Beiträge von Sudhana im Thema „Dalai Lama entschuldigt sich…“

    Okay, wenn das Fazit der Debatte ist 'Hauptsache, der Spass kommt nicht zu kurz', hätte man sie sich mE auch sparen können. Yoshikind : der Verweis auf eine systemische Kultur sexuellen Missbrauchs (nicht nur von Knaben) in Tibet vor 1951 sollte nochmals verdeutlichen, dass der exkulpierend gemeinte Verweis auf auf eine tatsächliche oder vermeintliche tibetische kulturelle Eigenheit eine zweischneidige Sache ist. Dass dieser kulturelle Aspekt nicht ohne Aus- und Weiterwirkung auf die danach im Westen akkulturierten tibetischen Institutionen war und ist, sollte nicht erstaunen.


    Das spezielle Problem im Westen ist ein ganz anderes kulturelles Missverständnis - dazu ein Verweis auf eine gestern von mir in einem anderen Unterforum vorgestellte recht kompakte Arbeit. Noch deutlich knapper (die soziale Lage in Tibet vor der chinesischen Okkupation wird vergleichsweise nur angerissen), dafür auf Deutsch: Die Sache mit Tibet.


    Ansonsten etwas offtopic (nicht wirklich, wie ich finde) noch einige Hinweise für die persönliche, alltägliche Praxis:

    Warum es so schwer fällt, sexuellen Missbrauch wahrzunehmen
    #Missbrauch #Wahrnehmung #VermutungWird ein Fall von sexuellem Missbrauch an einem Kind aufgedeckt, so wird den Vertrauenspersonen der Opfer oftmals bewusst...
    www.youtube.com

    Und damit bin ich hier dann auch endgültig raus.

    Einen unvoreingenommenen Blick kann ich im Vermuten und Schnipsel-Kommentieren nicht erkennen.

    Wesewegen ich auch immer deutlich gemacht habe, was mehr oder weniger plausible Vermutungen sind. Und im Übrigen immer auf die Situation selbst verwiesen habe, auf Körpersprache und Mimik. der Beteiligten. Dass Du selbst mit dem Verweis auf das Interview (in recht vorwurfsvollem Ton) nichts anderes als "Vermuten und Schnipsel-Kommentieren" betrieben hast, ist Dir hoffentlich bewusst.

    Jeder braucht einmal eine Auszeit von sich selbst.

    Ich würde vorschlagen, Sie nehmen sich selbst eine Auszeit - zumindest von dieser Diskussion. Ihre Einwürfe tragen in keiner Weise dazu bei und sind schlicht offtopic.


    Wenn sie schon die ganze Debatte als "Schaumblasen, Illusionen" qualifizieren, dann frage ich mich (und bei dieser Gelegenheit hier auch Sie), weshalb sie sich überhaupt selbst in diese Debatte einmischen. Diese Metadiskussion, die Sie hier unbedingt anzetteln wollen, trägt nichts bei. Wenn es darum geht, den eigenen Wahrnehmungen und ihren Deutungen zu misstrauen - das hatten wir schon. Wenn es darum geht, Samsara zu ignorieren - was wollen Sie dann hier? Davon abgesehen - hätte Buddha Samsara ignoriert, gäbe es keinen Buddhadharma. Schon gar keinen Vinaya.

    Welchen grundsätzlichen Charakter 'Sichtweisen' (dṛṣṭi / diṭṭhi) haben, ist nicht nur Ihnen bekannt und womöglich auch bewusst. Dessenungeachtet geht es hier in dieser Debatte um heilsame und unheilsame Sichtweisen - um die Funktion, die Sichtweisen erfüllen. Auch, wenn sie illusorisch sind.


    Ein persönlicher Hinweis noch - ohne gelegentlichen Rückzug in die Stille wären solche Debatten für mich nur schwer erträglich und führbar. Aber diese Stille blendet nichts aus; sie ist in mir und nicht den Dingen. Und in der Rückkehr zu den Dingen werden die Dinge still - sie sind, wie sie sind, nicht mehr und nicht weniger. Heilsam oder unheilsam. Darüber sprechen wir hier.

    Ich frage mich, ob diejenigen, die den Worten des Jungen, der beschreibt, wie er die Begegnung mit dem DL empfunden hat, keine Bedeutung beimessen, auch nur einen Augenblick darüber nachgedacht haben, ob es sein könnte, dass sie diejenigen sein könnten, die die Empfindungen des Kindes grob beiseite wischen.

