Beiträge von Doris im Thema „Degenerationen & Stolperfallen - extended version“

    Zitat

    Anstatt dessen nutzt Buddha sein "ekliges" Dasein um dem Dasein den Stempel "eklig" zu geben.


    Ich würde das nicht behaupten wollen.
    Vielmehr gehe ich davon aus, dass diese Betrachtungen eine sehr nützliche Sache sein kann. Eine Medizin, die richtig und in der angemessenen Dosis durchaus heilsam sein kann.


    Ich gehe davon aus, dass all die beschriebenen Bestandteile, die üblicherweise unseren Ekel auslösen, eigentlich gar nicht ekelhaft sind.
    Dazu möchte ich an dieser Stelle erzählen, was ich bei einer Einweisung in eine tibetische Meditation lernte:
    Am Ende der Betrachtungen, sollen wir alles opfern, was wir haben, auch Kot und Urin. Ich fragte verwundert, wieso wir denn diese ekligen Dinge opfern sollten, und wurde darauf hingewiesen, dass sie z.B. Fliegen wie Ambrosia vorkämen, da sie dem Kot ihre Eier, also ihre Nachkommen anvertrauen. Für sie ist es Nahrung, die ich geben kann. Das hat mir die Augen geöffnet dafür, dass es lediglich meine Person ist, die Ekel empfindet, dass dies Aversion ist und subjektiv. (Klar subjektiv, da kein Pfleger, keine Pflegerin täglich diese Dinge machen könnte, keine Mutter dem Kind die Windeln wechseln, ich kein Katzenklo putzen …)


    Wenn ich also über die körperlichen Ausscheidungen, über alles, was wir als ekelhaft empfinden, meditiere, kann ich zunächst so etwas entwickeln wie: "Wir sind alle zusammengesetzt aus vergänglichen Dingen, die einzeln betrachtet nicht so toll sind und wir deshalb den Körper und seine Schönheit/Hässlichkeit (je nachdem wie sich die betreffende Person selbst einordnet) überbewerten." Wir können so vermeintliche Defizite oder Vorteile ausgleichen und uns der Vergänglichkeit, dem Prozess des Alterns und des Sterbens gewahr werden. Das rückt vieles, was wir für wichtig erachten, in ein anderes Licht. Aber das ist nur eine Ebene. Geht man tiefer, dann entdeckt man, das diese Vorteile/Defizite/Aversionen/Ekel usw. nur Produkte unserer Konditionierung sind und im Geiste entstehen. Und schon haben wir einen ganz tiefen Einblick in das Wesen des Geistes getan.


    Wenn diese Betrachtungen Ekel und Lebensfeindlichkeit als Ergebnis haben, dann, so meine Vermutung, ist da was steckengeblieben und falsch gelaufen. Entweder man hat sich von der Überhöhung der Körperlichkeit zum Gegenteil hin konditioniert oder man hat das getan, wonach einem immer schon war, hat seine Gewohnheit der Körperfeindlichkeit noch verfestigt, indem man ihr einen buddhistischen Überbau verliehen hat. Davon wegzukommen halte ich für äußerst schwer, weil man ja eine solch anerkannte Autorität wie "die authentischen Buddhaworte" hat. Mit der Hilfe eines qualifizierten Lehrers lassen sich solche Irrwege eher vermeiden, weil dann eben nicht mehr das aus den Texten herausgekramt werden kann, was einem in den karmischen Kram passt.


    Liebe Grüße
    Doris

    Zitat


    Das ist etwas das jeder in der Praxis schon im Ansatz nachprüfen kann. Wie befreiend ist das Glück das für einen Moment nichts braucht, das man auf seiner Meditationsmatte erfahren kann? Wie beschränkt dagegen das Glück sinnlicher Befriedigung. Das ist ja kein Hirngespinst, sondern ganz direkt von jedem erfahrbar. Das Glück das von keinem Objekt abhängig ist, ist doch um so vieles schöner.


