Beiträge von Tai im Thema „Beurteilen / Bewerten“

    Deswegen empfiehlt Zen, vom Bewerten und Beurteilen abzulassen, um wieder in diesen Zustand des Erwachens zurückzufinden


    Ich würde eher sagen, dass Zen gar nichts empfiehlt, außer Zazen zu üben, und für Dich selbst herauszufinden, wie dieser oder jener Zustand sich anfühlt.

    Ich beziehe mich hier u.a. auf die Lehre von Meister Huang Po, der wohl als seriöser Vertreter der Zen-Lehre gelten dürfte. (Da wir im Anfängerbereich schreiben hier für alle, die im Zen nicht so zu Hause sind zur Einordnung: Huang Po ist der Lehrer des Meisters Lin-Chi's, auf Japanisch Rinzai, auf den sich die Rinzai-Schule zurückführt.)


    Zitat

    Sie (die Fühlenden Wesen) wissen nicht, dass sie in genau dem Augenblick, in dem sie ihr begriffliches Denken aufgeben, zum Einen Geist erwachen, der Buddha ist und alle Lebewesen.


    Huang Po, Geist des Zen, Kap.1

    Zitat

    Unvergleichlich ist, wer das begriffliche Denken aufgibt. Warum? Weil er keine Begriffe mehr formt.


    Huang Po, Geist des Zen, Kap.4

    Zitat

    Dieser Geist ist nicht an begriffliches Denken gebunden. So unterscheiden sich Buddhas und Lebewesen in keiner Weise. Könntet ihr euch nur vom begrifflichen Denken befreien, so hättet ihr alles erreicht.


    Huang Po, Geist des Zen, Kap.6

    Ich setzte voraus, dass Bewerten und Beurteilen als Ausdruck des begrifflichen Denkens verstanden wird und deute Huang Po's Worte als klare Empfehlung.


    Sich zu bemühen, irgendwie wertungsfrei durch die Welt zu schweben, wäre ja hoffnungslos

    Genau um einer solchen Fehlinterpretation entgegenzutreten, habe ich das ja so ausführlich zu erklären versucht. Solltest du Huang Po's Worte oder meine Beiträge #2 und #18 als Plädoyer für ein "irgendwie wertungsfrei durch die Welt zu schweben" verstanden haben, würde mich das etwas ratlos zurücklassen. Zur Erinnerung, ich schrieb u.a.:


    Es ist für uns alle absolut (über)lebenswichtig, Situationen, Menschen und Sachverhalte angemessen einschätzen und in diesem Sinne 'beurteilen' zu können. Auch unsere Fähigkeit, etwas zu beurteilen ist Ausdruck unserer ursprünglichen Natur und keineswegs etwas Schlechtes, das man ablehnen sollte.


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    Weil wie Monika schrieb es Energie kostet oder wie mir die KI sagte mehr Gelassenheit bringt?

    Das sind natürlich auch sehr hilfreiche Nebeneffekte. Der Hauptgrund ist nach meinem Verständnis, dass das konsequente Ablassen von Bewertungen und Beurteilungen unmittelbar zur Erleuchtung führt.


    Im Zen heißt es, dass du zur wahren Natur erwachst (also Erleuchtung verwirklichst), sobald du radikal und in voller Konsequenz dein begriffliches Denken aufgibst. Damit ist jetzt aber nicht gemeint, prinzipiell das Denken aufzugeben und dann nie wieder einen Gedanken zu fassen. Gemeint ist, genau jetzt das Denken und Bewerten und Beurteilen loszulassen. Denn unser zwanghaftes Denken-Müssen in jedem Moment und die dabei entstehenden Bewertungen und Beurteilungen führen zu Vorlieben und Abneigungen. Durch diese Vorlieben und Abneigungen haften wir an Dingen und Formen und Vorstellungen an. Dabei ensteht die Trennung zwischen uns und der Welt, es entsehen Gier, Hass, Angst und Verblendungen, also vielfältiges Leiden.


    In einem solchen Zustand sind wir nicht mehr in der Lage, unsere ursprüngliche, allumfassende Natur zu schauen, also Erleuchtung zu verwirklichen. Deswegen empfiehlt Zen, vom Bewerten und Beurteilen abzulassen, um wieder in diesen Zustand des Erwachens zurückzufinden, der frei ist von Form oder Leerheit (siehe hierzu z.B. das Herzsutra oder auch das Diamant-Sutra).


    Weil es für uns Menschen nicht leicht ist, dieses große Erwachen zu verwirklichen, hat uns der Buddha mit seiner Lehre viele gute Hilfestellungen gegeben. Das Heilsame zu tun und das Unheilsame zu unterlassen, kann uns dabei helfen, diesen Weg des Buddha zu gehen. Im Moment des Erwachens muss aber alles Heilsame und alles Unheilsame losgelassen werden - sonst gibt es kein Erwachen. Denn am Heilsamen und Unheilsamen hängen letztlich wieder die Vorlieben und Abneigungen, das Haften an Formen und das Entstehen der 3 Geistesgifte (Gier, Hass, Verblendung).