    Kann man natürlich. Ich frage mich etwas Anderes. Die Rolle der Mutter bei diesem Event hat Leonie ja dankenswerterweise verdeutlicht (auf die Idee ist Frau Klein vom DLF offensichtlich nicht gekommen). Sie war Veranstalterin und der DL Ehrengast des Events - ein echter PR-Coup, der es ja dann auch zu einem ausführlichen Bericht in der VOA Tibetan gebracht hat. Übrigens kein tibetischer Sender (wie Tenzin Peljor zu glauben scheint), sondern das tibetischsprachige Programm eines us-amerikanischen Regierungssenders für Auslandspropaganda. Ob und wieviel Geld da welche Hände gewechselt hat - sei's drum. Die Organisation der Mutter scheint jedenfalls eine philanthropische Ausrichtung zu haben; so weit, so gut.


    Ob nun der Wunsch nach einer Umarmung als emotionaler Höhepunkt der Inszenierung tatsächlich Intitiative des Jungen war (den auch ich eher auf 10 als auf 7 Jahre schätzen würde; ich schrieb etwas vage von 'Vorpubertät') oder auf Initiative seiner Mutter zurückging (die "Überraschung" könnte ja durchaus auch gespielt sein) wird sich wohl kaum zweifelsfrei feststellen lassen. Deutlich unwahrscheinlicher schon ist allerdings die Annahme, die Initiative zu dem Interview - unter den wachsamen Augen der Mutter - sei von dem Jungen ausgegangen. ME wäre es naiv anzunehmen, der Junge sei vor dem Interview nicht instruiert worden. Man kann das als einen zweiten Missbrauch (natürlich nicht im juristischen Sinn) auffassen - als Benutzung des Kindes für Interessen, die nicht die seinen sind.

    Ist er der Hofnarr des Westens?

    Von Narrenfreiheit schrieb ich ja auch schon - wobei ich das zunächst für ein internes Problem des tibetischen Buddhismus halte, das mit hierarchischen Strukturen und dem entsprechenden Fehlen einer 'peer control' an der Spitze zusammenhängt. Das sind in meinen Augen ausgesprochen feudale Strukturen, nicht zuletzt geformt durch eine Jahrhunderte währende klerikokratische Geschichte. Große Teile der westlichen Öffentlichkeit haben diese Narrenfreiheit bzw. das entsprechend tolerierte Verletzen sozialer Konventionen lange als charmante exzentrische Idiosynkrasie akzeptiert - nicht zuletzt, weil der DL der weniger (oder gar nicht) mit buddhistischen Lehren vertrauten Öffentlichkeit von den Medien als Repräsentant einer friedfertigen, von chinesischen Kommunisten grausam unterdrückten Kultur präsentiert wurde, was entsprechende Sympathiewerte erzeugte. Wobei die Verklärung des historischen Tibet zu einem spirituell erhabenen Shangri-la (eine Geschichtsklitterung) nicht wenig dazu beitrug. Nun ist der Bogen überspannt. In diesem speziellen Fall wurden für große Teile der Öffentlichkeit (nicht nur der westlichen, auch beispielsweise der indischen) die Grenzen des Akzeptablen deutlich überschritten. Missglückt der Scherz allzu sehr, landet selbst der Hofnarr auf dem Schafott.


    Jampa Tsedroen (Carola Roloff) sagt in der erfreulich unaufgeregten Sendung des DLF (vgl. #248) etwas mE recht Zutreffendes über den DL: er ist ein Clown, der vor allem bei Kindern gut ankommt. Auch - und natürlich relativiert sie das noch weiter. Immerhin ohne die Unangemessenheit des Verhaltens zu entschuldigen oder gar zu leugnen - in diesem Fall war der Clown für das weltweite Publikum alles andere als lustig, auch wenn einige bei dem Vorgang Anwesende das zum Lachen fanden. Genau da zeigt sich ein Aspekt, auf Tenzin Peljor in dem Radiobeitrag verweist, nämlich das Fehlen jeglicher Aufarbeitung strukturellen Kindesmissbrauchs speziell in der tibetischen Klosterkultur. Dass es beispielsweise gerade bei den Gelug des DL einen Unterorden gibt, der zumindest bis 1951 durch eine ausgesprochen militant-päderastische Subkultur geprägt war (auf Kosten der Kinder von Laien) - das sind Dinge, auf deren Aufarbeitung wir wahrscheinlich noch lange warten können.

    Gestehen sie ihrer Wahrnehmung auch einen blinden Fleck zu?

    Den habe ich gewiss wie Jeder und vielleicht mehr als einen. "Heftige Emotionen" habe ich bei dieser Geschichte allerdings keine (was die Wahrscheinlichkeit eines blinden Flecks vermindert), auch wenn ich sie sehr gut verstehe; ich bin glücklicherweise selbst kein Opfer sexuellen Mißbrauchs gewesen und meine Haltung gegenüber tibetischen buddhistischen Institutionen ist dieselbe wie die gegenüber meiner eigenen: kritisches Wohlwollen. Ich habe da nichts zu verlieren oder zu gewinnen.


