Ethik im Plattformustra (daoistische Perspektive) + ein Zitat von Harada Shodo

  • Auf Vorschlag von HeWhoRemains eröffne ich hiermit den Thread zum Thema Ethik im Plattformsutra, denn just als ihm der Gedanke kam, las ich dazu einen Essay, der nun hier auf Deutsch übersetzt ist:


    Einzigartige ethische Einsichten, die sich aus der Integration von allmählicher Praxis und plötzlicher Erleuchtung im Plattform-Sutra ergeben – eine Interpretation aus der Perspektive des Daoismus von Rongkun Zhang (2020)


    Ich werde in Kürze noch eine Übersicht von Morten Schlütter zu den verschiedenen Versionen des Plattformsutra hier verlinken.


    Im obigen Aufsatz findet sich eine Position, die mir zwischen meiner und der von Sudhana aufgezeigten (im kürzlichen Thread zum Fleischessen bzw. der Übertragung außerhalb der Schriften) zu vermitteln scheint und darum ganz gut hierher passt. Ich bin also nicht automatisch der Meinung der Autoren, die ich hier gelegentlich verlinke, sie zeigen lediglich einen Ausschnitt der akademischen Diskussion, der zum eigenen Weiterdenken anregen könnte. Ich bin selbst nicht in der buddhistischen Akademie tätig, sondern mein Anliegen ist ein praktisches Vorantreiben des Buddhismus. Um die Diskussion anzustoßen: Mein Rat an Übende ist - da nur ein vollständiges Loslassen angestrebt werden kann - sich nicht vor dem Zustand zu fürchten, in dem selbst Gebote losgelassen sind. Es gibt keinen Automatismus, der dann zu bösartigem Verhalten führt oder zu einer Umdeutung von Schandtaten. Dieser Fall ins Bodenlose als Teil der Übung ist aber andererseits nicht zu haben ohne ein Risiko. Im Grunde sollte ein Lehrer dazu in der Lage sein, diejenigen zu erkennen, denen ein solcher "Fall" zuzumuten ist, und die anderen wegschicken. Wie ich gerade in einem Clip eines Soto-Mönches sah, wurden in seinem Tempel jedoch diejenigen weggeschickt, die sich nicht an den regelmäßigen Meditationssitzungen beteiligten (bei denen wiederum ein "Sterben auf dem Kissen", also dieses Fallen ins Bodenlose, erwünscht sei). Das Kriterium war also: "Bist du bereit, lange regungslos zu sitzen?" und nicht: "Bist du gefestigt genug, um mit dem umgehen zu können, was dich erwartet?" Mit diesem Gefestigtsein meine ich nicht, dass der Adept die Gebote einhält - das ist bei durchschnittlich anständigen Menschen vorauszusetzen -, sondern dass er psychisch in der Lage ist, mit einer Erfahrung von Leere fertig zu werden und sie dann für sich und andere fruchtbar zu machen, und das ist etwas anderes: Die Gleichung - befolgt Gebote, wird also auf die rechte Art handeln, wenn erwacht - gilt nicht. Die Frage ist ja gerade, ob der Adept mit einem Zustand umgehen kann, in dem er die Gebote ggf. nicht mehr befolgt.


    Ebenfalls ins Spiel bringen kann ich, um zu zeigen, wie das nicht nur ausgesprochene Soto-Zen-Lehrer sagen, einen Ausschnitt aus einem Interview (Buddhadharma 2006) mit Shodo Harada. Er macht schon ein paar gute Punkte, zieht sich jedoch auch noch auf den klassischen Weg zurück, obwohl er selbst Koanschulung gibt und wissen dürfte, wovon ich oben sprach. Damit ist auch klar, dass ich ein progressiveres Zen vertrete und selbst die Ansichten ansonsten geschätzter Zen-Lehrer von mir nicht unbedingt übernommen werden (das sage ich, weil das "Nachbeten" für viele Schüler/innen der Normalzustand zu sein scheint ...). Die von mir nicht geteilten Ansichten habe ich unterstrichen. Für mich sind sie ein - scheiternder - Versuch, aus dem Dilemma herauszukommen, das ansonsten von Harada ja ganz gut beschrieben ist (ein Anhaften an Gebote darf auch nicht sein).