    Das mag auf der Matte zutreffen, dass es im Moment des samadhi keine Bedürfnisse gibt. So kann man aber nicht dauerhaft verweilen ohne zu sterben. Man muss wieder ins Leben zurück. Allerdings bleibt das Bedürfnis nach Luft auch auf der Matte bestehen. Der Zustand mag schön sein, darin jedoch zu verweilen, würde ich als sehr starke Anhaftung bezeichnen.

    Zitat

    Wenn einen in Krisenzeiten kaum was anhebt wie z.B. Trauer, Eifersucht, Neid etc., ist schon mal die halbe Miete.
    Wenn man jeden Augenblick in der Lage ist zu lächeln (auch mit dem Herzen), spätestens dann merkt man, dass der Dhamma trägt und schützt.
    Und da ist nix von Aversion.


    Krisenzeiten zeichnen sich dadurch aus, dass einem was anhebt. Sonst wären es keine Krisenzeiten.

    malsehen:
    Geronimo:

    "ich wäre mir da nicht so sicher."


    Ich denke, wenn man "in" diesem Satz einfach (s. Doris oben) leben würde – dann wäre es einfach Leben.
    Ohne die Fragen, ohne das Suchen, einfach nur nicht sicher sein.
    Ich stell’s mir herrlich vor.
    Im Sicher sein wollen laufen und laufen wir. Wie anstrengend.


    Und bitte, bitte, bitte, "nicht sicher" ist nicht das Gleiche wie "unsicher"!


    Ohne Netz und doppelten Boden. Keine Sicherheit. Deshalb auch kein Zweifel, weil Zweifel nur da sein kann, wo es Sicherheit gibt.
    Das ist vielleicht das, was "Großer Zweifel" genannt wird.


    Vor vielen Jahren hatte ich plötzlich das Bild vom "Großen Fallen". Das entstand, als ich das Gefühl hatte, mir wird der Boden unter den Füssen weggezogen. Aber erstaunlicherweise habe ich es als wohltuend empfunden ins Leere zu fallen. Es erschien und erscheint mir immer noch als Fliegen, als meine wahre Natur – und selbst solche Benennungen sind schon zuviel. Das ist eben nichts Erhebendes, nicht Befriedigendes, nichts Berauschendes usw. Es ist losgelöst von all diesen Dingen und Vorstellungen, Sinnstiftungen …

    Geronimo:
    Doris Rasevic-Benz:

    Halte dem Buddha den Kopf unter Wasser und die Begierde nach Dasein wird sich zeigen. Zum Glück. Sonst hätte er die Schüssel Milchreis nicht gefuttert und ihr wärt immer noch Christen :grinsen:


    Da wäre ich mir nicht so sicher. Es gab einige Nachfolger die sich sehr gleichmütig ihrem Tod hingegeben haben.


    Zu ertrinken erfordert eine Menge Willenskraft. Alles im Körper sträubt sich dagegen. Deshalb kann man bei der Autopsie dann die entsprechenden Reaktionen des Körpers auch finden. Das wäre bei Buddha auch nicht anders gewesen.


    Viele habe ich gleichmütig sterben sehen. Das ist gar nicht so außergewöhnlich.


    Im Leben gibt es Leid, so oder so. Schmerzfrei ist nur der dauerhaft total Sedierte oder eine der wenigen Menschen mit diesem speziellen Gendefekt. Alle anderen erleben Begierden und Leid, und dies will befriedigt bzw. gelindert werden. Niemand, auch kein Buddha kann das je ändern. Jede Zelle ist so ausgerichtet. Niemand kann beispielsweise seinen T-Zellen befehlen, nicht mehr um das Überleben des gesamten Organismus zu kämpfen, es sei denn, er nimmt Immunsuppressiva in derart hohen Mengen, dass sie ausgeschaltet werden. Damit bringt er aber sich selbst um. Das ist Leben. Begierde auflösen zu wollen ist damit per se lebensfeindlich.