    Und ich streite hier nicht über irgendeinen Buddhismus, sondern ich äußere mich über das Verhalten eines buddhistischen Würdenträgers und 'role models'; darüber, wie dieses Verhalten wahrgenommen wird und welche Wirkungen es erzeugt. Vielleicht trägt das ja dazu bei, dass auch Andere ihre Wahrnehmung auf emotionale Verzerrungen prüfen. So lernt man.

    Ich wünsche Ihnen Ruhe und Gelassenheit und Liebe.

    Danke, gleichfalls. Zumindest von letzterem ist hinreichend vorhanden für Mitgefühl. U.a. auch für den Dalai Lama und den kleinen Jungen. Das macht es schwer, solche Dinge zu ignorieren - und ein solches Ignorieren ist auch nicht wirklich 'Gelassenheit' sondern eben schlicht Ignoranz.

    Echt jetzt? Wird das jetzt so vermittelt?

    Wer sagt das?

    Da wird es noch mehr solche Stories geben. Eine der nach meinem Empfinden abstrusesten (der DL hat den Jungen durch Anblasen ins Gesicht 'gesegnet') habe ich ja oben ausführlich zitiert, auch um die Geisteshaltung der Autorin, ihre offensichtlich heftige emotionale Betroffenheit, sichtbar zu machen. Das soll diese Geisteshaltung nicht abwerten, aber eine gewisse Realitätsverleugnung wird da mE schon sichtbar. Diese Geschichte wurde übrigens erstaunlicherweise von dem (von mir hoch geschätzten) Tenzin Peljor verbreitet. Was ich ihm btw nachsehe; er ist Gelug und vom DL, den er sehr verehrt, selbst ordiniert.


    Von den (medien-)politischen Aspekten und den Folgen für die öffentliche Wahrnehmung des Buddhadharma abgesehen, die ja hier auch schon angesprochen wurden, ist doch dieser ganze Shitstorm (der freilich nicht ohne Anlass bläst) in einer besonderen Hinsicht von Interesse - was Du, Noreply , mE übersiehst. Das ist die erstaunlich diverse Wahrnehmung dieser Interaktion zwischen einem Greis und einem Kind - was natürlich die Frage aufwirft: was ist bzw. war hier real?


    Wobei 'Wahrnehmung' zumindest im buddhistischen Sinn (samjñā) hier nicht der passende Begriff ist. Unsere Wahrnehmung in der Form (rūpa) eines Menschen ist zwar durch instinktive Reaktionen (vedanā) individualisiert (ein Lern- und Konditionierungsprozess), aber die von der menschlichen Form durch Kontakt (sparśa / phassa) produzierten Daten sind für die wahrnehmenden Menschen identisch. Auf dieser Prämisse beruhen nicht nur die empirischen Wissenschaften, sondern sie ist auch Voraussetzung jeder Kommunikation.


    Daraus sollte deutlich werden, dass die Kognition schon auf dieser Ebene mit individueller Erfahrung verbunden, konditioniert, und daher emotional 'besetzt' ist. Das erklärt insbesondere die spezielle Wahrnehmung dieser Interaktion, in der die Intimdistanz* des Jungen gegen dessen (nicht notwendig bewusst) ignorierten Widerwillen wiederholt überschritten wird, bei Missbrauchsbetroffenen und den VertreterInnen ihrer Organisationen - das 'triggern'. Bei allem Verständnis und Toleranz für kulturelle Prägungen, aber meines Erachtens ist es sehr zu hoffen, dass sich über alle Kulturen hinweg die Einsicht durchsetzt, dass ein Unterschreiten der Intimdistanz von dem/der Betroffenen explizit erwünscht sein muss, gleich welchen Alters oder Geschlechts der/die Betroffene ist. Und gleich, welchen Heiligkeits- oder sonstigen sozialen Status der Übergreifer / die Übergreiferin hat. Diese Genze wurde nach der vom Kind (vermutlich auf Initiative der Mutter) erbetenen Umarmung mit dem vom Greis erbetenen Kuss auf die Wange erreicht. Sie wurde im Folgenden mehrfach überschritten. Das ist nicht okay (akuśala) und auch kulturell nicht zu rechtfertigen, auch wenn man über die in der Situation gegebenen Ursachen und Bedingungen gewiss diskutieren kann.


    Um auf den Kognitionsprozess zurück zu kommen - es ist die Praxis buddhistischer Geistesschulung, insbesonde in Form der Achtsamkeit, smṛti/sati, aufsteigende Empfindungen (also die Funktion des vedanāskandha) wahrzunehmen - und damit auch dessen Einfluss auf die Wahrnehmung (samjñā), um ihn zumindest auf ein sinnvolles Maß (mehr Lernen, weniger Konditionierung) zu begrenzen.


