Wesen:
Was das Wirken zum Nutzen anderer angeht, habe ich euch jetzt so verstanden, dass ihr dies ebenfalls als Ausdruck von Anhaftung begreift, weil bereits die Motivation etwas für andere zu tun, die Anhaftung birgt. Das klingt erst mal logisch für mich, allerdings auch irgendwie ernüchternd.
Ein wenig komplizierter ist es schon. Das Problem hier verbirgt sich hauptsächlich im Begriff 'Motivation', der einen Willensakt impliziert. Eine Ausgangssituation wird als unbefriedigend (dukkhata, 'leidhaft') beurteilt, was den Willen weckt, diese Situation in eine befriedigende zu überführen. Buddha bestritt jedoch, dass dies möglich ist; gemäß seiner Lehre hat alles Sein (genauer: haben alle samskrta dharma) notwendig das Merkmal der Leidhaftigkeit. Wenn der Wille / die Motivation jedoch nicht auf eine andere Situation gerichtet ist, sondern auf die Auslöschung von 'Situationen' überhaupt (nirvana), dann ist sie nicht auf ein Objekt (eine 'Situation') gerichtet, an dem angehaftet werden kann, sondern auf die Negation aller Objekte (die stets Objekte des Anhaftens sind). Weiter: ob die "Motivation, etwas für andere zu tun" "Ausdruck von Anhaftung" ist, hängt insbesondere von der Sicht ab, was "andere" sind und was bzw. wer "motiviert" zum Tun ist. Wenn die Sicht gewonnen ist, dass beides ohne Substanz (atman) bzw. leer von einem (unabhängigen) Für-Sich-Sein ist, fehlt ebenfalls ein Objekt der Anhaftung - und ein Subjekt der Anhaftung.
Zweifellos hat Buddha nach seinem Erwachen "etwas für andere getan", er hat 45 Jahre lang gelehrt. Unter anderem die Heilsamkeit von grenzenlosem Wohlwollen (Liebe, maitri / metta) und Mitgefühl (karuna), wobei viele Buddhisten (wenn nicht die meisten) der Auffassung sind, dass karuna als tätiges oder aktives Mitgefühl aufzufassen ist. Meiner bescheidenen Auffassung nach zu recht. Die Frage ist natürlich: geht das ohne Anhaftung und wenn ja, wie. Mit dieser Frage haben sich vor allem Mahayana-Buddhisten befasst, für die karuna ein ganz zentraler Punkt ihrer Praxis ist. Ebenso zentral ist allerdings die Verwirklichung rechter Sicht und das bedeutet wiederum die Aufgabe des Anhaftens an Objekten des Mitgefühls und der Liebe sowie - als Voraussetzung dafür - an einem Subjekt, das durch Mitgefühl und Liebe motiviert ist.
Zitat
‘Jeglicher, o Subhuti, der hier den Pfad der Bodhisattvas betreten hat, muss seine Gedanken so gestalten: So viel Wesen es in dieser Welt des Daseins gibt, zusammengefasst unter dem Begriff der Wesen - sie seien aus einem Ei geboren oder aus dem Mutterleib, aus Feuchtigkeit entstanden oder durch Verwandlung - geformt oder ohne Form, denkend oder nicht denkend, oder weder denkend noch nicht-denkend; soweit Welten von Dasein bekannt sind, alle diese müssen von mir in der vollkommenen Welt der Auslöschung erlöst werden. Und dennoch, wenn so unermesslich viele Wesen erlöst wurden, wurde doch kein einziges Wesen erlöst. Und warum? Wenn, o Subhuti, ein Bodhisattva dem Gedanken eines Wesens anhinge, könnte er nicht Bodhisattva genannt werden. Und warum? Weil, o Subhuti, niemand ein Bodhisattva genannt werden sollte, für den der Gedanke eines Wesens, der Gedanke des Lebens oder der Gedanke einer Person existiert.’
(Vajracchedika Prajnaparamita Sutra / Diamantsutra)
Das Handeln des Bodhisattva - und darin folgt er dem von Buddha gewiesenen Weg - ist in diesem Sinne (dem des Anhaftens an Objekten des Mitgefühls und der Liebe) nicht motiviert. Es ist kein Handeln, das auf ein Ziel gerichtet ist, sondern auf ein Nicht-Ziel, die "vollkommene Welt der Auslöschung". Liebe und Mitgefühl sind dann aktiver Ausdruck der Natur des scheinbar Handelnden - die keine Eigennatur (svabhava) ist, sondern die des der zur Ruhe gekommenen Prozesses des Ergreifens und Anhaftens. Damit wird dieser Prozess 'durchlässig' für etwas, das sich in dualistischer Subjekt-Objekt-Wahrnehmung als Qualität eines Handelns zeigt - als universelles Mitgefühl und unbegrenztes Wohlwollen. Der "scheinbar Handelnde" ist deswegen nur scheinbar, weil der Handelnde wie auch der oder das Behandelte lediglich als konventionelle (und inadäquate, d.h. aus Verblendung resultierende) Begriffe exististieren - nicht jedoch als das, was der Begriff begreifen will. Tatsächlich ist das, woran man anhaftet, eben das, was man begreift bzw. ergreift. Das ist Selbsttäuschung (maya), weil der Begriff / das Ergriffene eine rein mentale Konstruktion ist, die eben nicht als 'Zeichen' etwas real Existierendes repräsentiert. Begriffe sind nur aufeinander bezogen (d.h. auf andere Begriffe), nicht auf die Wirklichkeit (tathata, 'Soheit'). Diese Inkongruenz von Begriffen und Wirklichkeit ist einer der Gründe für die Leidhaftigkeit alles Ergreifens und Anhaftens.
Auch, wenn es keinen Handelnden und keinen Behandelten gibt, so gibt es doch ein Handeln. Dieser auf den ersten Blick unsinnig erscheinende Gedanke wird vielleicht verständlicher, wenn man Handeln (mit dem Vorbehalt, dass wir auch hier nur mit Begriffen operieren) als unpersönlichen transformativen Prozess begreifen(sic!). Dieser Prozess, der das in der Subjekt-Objekt-Dualität Erfahrene verändert (es transformiert), ist entweder willensgesteuert - d.h. durch Begriffe motiviert, die nur scheinbar eine Realität abbilden - oder aber lediglich Ausdruck dessen, was im Mahayana 'Buddhanatur' genannt wird. Letzteres kann man die soziale Gestalt des Erwachens / der Erleuchtung nennen - freilich ist auch dies nur ein Begriff.
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