Ich hatte ja kürzlich den Begriff buddhavacana ("Buddhawort") im Kontext einer Diskussion der 5. Śīla verwendet, ohne mein Verständnis davon näher zu erläutern, was ich hier nachholen möchte. Ich persönlich sehe das pragmatisch: buddhavacana / butsugo sind für mich die im sutta-pitaka des Palikanon bzw. als shutara zō im Tripitaka kanonisierten Texte. Dass dieseTexte 'Authentizität' und damit Autorität beanspruchen durch Berufung auf die Urheberschaft eines Lehrers namens Gautama, der im 6. oder wohl eher 5. Jhdt. v.d.Z. im Großraum Magadha den Sangha begründete, ist sicher weitestgehend eine Fiktion. Für mich beziehen diese Texte ihre Autorität vom Sangha; eben durch die Kanonisierung . Das ist für mich nach dem Aspekt gemeinsamer Übung der zweite Grund, nicht nur zu Buddha und Dharma, sondern auch zum Sangha Zuflucht zu nehmen, der den von Buddha offengelegten Dharma durch die Zeiten trägt; wobei dieser wie auch der Sangha unweigerlich Form und Gestalt ändert.
Wie schon gesagt, ein pragmatischer Zugang. Wobei der philologische Zugang für mich durchaus ebenfalls von (freilich nachrangigem) Interesse ist. Dieser untersucht eben die genannte Transformation von Form und Gestalt im historischen Prozess, was Einblick in den Gehalt des so Transformierten geben kann (nicht muss). In den Sinn des Kommens von Bodhidharma aus dem Westen, wie man es in meiner Übungstradition verklausuliert.
Um auf das eingangs Geschriebene zurück zu verweisen: Verständnis (selbst meines
) ist immer und notwendig subjektiv. Mir ist bewusst, dass gerade in den asiatischen, seit Jahrhunderten vom Buddhismus geprägten Kulturen das Verständnis und die Perspektive der großen Masse sich als 'Buddhisten' verstehender Menschen hinsichtlich der schriftlichen Tradition eher auf den Buddha als den Sangha gerichtet ist - und zwar auf Buddha als eine historische und trotzdem transhumane Person. Das ist Teil des religiösen Aspekts, der auch in den 'konkurrierenden' Weltreligionen als Fundamentalismus auftritt und in der Moderne zu einer Quelle kognitiver Dissonanz wurde. Im Buddhismus steht solch eine fundamentalistische Auffassung meiner Meinung nach ironischerweise darüber hinaus in einem Widerspruch zur Kerndoktrin anatman, da sie 'Buddha' als Person versteht.
Es ist (wie auch bei dem galiläischen Wanderprediger Jeschua) höchst wahrscheinlich, dass Gautama Śakyamuni als historische Person tatsächlich existierte und Begründer / Impulsgeber der heutigen, seinen Namen tragenden Überlieferung war. Und im gleichen Maße wie bei Jeschua wird sich wohl nie aufklären lassen, was konkret diese historische Person gelehrt hat und was spätere Ergänzung / Vertiefung / Ausformung dieser Lehren ist. Konkret fassbar - mit historischen oder philologischen Mitteln - sind Personen wie Gautama oder Jeschua nicht, wir können lediglich aus der fassbaren Wirkung eine Person als Ursache annehmen. Eine solche Annahme ist zwar hoch plausibel, aber nicht zwingend.
Ein dabei nicht zu überwindendes bzw. aufzuklärendes Problem (jedenfalls nicht mit philologischen Ansätzen) ist die Beziehung zwischen den Lehren dieser historischen Person und den nach ihrem Tod kanonisierten und mündlich tradierten Texten, die ihr in den Mund gelegt wurden. Offensichtlich wurden diese Texte zumindest für die mündliche Weitergabe angepasst, also mnemotechnisch optimiert (Bronkhorst kann ich da nicht folgen). Und ebenso offensichtlich wurden die so aufbereiteten Texte bis zu ihrer Verschriftlichung redigiert, was der Vergleich des Palikanon mit der nördlichen Überlieferung (sog. Sanskrit-Kanon, von dem die alten Schulen wiederum verschiedene Redaktionen hatten) zeigt. Da gab es offensichtlich aus didaktischen Gründen Umstellungen und Verschiebungen, aber auch Streichungen und Ergänzungen. Bei allen Schulen (auch den Prä-Theravadin). Die Frühbuddhismus-Forschung hat gezeigt, dass es in allen auf uns gekommenen Kanones (bzw. den erhaltenen Bruchstücken und Übersetzungen) zeitlich distinkte Überlieferungsschichten gibt und sich die Frage, welche verschriftete Fassung / Form die älteste ist, allenfalls bei einzelnen Texten vergleichend klären lässt, nicht jedoch hinsichtlich einer ganzen Textsammlung. So ist es beispielsweise eben nicht der Fall, dass der Palikanon (als erster verschriftlichter Kanon) generell die älteste verschriftlichte Form dieser Lehrtexte wiedergibt - auch wenn das für viele (aber bei weitem nicht alle) Einzeltexte zutrifft.
Die Frage nach der 'Authentizität' buddhistischer Lehrtexte ist nur in und mit ihrer praktischen Umsetzung zu klären. Die philologische Untersuchung gibt uns lediglich Argumente für mehr oder weniger plausible Spekulationen an die Hand.
Was Ajahn Dtun angeht - auch, wenn ich seiner Auffassung, dass der "authentische" Dhamma nur "im eigenen Herzen" und nicht in den Schriften zu finden ist, zustimme, so ist es doch ein Fakt, dass sich ein Schatz einfacher finden lässt, wenn man eine Schatzkarte hat.