Beiträge von Sudhana im Thema „Nagarjuna: Die Lehre von der Mitte“

    Herzlichen Dank Mabli insbesondere für den Verweis auf den Geschichtsbegriff der kritischen Theorie. Benjamin habe ich da nicht so auf dem Schirm, habe nur vor ewigen Zeiten mal Salzingers 'Swinging Benjamin' gelesen und war echt angetan davon, verlor ihn dann aber aus den Augen.


    Die Zitate Horkheimers und Benjamins jedenfalls verdeutlichen das erste der drei 'Seinsmerkmale': anitya / anicca. Das 'Geschichtliche' (dessen Studium ein Steckenpferd ist, das ich gelegentlich reite) ist das Wandern des Seienden durch Samsara, wobei jeder Aspekt des aktuell Seienden der Dynamik des konstanten Wandels unterworfen ist - nicht zuletzt seine Kognition.

    Bis hierher:

    Nagarjuna beweist ganz nebenbei, dass Nibbana nicht beständig ist, sondern auch dem ersten Satz unterworfen ist. Nagarjuna bestätigt Buddha, den er wohl doch angezweifelt hatte, warum sollte er sich sonst so eine Arbeit gemacht haben?

    ... meine Zustimmung. :like:


    Nun ja - dann kann ich nicht mehr so ganz folgen. 'Beständig' (nitya) oder 'nicht-beständig' (anitya, Pali anicca) sind Urteile, die allenfalls auf saṃsāra anwendbar sind. Anitya, also unbeständig, sind 'zusammengesetzte Seinsmomente' (saṃskṛtadharma), weil sie durch das 'Zusammensetzen' in der Anschaung (die Funktion des samskāra skandha) bedingt sind. Nirvāṇa hingegen ist definiert als asaṃskṛta - nicht 'zusammengesetzt' und daher auch nicht anitya. Entsprechendes gilt für die anderen beiden Seinsmerkmale, anātman und duhkhatā. Auf nirvāṇa als Nicht-Zusammengesetztes, Nicht-Ergiffenes, sind schlicht keine Kriterien für ein Urteil wie 'beständig' oder 'nicht-beständig' anwendbar.*


    Wobei sich Nagārjuna ja einige Mühe gibt, darauf aufmerksam zu machen, dass solche Urteile (er geht ja etliche beispielhaft durch und dekonstruiert sie) ins Leere fallen - weil sie implizit eine Substanz als zu Beurteilendes voraussetzen und nicht einen Funktionsprozess, dessen momentane Form ein sich ständig aktualisierender Konditionalnexus (pratītyasamutpāda) ist.


    Er entlarvt sie als rein apriorische Urteile, als 'Ergriffenes'. Wenn man sich solcher Urteile enthält**, zeigt sich, dass die 'Seinsgrenze' (bhūtakoṭi) von nirvāṇa und saṃsāra in eins fällt. Was nicht heisst, dass nirvāṇa und saṃsāra dasselbe sind (wie gerne etwas verkürzt behauptet wird), sondern dass es sich um unterschiedliche Modi von Sein handelt - identisch sind sie nur an der Seinsgrenze, an der sie sich treffen.



    * Wobei ich der Vollständigkeit halber anmerke, dass das Mahāyāna Mahāparinirvāṇa Sūtra da eine andere, dualistische (und heterodoxe) Position vertritt und nirvāṇa explizit die 'spiegelbildlichen' Qualitäten ātman, nitya und sukha zuspricht. Im Kontext Madhyamaka ist das allerdings ohne Belang.


    ** Was fast schon als Definition von Zazen gelten könnte - und damit auch darauf verweist, für wen Nagārjuna seine MMK verfasst hat. Nicht für spekulative 'Nur - Philosophen', sondern als Hinweis für Dharma-Praktizierende. Erst in und durch solche Praxis lassen sich die MMK in ihrer Tiefe ausloten.

    Mal interessehalber - schreibt Geldsetzer etwas zur ersten deutschen Übersetzung des Zhong lun von Max Walleser? Offen gesagt hätte ich eine deutsche Übersetzung Nāgārjunas Dvādaśanikāya-śāstra / Shiermen lun für ein größeres Desiderat gehalten als noch eine MMK-Übersetzung ... Okay, Übersetzung mit chinesischem Originaltext ist ein Alleinstellungsmerkmal - aber wer kann damit wirklich etwas anfangen?