    Nun tritt zum Kognitionsprozess / Ergreifen (upādāna) der Situation noch ein weiterer Faktor hinzu, bevor die Situation zum Objekt des individuellen Bewusstseins (vijñāna) wird: ein ebenfalls weitgehend konditionierter Wille (cetanā); der entscheidende Geistesfaktor karmischer Bedingtheit. Auch hier wird die Wahrnehmung von einer weiteren Funktion 'besetzt': Hoffnungen und Ängsten, wurzelnd in der Dualität von Gier und Hass, die den Willen ausrichten und das aktive Handeln steuern. Entsprechend werden die diversen Aspekte der Kognition in Relation zueinander gesetzt (samskāra) und bilden so die Situation als Bewusstseinsobjekt ab. Erst dieses (schwer retuschierte) 'Abbild' ist es, was wir im gewöhnlichen Sprachgebrauch 'Wahrnehmung' nennen.


    Dies liefert insbesondere eine Erklärung für die diversen 'Wahrnehmungen' der Situation auch von Buddhisten - ihre Ursache (will man nicht Böswilligkeit unterstellen) sind die unterschiedlichen Relationen des Bewusstseinsobjektes; die damit verbundenen emotionalen Bedingungen, Erwartungen und Befürchtungen. Die sind bei 'Dalai-Lama-Verstehern'** andere als bei - beispielsweise - mir.


    Dass wir als Zuflucht Nehmende um die Klärung unserer Kognition von konditionierten Empfindungen, von Erwartungen und Ängsten bemüht sein sollten, ist sicher für Niemanden hier etwas Neues. Das eröffnet auch die Möglichkeit des Perspektivenwechsels, von Empathie und ermöglicht damit die Praxis heilsamer sozialer Geisteshaltung: maitrī, karuṇā, muditā, upekṣā.

    Was nichts daran ändert, dass bei den 'Dalai-Lama-Verstehern' die Perspektive des Jungen und die Empathie mit ihm meines Erachtens zu kurz kommt. Und da sage ich ganz offen: ich konstatiere da einen blinden Fleck. Eine Diagnose, kein Vorwurf.


    *um das posting nicht allzu sehr auszuweiten, soll hier ein kurzer Verweis auf die Kommunikationswissenschaften, Psychologie und Ethnologie übergreifende Wissenschaftsdisziplin der Proxemik genügen. Diese stellt u.a. zwar fest, dass die verschiedenen Formen sozialer Distanz (die Intimdistanz mit inbegriffen) auch kulturell bedingt sind. Dass die Intimdistanz zwischen einem alten Mann und einem nicht mit ihm verwandten Jungen in der Vorpubertät (also kein Kleinkind) in Amdo nahezu Null sein soll, ziehe ich allerdings stark in Zweifel.


    ** Da der Ausdruck kritisiert wurde, vorsorglich eine kleine Rechtfertigung. Zum einen ist die Spaltung in ein Pro- und Kontra-Lager mit unversöhnlich scheinenden Positionen, die weitgehende Undifferenziertheit im öffentlichen Diskurs, eine zu charakteristische Parallele zu einem anderen, etwas ernsteren Diskurs (wo es um ganz andere Übergriffe geht), als dass man nicht darauf verweisen könnte. Da ich selbst gelegentlich schon als 'Putin-Versteher' geoutet wurde, nimmt man mir hoffentlich ab, dass 'Dalai-Lama-Versteher' nicht moralisch oder sonstwie abwertend gemeint ist. Es ist es für mich lediglich ein Sammelbegriff für die jede Kritik an der Situation zurückweisenden und relativierenden Stimmen - aus sehr unterschiedlichen Gründen und Dispositionen heraus.

    Strukturen des Missbrauchs am Beispiel der Relativierung

    Aber du bauscht das Thema auf zu etwas, was die ganzen Verdienste in Schutt und Asche legen kann.

    Ich denke mal, von den Verdiensten ist bereits eine ganze Menge in Schutt und Asche gelegt und zu solch einem Thema nur edles Schweigen oder abwiegelnde Worte anzubieten, ignoriert das Problem und vermeidet einen Lerneffekt. Was erfahrungsgemäß meistens für noch mehr Schutt und Asche sorgt. So jedenfalls meine Sicht.