    Leben will leben. Auch der Buddha wollte leben, sonst hätte er nicht gelebt. Leben ist. Punkt.
    Das ist sooooo einfach, dass es schwer zu verstehen ist, weil immer nach Sinn gesucht wird, weil da der Wunsch nach Kontrolle ist, nach Überhöhung und nach Heiligkeit. Weil da immer die Sucht nach Mehr ist und nach Höher, Besser, Weiter, und wenn sie sich als "Buddhismus" verkleiden muss … Einfach leben. (Und damit ist nicht die Banalisierung des "einfachen Lebens" durch eine Ideologie der körperlichen und materiellen Askese gemeint. Es bedeutet Askese von der Sucht nach diesem Mehr an Sinn, Abstand nehmen von dem Heiligen, dem Überhöhten, dem Wunsch nach dem Besonderen. Es meint Demut im tiefsten und gleichzeitig einfachstem Sinne: Leben. Ohne Zutun, ohne Zugabe, ohne Ideologie, ohne Sinn …)


    Jemand hat das mal so schön anhand der ersten Zeilen des Diamantsutras erklärt (in der Übersetzung von Thich Nath Han):


    Zitat

    Als an diesem Tag die Zeit der Almosenrunde gekommen war, legte der Buddha seine Mantelrobe an, nahm seine Schale und ging in die Stadt Sravasti. Dort schritt er von Haus zu Haus und bettelte um Almosen. Danach kehrte er zum Kloster zurück, um sein Mittagsmahl einzunehmen. Schließlich legte er seine Mantelrobe ab, stellte die Schale beiseite, wusch seine Füße, richtete sein Kissen und setzte sich nieder.


    Schilderte der Autor diese Alltagshandlung nur aus Jux und Dollerei und weil er das Papier vollkriegen wollte?


    Liebe Grüße
    Doris

    Nun hat Onda das bestimmt nicht einfach als "Stolperfalle" bezeichnet, weil sein Kaffee gerade nicht so gemundet hat. Er hat sich ja was gedacht.
    Die Falle, die ich in sehe ist die, dass das menschliche Bedürfnis nach Kontinuität schnell marginalisiert, ja geradezu als eine Krankheit betrachtet wird. Und das denke ich, ist es eben nicht. Lediglich die Fixierung darauf ist problematisch.
    Ein Ergebnis der Verdrängung dieses Erlebens und des Wunsches kann eine gewisse Wurschtigkeit sein, auch das Unterdrücken und Verleugnen von Bedürfnissen. Das geht früher oder später in die Hose. Es kann auch zu Hochmut und Kaltherzigkeit führen.


    Ich glaube nicht, dass man ständig mit dem Gedanken leben kann, dass alles gleich vorbei ist. Das würde zuviel Energie binden. Es ist jedoch hilfreich, wenn ich mir das immer wieder mal vergegenwärtige, z.B. wenn ich Schmerzen erleide, im Stress bin, Ärger habe. Dann ist die Vergänglichkeit Hoffnung und Trost, aber auch Erdung und Rückführung in die Realität. Ich bin dann auch achtsamer und vorsichtiger im Umgang mit meinen Mitmenschen, da ich um die Zerbrechlichkeit der Bindungen weiß.


    Liebe Grüße
    Doris

    Matthias65:
    Doris Rasevic-Benz:

    Wir erleben Dauer und wir erleben Vergänglichkeit


    Doris, weches Phänomen ist von Dauer ?


    Alle.
    Wir leben in einer Zeitschiene. Da erscheinen uns die Alpen von Dauer, weil es lange dauert, bis sie entstehen und vergehen. Wir würden keine Karten brauchen, um sie zu überfahren, hätten sie keine Dauer, wir könnten nicht einmal drüberfahren, denn sie wären ja schon weg. Wir hätten nicht einmal ein Wort für sie. Nur ist ihre Zeitschiene eine andere. So wie eine Eintagsfliege eine andere Zeitschiene hat. In ihrem Erleben existieren wir ewig.
    Nur sind keine der Phänomene, die wir erleben können von EWIGER Dauer. Es könnte durchaus so etwas geben, aber nicht für uns, die wir in einer Zeitschiene existieren. Für uns gilt: Nur in diesem Momenten, in denen wir jenseits von Zeitkonzepten erleben, gibt es keine Zeit, also auch keine Dauer. Aber das ist alles, was wir nur in unserem Erleben feststellen können. Eine ewige Dauer per se kann niemand beweisen oder widerlegen. Vielleicht schon, aber mir ist das noch nicht zugänglich gemacht worden.


