Nehmen wir an, es gäbe ein himmlisches Gericht wie in manchen romantischen Vorstellungen von Christen.
Richtig und falsch sind doch keine moralischen Kategorien wie gut und böse, sodass Du eine Belohnung für das eine oder eine Strafe für das andere bekommst. Darum geht es doch dar nicht. Es geht um Kausalität und Folgenabschätzung für Dich und andere. Mir ist es egal, ob Shakyamuni herumgehurt hat oder nicht. Entscheidend ist für mich, dass er zum einen durch einen Erkenntnisprozess zu dem Schluss gekommen ist, dass diese Handlung bei ihm selbst und anderen zu vermeidbarem Leid führt, und zum anderen aufgrund dieser Erkenntnis diese Handlung eingestellt hat.
Die Sila sind keine olympischen Disziplinen, bei denen derjenige den meisten Ruhm erntet, der sie am erfolgreichsten absolviert. Die 10 unheilsamen Handlungen gelten als unheilsam, weil sie – wenn ich ihnen in meinem Leben viel Raum gebe – zu Problemen, Chaos und Leid führen. Sie sind kein Selbstzweck, sondern Teil einer Strategie, das Leben einfacher und friedlicher im Miteinander und im Verhältnis zu anderen zu gestalten. Und selbst das ist im Buddhismus kein Selbstzweck. Diese Beruhigung und Harmonisierung des Lebens bildet die Grundlage für die Praxis der Meditation und Kontemplation, die wiederum die Basis für Erkenntnis und Entwicklung sind.
Leerheit bedeutet nicht, dass Kategorien wie richtig und falsch, groß und klein, hell und dunkel nicht existieren würden, oder dass ich sie überwinden könnte oder sollte. Das ist ein typisches Missverständnis. Es bedeutet, dass die eine Kategorie nur in Abhängigkeit zu einer anderen existieren kann. Die relative und die absolute Existenzweise der Phänomene ist aber gleichwertig. Es wäre ein Irrtum zu denken, dass es richtig und falsch eigentlich ja gar nicht gibt, weil diese Kategorien nicht eigenständig existieren können. Sie existieren als dynamische Relationen, die sich im ebenfalls dynamischen Kontext zur gesamten Wirklichkeit immer wieder verändern. Darum werden im Buddhismus auch relative Wahrheit und absolute Wahrheit nicht als unterschiedliche Qualitäten aufgefasst. Beide Sichtweise existieren gleichwertig als zwei Seiten einer Münze. Daher auch der Ausdruck, dass selbst die Leerheit leer von inhärenter Eigenexistenz ist. Denn auch die Position von Shunyata existiert nur in Abhängigkeit zu einer Realität, in der Dinge nur in Abhängigkeit zueinander existieren. Anders gesagt: Im jedem Augenblick gerinnt die Potenzialität des Seinsgrundes (Shunyata) zur Wirklichkeit der erfahrenen Existenz, die ihrerseits wieder die Bedingungen für die Existenzweise des nächsten Augenblicks darstellt. Das ist die Dynamik von Karma und hat mit moralischen Kategorien nichts zu tun. Ursache und Wirkung sind hier die Schlüsselbegriffe.
Weil sich die Relation zwischen Kategorien richtig und falsch, und ihr Bezug auf die Wirklichkeit im Zuge der Unbeständigkeit immer wieder verschieben, hat sich auch z.B. die Auswirkung des Konsums von Fleisch im Laufe der Zeit sehr verändert und wird es weiter tun. So muss man immer wieder abwägen, welche Konsequenzen eine beliebige Handlung auf die gesamte Realität hat, heute mehr als früher, weil die globalen Vernetzungen viele Konsequenzen des eigenen Handelns verbergen. Instinkt ist da ein sehr schlechter Ratgeber. Informationen, vernünftiges Abwägen, Reflexion und Empathie sind da schon weit maßgeblicher.
Das eigentliche ethische Axiom im Buddhismus, das man vielleicht moralisch nennen könnte und das der jeweiligen Einzelentscheidung im Buddhismus zugrunde liegt, ist die Erkenntnis, dass alle Wesen Leid vermeiden und Glück erleben wollen, und dass es sinnvoll ist, das Leiden der Wesen zu mindern, wo immer es geht. Dieses Axiom findet seinen Ausdruck in ahimsa. Ich teile es.
Leid und Glück sind aber natürlich auch Phänomene, die keine inhärente Eigenexistenz haben, und nur in dynamischer Relation zueinander existieren. Diese Leerheit von inhärenter Eigenexistenz macht sich der Buddhismus zunutze, indem er durch die Praxis die Relation von Leid und Glück so weit verschiebt, dass die eigene Erfahrung, aber auch die Auswirkung des eigenen Seins auf andere, weniger leidvoll werden, indem nämlich die Abhängigkeit und Bedürftigkeit des eigenen Glücks von äußeren Bedingungen und somit oft vom Leid anderer reduziert wird. Das ist der Sinn der ethischen Disziplin im Buddhismus, das ist auch eines der wesentlichen Ziele der buddhistischen Lehre überhaupt.
Für mich sind die Schriften des Palikanon oder auch andere buddhistische Texte kein Steinbruch, in dem ich mir das herausbreche, was mir im Moment sinnvoll erscheint, sondern eher ein Wald von Metaphern und tradierten Erfahrungen, in dem ich eine leuchtende Spur der allmählich größer werdenden Freiheit wahrnehme. Durch eigene Erfahrungen konnte ich immer wieder Teile dieser Schriften bestätigen. Aber genau darum habe ich auch großen Respekt vor den Teilen, die ich (noch) nicht verstehe, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie schlicht aus mangelnder Erfahrung nicht verstehe, ist weit größer als dass sie Unsinn enthalten, der auf den Misthaufen der Geschichte gehören. Denn es ist ja auch so, dass Inhalte über viele Jahrhunderte gerade auch deshalb weitergegeben werden, weil sie Menschen mit ihren Erfahrungen bestätigen können. Diese unzähligen Menschen, die eine Tradition gelebt, erfahren und zum Teil unter Einsatz ihres Lebens weitergetragen haben, sind sicher nicht dümmer oder machtbesessener oder korrupter als ich. Eher ist es wahrscheinlich andersherum.
Mir ist Deine Skepsis in Bezug auf Autoritäten und "heilige" Text nicht fremd. Mein Ich von vor 20 Jahren würde Dir in den meisten Punkten zugestimmt haben, vor allem weil die stark übertriebenen Vorstellungen von meinen eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten aus mir selbst eine unerschütterliche Instanz zu Beurteilung von Wahrheit und Täuschung, Sinn und Unsinn, Aufklärung und Verblendung gemacht hatten. Dieses Selbstbild hat die letzten Jahre glücklicherweise nicht überlebt, was vor allem daran lag, dass ich durch eigene Erfahrung Sachverhalte bestätigen musste, über die ich mich zuvor echauffiert oder lustig gemacht hatte.
Ich habe mich in der Vergangenheit viel geschämt im Geheimen, wenn ich merkte, dass ich das Maul mal wieder sehr weit aufgerissen hatte, ohne auch nur im Ansatz zu verstehen, worüber ich hergezogen, was ich verspottet, was ich als religiöse Spinnerei und Verblendung abgetan habe. Und wahrscheinlich werde ich diese Erfahrung zukünftig auch noch machen, zumindest hoffe ich das.