    Was das 'Aufbauschen' angeht - so viel ist da nun mE wirklich nicht mehr aufzubauschen. Immerhin hat es diese peinliche Geschichte beim deutschen Leitmedium ZDFheute zu einer Story im Webauftritt gebracht - so viel Ehre hat man, glaube ich, nicht einmal Sogyal Lakar angetan. Ich denke, die Zeiten öffentlichen unkritischen Wohlwollens dem Buddhismus gegenüber neigen sich deutlich ihrem Ende zu. Ein Wohlwollen, das zweifellos nicht zuletzt mit der Person des DL verbunden ist/war. Was mir, offen gesagt, nie so recht geheuer war - aber okay, mir ist klar, dass die meisten in einer tibetischen Tradition Übenden das anders sehen.


    Jedenfalls halte ich es für ausgesprochen wünschenswert, dass buddhistische Medien - seien es U&W oder beispielsweise dieses Forum hier - klar und offen Stellung zu dieser Geschichte beziehen. Das tut der Kommentar in der U&W, mE ohne den Vorgang aufzubauschen. Dass auch ich der Auffassung bin, dass die 'kulturelle Frage' - wie auch immer man sie beantwortet - nichts an dem offensichtlich übergriffigen Sachverhalt ändert, ist hier wohl deutlich geworden; die Antworten erklären allenfalls die Form des Übergriffs. Und - wer weiss - vielleicht gibt es ja, wenn sich die Wogen geglättet haben, auch eine etwas substanziellere Stellungnahme der DBU. Auch das wäre mE wünschenswert.


    Um auf die "Schuldfrage" zurück zu kommen - es ist natürlich richtig, dass da zu differenzieren ist. Zentral ging es mir da um Schuldfähigkeit, die bei einer Demenzerkrankung idR nicht gegeben ist - also um juristische Schuld. Die von mir der Entourage - also den Leuten, die den DL betreuen, bedienen und beschützen sollen - zugewiesene Schuld ist natürlich eine moralische. Wobei ich außerhalb des juristischen Kontextes wegen der christlichen Implikationen eher ungern von Schuld spreche, sondern davon, einer übernommenen Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein.

    Und Thread zu schließen fände ich nicht falsch.

    Da kann ich mich anschließen - in zweihundert Beiträgen (mit diesem hier 201) sind die unterschiedlichen Sichtweisen mE hinreichend deutlich geworden. Und ich vermute mal, dass das unheilsame Potential der erörterten Handlung, wie es sich zumindest in seiner medial vermittelten Wirkung zeigt, nicht weiter strittig ist (von kongjiazhong mal abgesehen ...).

    Darum geht es in einem solchen Thread auch nicht in erster Linie, sondern um die Verarbeitung eigener Gefühle

    Nun - ich habe keine Aktien bei den Hochländern und da daher auch nicht groß "Gefühle" bei dieser Sache. Zumindest mir geht es hier - wie in den meisten Threads in diesem Unterforum - um den Schaden, den das in der öffentlichen Meinung zum Thema 'Buddhismus' anrichtet. Was impliziert, dass solche Vorkommnisse vielen Menschen den Zugang zum achtfachen Pfad verschließen. Es sind Fehler, aus denen man lernen könnte, wenn man sie denn nüchtern betrachtet und die richtigen Schlüsse daraus zieht. Das ist es, was mich veranlasst, dazu Stellung zu nehmen.

    Yoshikind : ein Dialog setzt voraus, dass man Argumente des Dialogpartners zur Kenntnis und auch ernst nimmt. Möglicherweise ist dieser Thread zu lange geworden, als dass da alles im Gedächtnis geblieben wäre, darum meine Aussagen zur Verdeutlichung noch einmal unmissverständlich zusammengefasst: ich habe hier in diesem Thread von Anfang an die Position vertreten, dass die naheliegendste Interpretation des im Video dokumentierten Vorgangs ist, dass hier ein altersbedingtes Versagen der Impuls- bzw. Verhaltenskontrolle vorliegt, was - wie ebenfalls schon ausdrücklich angemerkt - eine Schuldfähigkeit ausschlösse. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, sich die zurückliegenden Postings von mir noch einmal anzuschauen, bevor man mir freihändig das Gegenteil unterstellt - so etwas nenne ich "Kampfrhetorik".


    Was meine Spekulationen über den Impuls angeht, bei dem da die Impulskontrolle versagte - ob ihm also möglicherweise eine latente psychosexuelle Störung oder aber eine Regression in frühkindliches Kommunikationsverhalten (mit vertauschten Rollen) zugrunde liegt - so habe ich unmissverständlich deutlich gemacht, dass dies eben nur Spekulationen sind und ein derartiges Video nicht ausreichend ist, um da zu einem Urteil zu kommen. Auch hier habe ich ausdrücklich geschrieben, dass ich das für wahrscheinliche bzw. naheliegende Erklärungen halte, die das Geschehen in dem Video plausibel machen. Nicht mehr.