    "In den Lehren von Bodhidharma ist ein Zugangspunkt sila, die Gebote. Beinhaltet Kensho notwendigerweise rechtes Handeln in Übereinstimmung mit den Geboten?

    Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Gebote im Wesentlichen sozial sind. Sie sind nicht in irgendeinem ursprünglichen Sinne notwendig. Ein Säugling braucht die Gebote nicht. Ein Ausdruck der Gebote ist ein klares, geordnetes Leben auf einer individuellen Ebene. Die Gebote werden notwendig, wenn wir anfangen, mit anderen Menschen in der Gesellschaft umzugehen.

    Im Isshinkaimon oder „Die Gebote des einen Geistes“, das Bodhidharma zugeschrieben wird, werden die Gebote vom Standpunkt des jishou reimyou, des „ursprünglichen Geistes, geheimnisvoll und jenseits allen menschlichen Verstehens“, erörtert. Dies ist unsere eigentliche Essenz, der Geist von Kensho. In dieser ursprünglichen spirituellen Essenz gibt es keinen Drang zu töten, zu stehlen, zu lügen oder zu verletzen und somit auch keine Notwendigkeit für die Gebote. Unser Verhalten steht von Natur aus im Einklang mit den Geboten.

    Im Kontext gewöhnlicher menschlicher Beziehungen helfen uns die zehn Hauptgebote, den richtigen Geisteszustand zu erkennen. Wenn wir in einer verwirrten und schädlichen Weise leben, signalisieren uns die Gebote durch unseren Mangel an Harmonie mit ihnen, dass wir in unseren Ansichten und Handlungen fehlgeleitet sind und noch nicht zu unserer eigenen wahren Natur erwacht sind. Die Gebote sind kein System von „Rechten“ und „Unrechten“; sie sind Richtlinien, die uns die Erleuchtung verschaffen, die es uns ermöglicht zu sehen, wo wir wirklich stehen.


    Ich könnte mir also vorstellen, dass man Einsicht haben kann, ohne vollständig erwacht zu sein, und dass man in diesem Fall immer noch die Regeln beachten muss.

    Ja. Deshalb arbeiten wir sozusagen rückwärts von den Geboten aus. Lassen Sie mich das erklären. Wenn wir vollständig erwacht sind, leben wir unser tägliches Leben natürlich in Übereinstimmung mit der Wahrheit. Wir leben jedoch in Gemeinschaft mit anderen Menschen, von denen jeder seinen eigenen Geschmack, seine eigenen Vorlieben und Neigungen hat. Die individuellen Unterschiede führen unweigerlich zu Reibereien zwischen den Menschen. Dabei geht es nicht darum, dass eine Person Recht hat und eine andere Person Unrecht. Deshalb ist es wichtig, dass wir in unseren Beziehungen Harmonie wahren, sowohl als Einzelpersonen als auch als Mitglieder der Gesellschaft. Je größer die Gesellschaft ist, in der wir leben, desto wichtiger ist die Harmonie in unserem Verhalten gegenüber anderen. Ohne sie bricht das Miteinander zusammen.

    In diesem sozialen Kontext ist der erwachte Geist wie ein Spiegel, der seine Umgebung reflektiert und die Natur der Interaktionen zwischen sich selbst und anderen erhellt. Aber das Erwachen zur wahren Natur unseres eigenen Geistes bedeutet nicht, dass wir plötzlich die Welt um uns herum direkt beeinflussen können. Dieser Punkt ist die Quelle vieler Verwirrungen. Das Erwachen zu seinem wahren Selbst verleiht keine besonderen Kräfte. Ein erleuchteter Mensch ist nicht plötzlich in der Lage, Klavier zu spielen wie ein großer Musiker oder zu malen wie Picasso oder Matisse. Ein Bild zu malen, ein Lied zu komponieren oder ein Gedicht zu schreiben, das die Herzen der Menschen bewegt, ist eine Mischung aus Talent und Technik, die durch Übung und Anstrengung gepflegt und verfeinert wird.


    Im spirituellen Leben muss das Erwachen also durch Übung entwickelt werden, so wie große Künstler sich üben. Eine solche Ausbildung wiederum vertieft und bereichert den Charakter eines Menschen. Die bloße Tatsache der Erleuchtung bedeutet nicht, dass alle eigenen Impulse plötzlich perfekt sind, sondern dass man genauer sieht, wie man leben sollte. Wenn unser tägliches Verhalten einem klaren, erwachten Geist entspringt, dann werden die Menschen, die mit uns in Kontakt sind, auf subtile, aber positive Weise beeinflusst.