    Ein vollkommen erwachter Mensch sollte idealer Weise in der Lage sein, jedem Moment und seinen Herausforderungen gerecht zu werden. Wenn er dazu etwas beurteilen muss, dann tut er dies ohne Eigennutz oder Vorlieben oder Anhaftungen, sondern nur, um das zu tun, was die Situation gerade erfordert. Die Praxis eines erwachten Menschen besteht darin, seine wahre Natur zu schauen, selbst dann, wenn er etwas beurteilen muss. Nur im Gewahrsein der ureigensten, allumfassenden Natur, also des Unbedingten, in dem sich Form und Leerheit nicht unterscheiden, ist es überhaupt möglich, etwas zu beurteilen ohne zugleich einer Anhaftung auf den Leim zu gehen. Im Diamant-Sutra (Kapitel 7) wird das so ausgedrückt:


    Zitat
    Weil alle Weisen Unterscheidungen auf der Grundlage des Unbedingten (asaṃskrta) treffen.

    Und genau da löst sich der 'krasse Widerspruch', wie du es erstmal zurecht genannt hast, auf. Schließlich ist auch unser begriffliches Denken Ausdruck unserer ursprünglichen Natur.


    Vereinfacht auf den Punkt gebrachts: Wann immer nötig, beurteile die Dinge ruhig, um das Heilsame zu tun und das Unheilsame zu vermeiden, Doch wann immer du Zen praktizierst, lass alles Bewerten und Beurteilen und alles Heilsame und Unheilsame los, um deine wahre Natur zu schauen.


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    Das Buddha zwischen heilsamen Handlungen und unheilsamen unterschieden hat ist ein Teil dessen was ich weiß, es steht aber in krassem Widerspruch dessen was ich fragte bzw. dass man nicht urteilen soll bzw. bewerten

    Das stimmt erstmal.


    Um diesen Widerspruch aufzulösen, musst du verstehen, warum überhaupt empfohlen wird, dass man nicht urteilen und bewerten soll. Was glaubst du, warum das so empfohlen wird?

    Sorry, wieder eine Frage, die nur anders ist, aber ich kann ja nicht zu jeder Frage, die mir wichtig ist ein neues Thema aufmachen, aber die Frage wäre mir sehr wichtig ...

    Eine sehr bedeutungsvolle Frage, die, wie ich finde, einen eigenen Thread verdient ( Hendrik).


    ... ich habe gehört, man soll nicht beurteilen oder bewerten, aber das geht bei den meisten Menschen nicht. Als Lösung wurde gesagt, man soll die Beurteilung bzw. Bewertung, die automatisch geschieht keine Bedeutung geben. Auch hier frage ich mich, wie soll das in der Praxis aussehen? Und was ist das Endresultat dieser Vorgangsweise? Mehr Gelassenheit im Idealfall?

    Es ist für uns alle absolut (über)lebenswichtig, Situationen, Menschen und Sachverhalte angemessen einschätzen und in diesem Sinne 'beurteilen' zu können. Auch unsere Fähigkeit, etwas zu beurteilen ist Ausdruck unserer ursprünglichen Natur und keineswegs etwas Schlechtes, das man ablehnen sollte.


    Allerdings ist der Buddhismus eine Lehre des Erwachens (eine Erleuchtungslehre). Im Zen-Buddhismus heißt es, dass dieses Erwachen in genau dem Augenblick eintritt, in dem alles Denken und Beurteilen losgelassen ist. Das heißt, wenn du dich auf die Zen-Praxis einlässt, also immer in dem Moment, solltest du schon versuchen, (z.B. mit Hilfe der Koanpraxis oder anderer Methoden) vom begrifflichen Denken inklusive dem Beurteilen und Bewerten abzulassen. Das ist ein direkter Weg in das Erleben und Erfahren desjenigen, das du selber ursprünglich und unmittelbar bist. Mit 'unmittelbar' meine ich, genau jetzt so wie es ist und nicht die gedankliche Vorstellung von was auch immer. Diesen Zustand der unmittelbaren Wahrheit auszuhalten ohne sich gleich wieder in gedankliche Vorstellungen zu flüchten, ist für uns alle sehr herausfordernd. Es erfordert all unsere Kraft, all unseren Mut und all unsere Entschlossenheit, führt aber auch direkt ins Erwachen.


    Das heißt aber nicht, dass wir, wann immer es nötig ist, etwas einzuschätzen oder zu beurteilen, dies nicht auch tun sollten. Einschätzungen helfen uns dabei, uns im Leben zu orientieren. Meist wissen wir allerdings intuitiv schon recht schnell, was für uns wichtig und richtig ist. Dann geht es darum, entsprechend zu handeln, statt in endlosen Überlegungen weiter nachzugrübeln.


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