    Ich bin zwar kein Experte auf dem Gebiet, aber ich habe zwei Jahre als Pfleger auf einer gerontologischen Station gearbeitet und meine Frau viele Jahre als Nachtwache in einem Seniorenheim, wo ich Gelegenheit hatte, mit einigen von ihr Betreuten Bekanntschaft zu schließen. Vor zwei Jahren ist mein Schwager als Folge einer vaskulären Demenz verstorben, meine Frau ist an Alzheimer erkannt. Ich bin gewiss niemand, der solche Erkrankungen moralisch wertet, sondern vielmehr mit dem Problem versagender Verhaltenskontrolle bei Dementen vertraut ist und das entsprechend adäquat einordnet.


    Ansonsten nochmals die Empfehlung, einmal die/den pompösen Titel und die bunten Roben zu ignorieren und auch das ganze mediale Geschwätz, egal ob pro oder kontra, zu vergessen und einfach achtsam auf Körpersprache und Mimik der Beteiligten zu achten. Das sagt mehr als alle Worte. Vor allem könnte dies einen dazu bringen, die Situation nicht nur aus einer Perspektive zu sehen, die gefühlte 95% des Diskussionsstoffs hier ausmacht - sondern auch aus der des Jungen. Vielleicht ist es angemessen, hier auf die Triggerwirkung zu verweisen, die das Ignorieren dieser Perspektive auf ein ehemaliges Missbrauchsopfer hier im Forum hatte. Und auch an die hier von Hendrik verlinkten Stellungnahmen von Verbänden Missbrauchsbetroffener. Das könnte dazu dienen, die eigene Wahrnehmung der Situation zumindest zu überprüfen - wenn sie denn so anders ist als die von ehemaligen Missbrauchsopfern.


    Kommen wir zum politischen Aspekt und auch gleich zum Aspekt 'Schuld'. Zunächst einmal - die Veröffentlichung des Videos ist ein medialer GAU für die Öffentlichkeitsarbeit des TGIE. Natürlich ist das ein gefundenes Fressen auch für den chinesischen Geheimdienst. Aber ein Fressen, das sie nicht selbst gekocht haben; am besten lässt sich nun einmal mit Fakten Propaganda machen, wenn man sie in den Kontext eines Narrativs mit entsprechendem 'Spin' stellt. Was an den Fakten selbst allerdings nichts ändert. Und ja, natürlich wurde das Video durch Schneiden manipuliert - was aber an der dokumentierten Situation nichts ändert, sondern sie durch Reduzierung des Kontextes verdeutlicht (wobei die notorisch kurze Aufmerksamkeitsspanne moderner Mediennutzer natürlich auch eine Rolle spielt). Wie schon im letzten Absatz empfohlen - lasst mal die ganzen Umstände beiseite und konzentriert euch auf die Interaktion der Beiden.


    Der Skandal ist nach meiner Einschätzung der schwerste publizistische Schlag, den nicht nur der tibetische Buddhismus, sondern der Buddhadharma im Westen insgesamt bislang hinnehmen musste. Das insgesamt positive Bild des Buddhismus in der westlichen medialen Öffentlichkeit ist schwerer geschädigt, als es die diversen Sittenstrolche in Amt und Würden oder Pamphlete wie die von Goldner oder Trimondi über viele Jahre fertig gebracht haben. Da schlägt jetzt der mediale Hype (der beim DL natürlich immer auch einen politischen Hintergrund hatte) in sein Gegenteil um. Tibet ist ja auch geostrategisch nicht mehr groß interessant, da steht Taiwan im Fokus. Nun ja - mal gewinnt man, mal verliert man. Trotzdem ist es nun um so bedauerlicher, dass in der öffentlichen Wahrnehmung der DL so sehr mit dem Buddhismus insgesamt identifiziert wurde, dass nun eben nicht nur die 'Tibeter' von diesem Skandal betroffen sind. Ich fürchte (um das mal aus traditionsübergreifender Perspektive zu betrachten), das wird die auch hier im Forum spürbare Kluft zwischen 'tibetischen' Buddhisten und den anderen Traditionen wohl merklich vertiefen. Grundsätzlich stellt sich da die Frage kultureller Kompatibilität als Voraussetzung einer nachhaltigen Inkulturation, die nicht nur auf den Reiz des Exotischen setzt.


    Kommen wir nun zur Schuldfrage. Auch da habe ich schon deutlich gemacht, wo ich 'Schuld' verorte. Bei den Leuten, die auf den DL als Aushängeschild und Gallionsfigur nicht verzichten zu können glauben und ihn nach wie vor auf solchen Events herumreichen und es ignorieren, wenn er sich da 'daneben' benimmt, statt ihm seinen verdienten Ruhestand zu gönnen. Was auch hiesse, ihn (und sein internationales Ansehen) vor ihm selbst zu schützen.


