstand stünde. Niemand würde die Familie abschaffen wollen, auch wenn die meisten Femizide in Familien geschehen. Niemand würde Sportvereine abschaffen wollen, auch wenn es in Sport und Turnvereinen immer wieder zum Missbrauch Minderjähriger kommt. Und auch die Struktur einer hierarchisch geführten Firma steht nicht zur Disposition, obwohl hier sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an Tagesordnung ist.


    Positive Effekte werden nicht vergessen, spielen aber in der öffentlichen Wahrnehmung eine zunehmend geringe Rolle (Im Gegensatz zu Sportvereinen, Familie oder Firmenstrukturen).


    Zuletzt wird nicht vertuscht, weil skandalisiert wird, sondern der Schaden, der durch Fehlverhalten entsteht, ist durch das enorme Empörungspotenzial bei öffentlichen Institutionen oder in der Öffentlichkeit stehenden Personen insgesamt größer, weil eben dies im Rahmen von Machtkämpfen um Deutungshoheit und tendenziösen Diskreditierungen gerne genutzt wird: Jemand, der Religion ablehnt, wird seine ihre Meinung schnell bestätigt finden (War ja wieder klar, diese Katholiken, Tibeter, Zen-Meister, you name it.). Stichwort Informationsbubble. Die begrenzte oberflächliche Wahrnehmung durch Headlines verstärkt diesen Prozess noch. Schau mal, mit wie vergleichsweise wenig an moralischer Indifferenz eine Politiker*in heute seinen/ihren Hut nehmen muss.

    Klar, es gibt Skandale. Es gibt Missbrauch, Vertuschung, Machtgier – das ganze Programm des Menschseins eben. Schlimm ist das. Im Kloster, in der Firma, in der Familie, im Turnverein. Merkwürdig, dass diese schwarzen Flecken derzeit das ganze Gebilde des Religiösen schwarz färben, während die weißen, lichten, positiven, heilsamen Elemente diese Kraft offenbar nicht haben.


    Die Headline-Journalistik hat es leichter mit Skandalen, mit Schock, Wut, Angst und Empörung als mit Nachrichten wie: zweihundert Menschen hatten nach einem Vortrag von Lehrer XY wieder mehr Lebensfreude, Kirche ABC hat in verarmtem Land Schule errichtet, Priester Soundso opfert gesamte Freizeit für Projekte in sozialem Brennpunkt, Meister von Tradition Hierundda eröffnet neues Zentrum und erreicht ein paar Hundert Menschen, die danach etwas friedfertiger zu ihren Ehepartnern sind. Würden diese Nachrichten die jeweiligen religiösen Gefüge mit der gleichen Kraft positiv färben wie die negativen Nachrichten sie zugrunde richten, würde es wohl auch weniger Vertuschung geben und vielleicht auch etwas produktivere Aufarbeitung zur Prävention von Verbrechen.


    Mir tut es weh, zu lesen und zu hören, wie die Religionen und Traditionen immer mehr durch Skandale definiert und beurteilt werden, sodass die eigentliche Funktion und das ungleich größere Heilsame des Religiösen dahinter in Vergessenheit gerät oder als zu überwindender Ballast jede Grundlage in der Gesellschaft verliert. Dabei haben wir alle Religionen, echte Spiritualität (im Gegensatz zu Selbstoptimierungswellness oder Esoterik-Industrie) und geistige Schulung gerade heute so bitter nötig.