    Die Beziehung zwischen dem Erwachen und der täglichen Praxis funktioniert auch in die andere Richtung. Wenn man im Einklang mit den Geboten lebt, wird man enger mit seiner essentiellen Natur verbunden. Daher werden diejenigen, die sich bemühen, die buddhistischen Gebote zu befolgen, sich allmählich auf den erwachten Geist zubewegen, der durch diese Lehren manifestiert wird. Das ist es, was ich vorhin meinte, als ich sagte, dass wir von den Geboten aus rückwärts arbeiten können.

    Man muss jedoch aufpassen, dass man dies nicht missversteht. Eine buchstabengetreue, auf den Geboten basierende Lebensweise allein reicht nicht aus, um das Erwachen zu bewirken. Die Regeln auf mechanische Weise zu befolgen, kann einfach eine andere Form der Anhaftung sein, wenn es nicht von der Bemühung um die Verwirklichung des Buddha-Seins begleitet wird.

    Die Gebote können eine wirksame Hilfe für die Praxis sein, aber das Festhalten an ihrer Form ist ein Hindernis.

    Was wir Kensho nennen, ist ein Erwachen zur absoluten Befreiung, die der ursprüngliche Zustand unseres Geistes ist, ein Zustand, dessen wir uns normalerweise nicht bewusst sind, weil wir ein festes Selbstgefühl haben, das durch unsere vorgefassten Meinungen, Anhaftungen und Wünsche entsteht. Kensho ist daher nicht etwas, das von uns getrennt ist; es ist einfach das Abwerfen unserer Fixierungen, die Rückkehr zu dem, was wir immer waren. Die Gebote sollten diesem Ziel des Erwachens dienen."

    "Ein Mönch, der Fragen stellt und sich unsicher ist, wie er den Geist eines anderen einschätzen mag, soll einen 'Buddha' genau untersuchen, um festzustellen, ob dieser tatsächlich erwacht ist." (Vivamsaka Sutta)

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  • Hier der versprochene Essay von Prof. Morten Schlütter: "Übertragung und Erleuchtung im Chan-Buddhismus im Spiegel des Plattform-Sūtra"

    "Ein Mönch, der Fragen stellt und sich unsicher ist, wie er den Geist eines anderen einschätzen mag, soll einen 'Buddha' genau untersuchen, um festzustellen, ob dieser tatsächlich erwacht ist." (Vivamsaka Sutta)

  • Irgendwie funktioniert nach dem Update der Forumsoftware gerade die Bearbeiten- und auch die Link-Funktion (Link unter Text legen) bei mir nicht mehr, weder im Google- noch im Firefox-Browser. Deshalb hier noch der Hinweis auf einen weiteren Essay von Prof. Schlütter, auf der unter "open access" im obigen Essay verlinkten Seite bei Academia. Er stammt von 2018 und untersucht die Entwicklung der von Sudhana angesprochenen "formlosen Gebote" in den diversen Versionen des Plattform-Sutra. Hier wird deutlich, warum die eine Fraktion hier im Forum lieber die frühe Dunhuang-Version zitiert und ich lieber die orthodoxe, späte, denn darin ...


    ... ist also die Gebotezeremonie nicht mehr Bestandteil der Hauptpredigt Huinengs und nicht mehr mit den Prajnaparamita-Lehren verknüpft, sondern erscheint in einem eigenen Kapitel als spontanes Ereignis, zu dem sich Huineng plötzlich inspiriert fühlte. Schlütter sieht dies als Kompromiss gegenüber Laien, Mönche sind daran nicht beteiligt, aber die Zeremonie dient NICHT als Modell für spätere. Er meint, man könne hier auch gar nicht mehr von "formlosen Geboten" sprechen (was auch diese späte Version des Sutras nicht tut), sondern von "formloser Reue". https://www.academia.edu/70349…%A5%96%E5%A3%87%E7%B6%93_

    "Ein Mönch, der Fragen stellt und sich unsicher ist, wie er den Geist eines anderen einschätzen mag, soll einen 'Buddha' genau untersuchen, um festzustellen, ob dieser tatsächlich erwacht ist." (Vivamsaka Sutta)