Das ist ein guter Anfang. Sieh das Huhn, wie es einen Wurm frisst. Und schon verstehst du, dass der Mensch, der ein Huhn verspeist, das Huhn ist (und nicht nur isst). Die Natur verleibt sich ein.
Wir leben nicht mehr im Naturzustand, dafür ist unsere Kultur zu komplex und die Masse der Menschen zu groß. Natürlicherweise sterben Tiere einfach, ohne dass sie eine medizinische Rundumversorgung Jahrzehnte lang künstlich am Leben halten würde. Darum passt dieses "Mensch und Huhn sind eins" schon lange nicht mehr, wenn es überhaupt je gepasst hat – zumindest in dem Sinne, den du hier anführst. Das "Einssein" mit allen Wesen, mit der gesamten Wirklichkeit, findet auf einer vollkommen anderen, weit subtileren Ebene statt, die sicher nicht zu einem erweiterten Ökozid führt.
Wesen der Natur sind oft blind für die Konsequenzen ihres Handelns. Die buddhistische Lehre besteht ja gerade darin, sich die Konsequenzen des eigenen Handelns bewusst zu machen.
Befreiung bedeutet allmähliche Emanzipation von instinkthaftem, blinden Tun durch systematische Selbst-Erziehung. Man kann auch deutlich profaner sagen: Erwachsenwerden durch Übernahme von Verantwortung für sich und andere. Folgen wir weiterhin blind den "natürlichen" Impulsen (milliardenfach verstärkt durch eine hoch technisierte, kapitalistische Marktwirtschaft), macht "die Natur" mit Menschen, was sie auch mit Hefebakterien in der Maische macht: wir verrecken an unseren Ausscheidungen.
Freiheit im buddhistischen Sinne ist eben nicht, alles machen zu können, was einem gerade in den Kopf kommt, sondern nicht alles machen zu müssen, was man sich gerade wünscht; mit anderen Worten: eine Wahl treffen zu können. Tiere haben diese Möglichkeit nur eingeschränkt.
Sich selbst annehmen bedeutet nicht, jedem "natürlichen" Impuls zu folgen und ihn zu feiern. Es bedeutet, jeden Impuls zu kennen, um verantwortungsvoll mit dieser Energie umzugehen.
Noch tragischer ist es, wenn man glaubt, frei zu sein, alles tun zu können, was man gerade möchte, weil man angeblich die Kategorien von Gut und Böse zugunsten eines "befreiten Naturzustandes" überwunden hat. Das führt nur zu einem aufgeblähten Super-Ego, das sich am Ende für die ganze Welt hält. Und weil es sich für die Welt hält und damit Shunyata vollkommen missversteht, glaubt dieses Super-Ego die Dualität zwischen Ich und Welt überwunden zu haben: Die Welt ist meine Illusion. Das ist aber keine Non-Dualität, sondern fatalistischer, egozentrischer Positivismus.
Ich möchte dir das nicht unterstellen. Ich höre nur unter Buddhisten immer wieder diese Haltung.