    Abschließend noch eine Anmerkung zum Begriff 'Missbrauch'. Auch hier habe ich schon früher in dieser Diskussion darauf hingewiesen, dass ich diesen Begriff nicht nur im strafrechtlichen Sinn verstehe - es gibt auch Missbrauch, der nicht strafrechtlich relevant ist. Wenn in der Öffentlichkeit stehende Personen Sympathiewerbung betreiben, indem sie fremde Kinder küssen (was vor allem Politiker im Wahlkampf gerne tun), dann ist das für mich Missbrauch. Wenn so ein Kind dann noch vor der Kamera erläutern soll, was es dabei empfunden hat, ist das der zweite Missbrauch. Das alles dient nicht dem Kind, sondern völlig anderen Interessen, für die es benutzt - missbraucht - wird.

    Wo findet sich diese Medienkampagne?


    In den sozialen Medien, vor allem Facebook. Die Videos, die auch hier schon verlinkt wurden finden sich da und einiges mehr. Z.B. so etwas, von jemandem namens Tenzin Pema:

    Zitat

    No apology was ever needed from His Holiness. No apology. No explanation. No statement.

    Because pure unadulterated acts of love, faith, and compassion DO NOT require any apology.

    Because an "oothuk" -- foreheads touching to represent pure love, respect in our culture -- does not require an apology.

    Because a kiss or a "po" on the lips given by elders to little children and by young children to elders is common in our culture and another sign of pure, unabashed love -- until of course, you superimpose your own hypersexualised views/culture or negative experiences on everything and view every act of pure love through that lens; in such an instance, even the sight of a grandfather kissing his own grandson will be misconstrued as "child abuse."

    Because requesting His Holiness to "blow into the face" of a young child or an adult -- words that would be horribly misconstrued in any another culture -- are in our culture the very reason for hope. Hope for parents with sick children. Peace of mind for so many with a dying parent or loved one as they seek one last audience and "blow" with His Holiness before s/he passes. "Blow on my face" -- words/an act so pure in the Tibetan world are so so so very different in every other world. For the word "blow" or the act of "blow-ing" represents hope and faith and peace and contentment and fulfilment and compassion and kindness... in our culture and to our people. Words/acts that would have never been seen as such to those who have not an ounce of understanding of the Tibetan way of life, nor cared to know or understand.

    And likewise the words "nge che le jip" -- such a common playful refrain by Tibetan elders and so innocent-sounding in Tibetan but not so when translated into English as "suck my tongue."

    So to reiterate -- no apology was ever needed from His Holiness, irrespective of how sordid the minds of those who perceive a culture and a purity that their minds can never ever fathom as possible of existence in this world of tremendous hate and angst and lust and malicious intent.

    Instead, the world OWES the Tibetan world and His Holiness, who is the very epicentre of that world, an apology. A deep, heartfelt apology for the unprecedented, unwarranted assault and attack on everything we hold dear. The attacks on His Holiness and the ease with which so-called 'woke' people have jumped to conclusions have been deeply deeply deeply hurtful for me and millions across the world.

    But mainly for so many Tibetans like my 77-year-old mother who weeps through the day and has lost sleep for the past few days. Because this viscous, vitriolic, targeted attack on His Holiness has been the worst attack so far that she and so many like her have known in their nearly eight to nine decades-long years of existence. For her, this -- she told me as she called me weeping, unable to sleep past midnight -- has been "the worst attack so far on the Tibetan faith and the Tibetan way of life." And she's right. For this is a blatant attack on everything the Tibetan world holds dear -- our culture, our way of life, our innocence, our humour, our unabashed optimism, our resilience, our naïveté, and our faith.

    As a Tibetan mother of three children -- two of whom have special needs -- my deepest fear now is that this incident will so drastically alter our Tibetan world and the Tibetan way of life that tomorrow even if I were to request His Holiness -- once again, as I have done in the past -- to "blow into my daughters' faces", that they will never be so privileged. And my fear is that it won't stop there -- my fear is that tomorrow, so many other Tibetan parents like us will never have that opportunity ever again for their children to receive the blessings from and witness the pure, unabashed acts of compassion and love by any other spiritual leader within the Tibetan Buddhist community ever again.

    All because one day, the world decided to view an incident -- such a pure, unadulterated act of love, compassion and faith in our culture -- through their base-minded lens.

    So again - to emphasize - no apology, no explanation, no statement was ever needed to be issued by His Holiness. Instead, the world owes the Tibetan world and His Holiness an apology now.

    Schon erstaunlich, was so ein Video auslösen kann. Das oben zitierte ist natürlich ein ganz anderes Narrativ als das in dem Video hier in Beitrag #116 - beides von Leuten, die sich als Experten für tibetische Kultur präsentieren aber offensichtlich nur darin übereinstimmen, dass das Verhalten des DL völlig normal und harmlos war.

