Ich halte es für müßig, mich weiter zur Ausgangsfrage zu äußern. Ich denke, wer der Diskussion aufmerksam gefolgt ist, kann problemlos ein Fazit ziehen, wie es mit der "Abwertung" hermeneutischer Ansatze, die sich vom eigenen unterscheiden, hier bei den Diskussionsteilnehmern aussieht. Auch und gerade inwiefern die "Theravada-Schule" davon eher vor- oder nachrangig betroffen ist. So oder so - ein Lehrstück, wenn auch kein schönes.
Trotzdem noch einige sachliche Anmerkungen. @pamokkha wegen seiner Nachfrage bzgl Abhidhamma und buddhavacana: 1. 'buddhavacana' war von mir wörtlich gemeint, also im Sinn von Gautama Buddha persönlich vorgetragen und im Palikanon wörtlich zitiert. 2. Die "beinharten Theravadin" von denen ich geschrieben habe, sind westlicher Herkunft - es sind Menschen, mit denen ich mich darüber austauschen konnte. Die meisten von ihnen bestehen auf einer Authentizität des Suttapitaka im o.g. Sinn, dass es sich also durchgehend um wortgetreu überlieferte Aussagen Gautama Buddhas handelt, so weit sie ihm dort zugeschrieben werden. Das macht für mich im wesentlichen das "beinhart" aus. Dass einer von ihnen das gleiche für den Abhidhammapitaka behauptet oder auch nur bestreitet, dass dessen Texte erst nach Buddhas Parinirvana entstanden ist, ist mir allerdings noch nicht passiert.
Dass es auch andere Interpretationen des Begriffs 'buddhavacana' gibt, ist mir selbstverständlich bekannt - nicht zuletzt beruht ja die Klassifizierung von diversen, lange nach Gautama Buddhas Parinirvana entstandenen Mahayana-Texten als 'Sutren' genau darauf. Auch ist mir bekannt, dass es sicherlich (und vor allem in Südostasien) "beinharte Theravadin" gibt, die schlicht und völlig unreflektiert schriftgläubig sind und für die der Tipitaka in seiner Gesamtheit buddhavacana im engsten Sinn ist. Was sie dann in aller Regel auch der Mühe enthebt, die Schriften ernsthaft zu studieren und daher den Diskurs mit ihnen ziemlich sinnlos macht. Es gibt zwar eine schöne und lesenswerte Anleitung dazu - aber man kann seine Zeit auch nützlicher vergeuden.
Ich habe aus dieser Diskussion vor allem etwas grundsätzliches über die Rezeption des Buddhadharma im Westen gelernt. Zum einen hinsichtlich der Frage, ob der Buddhadharma als eine Religion im Sinne eines Glaubenssystems anzusehen ist. In den Ursprungsländern ist diese Frage wohl kaum einer Diskussion wert; ich habe mich jedoch lange der Illusion hingegeben, im Westen könne eine Erneuerung stattfinden, eine Reduktion auf das Wesentliche - nämlich eine praktische Philosophie. Insbesondere habe ich da im Rahmen der Inkulturation auf eine Verschmelzung mit der westlichen Aufklärungstradition, mit der entwickelten geisteswissenschaftlichen Methodik (nicht zuletzt dem historisch-kritischen Umgang mit überlieferten Texten) gerechnet. Offensichtlich waren meine Erwartungen in dieser Hinsicht überzogen. Nun ist diese Einsicht sicherlich nicht durch diese spezielle Diskussion hier ausgelöst, sie hat mich lediglich auf einen bislang von mir übersehenen Aspekt aufmerksam gemacht - nämlich darauf, wie sehr der westliche, durch die monotheistischen Religionen geprägte Religionsbegriff die westliche Wahrnehmung unterschiedlicher buddhistischer hermeneutischer Traditionen formt. Es scheint unvermeidlich zu sein, dass diese unter Rastern wahrgenommen werden, die durch Begriffe wie 'Sekten' oder 'Abspaltungen' geprägt sind - hinter denen nichts anderes steht als der den monotheistischen Religionen gemeinsame Begriff der 'wahren Lehre', in deren Besitz eine definierte Gemeinschaft ist, während die außerhalb dieser Gemeinschaft Stehenden als Häretiker, Spalter, Abweichler usw. wahrgenommen werden. Die Rezeption des Buddhadharma unter solchen, durch eine lange Geschichte westlicher religiöser Intoleranz geprägten religiösen Paradigmen, scheint mir die eigentliche Wunde zu sein, auf die Ansätze wie der säkulare Buddhismus den Finger legen. Ob der säkulare Buddhismus die Lösung oder nur eine Verkomplizierung des Problems ist, ist allerdings eine andere Frage.
