1. Sinnliche Berührung als Quelle von Glücksempfindung und Zufriedenheit
Kaum jemand, den ich kenne, verzichtet vollständig auf die Sinnlichkeit von Berührungen. Zärtlichkeit und gegenseitige Berührungen müssen natürlich kein expliziter Ausdruck von Sexualität sein. Es gibt aber durchaus Ähnlichkeiten etwa zwischen der Zärtlichkeit zwischen Mutter und Kind und der Zärtlichkeit eines Liebespaars.
Mein Eindruck: Je weniger die gierige Form von Sexualität im Vordergrund steht, desto ähnlicher wird zärtliche Erotik der Zärtlichkeit von Mutter und Kind.
Während ich einige Menschen kenne, die kein Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr haben, kenne ich niemand, der kein Bedürfnis nach zärtlichen Berührungen hat. (Die einzigen Berichte über solche Menschen ohne Bedürfnis nach zärtlichen Berührungen, die ich kenne, sind Berichte über Menschen mit bestimmten psychischen Erkrankungen, bei denen die Angst oder Ablehnung von Berührungen ein Krankheitssymptom darstellt.)
Offenbar ist das Bedürfnis nach Zärtlichkeit tief in unserer menschlichen Natur verwurzelt. Ein Leben ohne zärtliche Berührungen scheint kaum möglich zu sein. Menschen werden krank, wenn ihnen das fehlt.
Entsprechend finden sich sogar bei Mönchen, die nach den Vinaya-Regeln praktizieren, Formen zärtlicher Berührung. Da die Berührung von Personen des anderen Geschlechts tabuisiert ist, finden die zärtlichen Berührungen in Form gegenseitiger Massage statt.
Thich Nhat Hanh ist einen Schritt darüber hinaus gegangen, indem er Umarmungen auch von Mönchen und Nonnen als "Umarmungs-Meditation" (hugging meditation) einführte, also auch Zärtlichkeit zwischen den Geschlechtern.
Dass jemals ein Mensch durch den Verzicht auf sinnliche Berührung irgendeine "Befreiung" erlangt hat, ist mir nicht bekannt. Das Gegenteil scheint zuzutreffen.
Das alles weist darauf hin, dass Menschen Zärtlichkeit benötigen, noch viel mehr als Sexualität im engeren Sinne. Zärtlichkeit "überwinden" zu wollen, scheint also alles andere als weise zu sein.
Damit ist nicht gesagt, dass Zärtlichkeit mit einer Ausübung von Sexualität im engeren Sinne verbunden werden muss. Das kann eine Rolle spielen, muss es aber nicht.