    Dennoch brauchen wir Dauer, Kontinuität. Nenne es wie Du willst.
    Deine Kinder brauchten das Erleben von Dauerhaftigkeit. Nur das gibt ihnen Sicherheit.


    Natürlich ändern sich unsere Gedanken und Emotionen beständig. Das hat eine gewisse Kontinuität. Es gut zu wissen, dass das vergänglich ist, denn wir werden so freier. Aber dennoch haben wir bestimmte Grundmerkmale, z.B. ehrgeizig, fröhlich, sprunghaft, musikalisch, neugierig. Jeder Mensch ist eine ganz individuelle Mischung, anhand derer man ihn erkennen kann. Aber das kann sich ändern, das ist ein offenes System.


    Liebe Grüße
    Doris

    Natürlich gibt es so was, das gemäß unserem Lebens- und Erlebnistempo als "Dauer" erscheint.
    Die Fähigkeit Dauer zu erleben ist eine wichtige Eigenschaft, ohne die ein Überleben nicht möglich wäre. Wir könnten auch keine Erfahrungen sammeln, selbst Meditationserfahrungen wären für die Katz, hätten wir nicht ein Gedächtnis, das uns Dauer vermittelt. Wir müssten sekündlich alles neu erleben, erfassen, begreifen. Im Dschungel wäre das fatal. Selbst das Telefonieren wäre eine Katastrophe, denn wir hätten kein Gedächtnis, das uns sagt, wie es geht. Lesen – müsste täglich neu erlernt werden. Usw.


    Bei all den Dingen, die uns der Dharma lehrt und die unser Weltbild umstösst, geht es nicht darum, unser menschliches Erleben zu vernichten (was nicht möglich ist und nur zu Monströsitäten führt). Es geht doch darum, dass wir uns eine gewisse Offenheit antrainieren, die es möglich macht mehr Flexibilität in unser Denken und Handeln zu bekommen. Nichts wird abgeschafft, nichts beseitigt, es wird lediglich der Tunnelblick geöffnet, der Spalt zwischen Emotion und Handlung so breit erkennbar gemacht, dass wir darin alternativ zu unseren Gewohnheiten handeln können. Und so ist es auch mit der Dauer. Es gibt sie im Erleben des Menschen. Der Trost besteht aber auch darin, dass sie nicht ewig dauert. Das gibt uns eine Chance mit den Wechselfällen des Lebens flexibler umgehen zu können. Dauer und Vergänglichkeit bestehen beide im Erleben. Ob es so was im Absoluten gibt, spielt für uns Menschen keine Rolle. Wir erleben Dauer und wir erleben Vergänglichkeit. Wir können beides als wohltuend und beruhigend erleben, ebenso wie beängstigend. Betrachten wir beides unvoreingenommen, dann gibt es kein Probleme. Z.B. kann Krankheit wegen seiner Dauer (aha! Sie dauert nämlich eine gewisse Zeit, währenddessen uns Sekunden wie Stunden vorkommen.) als leidvoll betrachtet werden. Wir können uns jedoch mit dem Blick auf die Vergänglichkeit der Krankheit und des Lebens auch getröstet fühlen. Es ist der Blick, der Dauer und Vergänglichkeit leidvoll macht, nicht deren Eigenschaften.


    Was uns als Menschen anbelangt:
    Auch da ist eine gewisse Kontinuität unentbehrlich. Wie könnten wir einander vertrauen, wenn wir nicht wüssten, dass uns XY noch nie enttäuscht hat? Wie könnten wir einander beschenken, wenn wir nicht wüssten, dass ABC gerne Bücher liest? Er hat es vor einem Jahr getan, und heute tut er es auch. Wie könnten wir wissen, dass unser Baby immer schreit, wenn es Bauchweh hat? Das ist Dauer. Genetische Information sind Dauer, Instinkte sind Dauer, Gelerntes ist Dauer. Ein Problem entsteht doch nur dann, wenn kein Platz für andere Erfahrungen mehr ist, wenn wir uns verschließen.


    Liebe Grüße
    Doris