Hinsichtlich 'Sekten' (oder 'Schulen') bzw. der Formation des Mahayana sind die Berichte insbesondere der chinesischen Pilger des 7. Jahrhunderts Xuanzang und Yijing von Interesse, die darauf hindeuten, dass es in Zentralasien und Nordindien hinsichtlich Hinayana und Mahayana keine unabhängig voneinander existierenden Gemeinschaften gab, dass beides neben- und miteinander existierte. Das Mahayana hatte ja einen jahrhundertelangen Formationsprozess, in dem unterschiedliche Gedanken und exegetische Traditionen zusammenflossen - Prajnaparamita, Tathagathagarbha, Ekayana usw. usf. Diese Traditionen entstanden nach meinem Eindruck nicht nur auf dem Boden der alten 'Schulen', sie entstanden in ihnen, in Ordensgemeinschaften, die einen gemeinsamen Vinaya hatten und in denen es keinen verordneten Dogmatismus und keine Denkverbote, sondern eine offene Diskussionskultur gab. Bezeichnend ist hier die bei der Hinayana-Schule der Mahasanghika nachgewiesene Aufnahme von Prajnaparamita-Sutren in deren Sutrapitaka oder das Aufgreifen von Lehren der Lokottaravadin im Pseudo-Doketismus des Lotossutra. David Kalupahana vertritt (mE nachvollziehbar) die These, Nagarjunas MMK seien ganz wesentlich eine Kritik aus der Sthaviriya-Tradition an substantialistischen Tendenzen im Sarvastivada-Abhidharma - also in diesem Sinn gar kein 'mahayanisches' Werk. Noch in der Klosterlandschaft Chinas residierten Mönche der unterschiedlichsten 'Richtungen' in denselben Viharas, folgten demselben Vinaya, unterstanden demselben Abt - die Aufspaltung in organisatorisch und institutionell getrennte 'Sekten' ist hingegen erst eine typisch japanische Entwicklung - eine, die abendländischen Wahrnehmungsmustern (denen, die ich oben umrissen habe) entgegen kam.
Als Einschub noch eine Anmerkung @pamokkha: das macht auch das Bestreben der japanischen Delegation am Weltparlament der Religionen 1893 (der übrigens außer Shaku Sōen und Suzuki Teitarō auch Repräsentanten angehörten, die nicht dem Zen zuzurechnen sind) verständlich, sich von den südostasiatischen Buddhisten, die bislang dank der Theosophen in den Augen des Westens nahezu exklusiv den Buddhismus repräsentiert hatten, abzugrenzen. Dass man da auf die Bezeichnungen 'Hinayana' und 'Mahayana' zurückgriff, hatte - wie Du zu unterstellen scheinst - nicht notwendig herabsetzende Absicht. Das findet sich so nach meiner Erinnerung auch nicht bei Analayo, von dem Du wohl Deine Information hast. Man griff damit auf Kategorien zurück, die bereits Abel Rémusat in die Religionswissenschaft eingeführt hatte - bereits etwa ein Jahrhundert vor dem 'Weltparlament'. Entsprechend sah auch z.B. F. Max Müller 1894 in der Einführung zu seinen (anders als seine Editionen für ein breites Publikum gedachten) Übersetzungen von Diamant- und Herzsutra keinerlei Notwendigkeit, die Begriffe Hinayana und Mahayana näher zu erläutern, was bei einem neu eingeführten Begriff selbstverständlich gewesen wäre.
Was nun die Genese des Palikanon (die zweifellos in engem Zusammenhang mit der Genese der Theravada-Gruppe steht) angeht, so gibt es da zwei grundsätzlich verschiedene und anscheinend unvereinbare Positionen: die religiös-gläubige und die philologisch-religionswissenschaftliche. Eben wegen der Unvereinbarkeit ist es offensichlich auch sinnlos, da eine Diskussion zu führen. Zur Verdeutlichung letzterer (im wissenschaftlichen Bereich völlig unumstrittener) Position lediglich ein kurzes Zitat:
Zitat
Modern scholarship has established that the canons of the various schools developed gradually by a process of winnowing the oral traditions, and that therefore, neither the Pali canon nor any other canon should be regarded as the original canon. If there was an original canon, its outlines must be sought behind all the existing canons.“
(George D. Bond, The Word of the Buddha: The Tipiṭaka and its Interpretation in Theravada Buddhism. Colombo, Sri Lanka : M.D. Gunasena & Co., 1982)
Dieser Aufgabe widmet sich (neben vielen Anderen) z.B. Analayo mit seinen vergleichenden Untersuchungen der Nikayas und Agamas. Solche Untersuchungen führen nach meinem Dafürhalten punktuell zu durchaus interessanten Ergebnissen, insbesondere hinsichtlich einer relativen Stratigraphie einzelner Überlieferungsstränge. Ob solche "outlines" ("Umrisse", deren Aufsuchen noch ziemlich am Anfang steht) dann irgendwann einmal tatsächlich hinreichend sind, einen authentischen Frühbuddhismus (was immer noch kein "Originalbuddhismus" ist) zu rekonstruieren, bleibt abzuwarten. Wie weit dieser dann auch eine praktische Relevanz hat, ist noch einmal eine ganz andere Frage.
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