    Der Ausdruck "Dalai-Lama-Versteher" klingt sehr negativ

    Ja. Fast wie 'Putin-Versteher' - wobei ich nicht weiss, was daran negativ sein soll, zu versuchen andere Menschen zu verstehen. Vielleicht wird dann auch der Schluss des Absatzes verständlicher:

    Zitat

    Wobei man das Muster ja auch aus anderen aktuellen Debatten kennt.

    Wie in einem früheren Beitrag schon angedeutet, sind für mich primär die unterschiedlichen Reaktionen auf das Medienereignis interessant. Mir zumindest kommt das recht bekannt vor, was da derzeit abläuft.

    Erstaunlich finde ich auch das völlige Abstreiten des kulturellen Aspekts.

    Ich habe den nicht abgestritten - ich habe im Gegenteil hier die 'anstößige' Handlung als Regression auf eben eine spezifisch tibetische kulturelle Praxis als Möglichkeit angesprochen. Diese Praxis ist auch belegt, den Beleg habe ich auch genannt. Das geht grundsätzlich natürlich in Richtung eines weiteren relativierenden Narrativs, dass solch ein Verhalten für einen Tibeter wegen seiner kulturellen Prägung üblich sei - während der genannte Beleg allerdings lediglich von Großmüttern und den von ihnen betreuten Babys handelt, nicht von Greisen und Schuljungen. Ein weiteres Narrativ ist, der tibetische Humor und speziell der des Dalai Lama seien halt etwas schräg, das sei alles nur spielerisch und scherzhaft gewesen (was die Position des TGIE zu sein scheint). Auffällig bei all diesen auf kulturell geprägte Verhaltensmuster verweisenden Argumentationen ist ihre Uneinheitlichkeit - da hätte man sich besser vorher auf ein Narrativ geeinigt.


    Also - wie gesagt, kein Abstreiten. Aber eine Handlung, die kulturell geprägt ist, ist nicht deswegen schon in Ordnung. Und genau das sollte der Verweis auf andere kulturelle Bräuche, die noch etwas weniger konsensfähig sind als fremde Kinder zu küssen, auch verdeutlichen. Auch, wenn Dich das "regelrecht sauer" macht. Eine unheilsame Handlung wird nicht dadurch heilsam, dass sie in einem speziellen kulturellen Kontext stattfindet. Davon abgesehen haben wir hier zwei kulturelle Kontexte - nämlich auch den des Jungen.

    Was ich gar nicht verstehe, ist das Festhalten daran, dass es eine besondere Bedeutung haben soll, dass der DL das Verb "suck" gebrauchte - schon gar nicht, nachdem zu selbst eine Passage aus der ethnologischen Fachliteratur zitiert hast, derzufolge tibetische Großmütter kleine Kinder an ihren Zungen saugen ließen.

    Wieso besondere Bedeutung? Ich habe nur klargestellt, dass der DL das Wort "suck" benutzt hat und dass das eben zum Großmutter-Baby-Kontext passt. Dass der DL zwar "suck" gesagt hat, aber eigentlich etwas ganz anderes gemeint habe und halt nur nicht richtig Englisch könne, ist ja auch so ein kursierendes Narrativ, ein weiteres ...

    In dem von mir verlinkten Artikel wird ein Tibetologe zitiert, der sagt, dass die Zunge im tibetischen Kontext keine sexualisierte Konnotation hat.

    Mag sein. Wahrscheinlich ist dem DL auch die sexuelle Konnotation von "suck" nicht bekannt. Was nichts daran ändert, dass der kleine Junge, den er aufgefordert hat, an seiner Zunge zu saugen, weder Tibeter noch Tibetologe ist.

    Er fand das vielleicht oder wahrscheinklich eklig, aber wenn ihm etwas wirklich schaden wird, dann wenn man ihm seine Gefühle im Zusammenhang mit diesem Vorfall (und anderen natürlich ebenso) aus- und andere Empfindungen einreden will.

    ... weswegen ich geschrieben habe, dass der Junge nicht nur ein, sondern zwei Mal missbraucht wurde.

    Stattdessen scheint es einen irrsinnigen Drang zu geben, dem Dalai Lama individuelle Schuld zuzuweisen. Abgesehen davon, dass das völlig absurd ist, wenn man gleichzeitig von einer Demenz ausgeht

    Zu Satz 1: ja, das gibt es offensichtlich. Was Satz 2 angeht - der stimmt auch. Aber wer macht denn sowas?

    Erstaunlich finde ich die Medienkampagne der Dalai-Lama-Versteher, die die Kampagne der Dalai-Lama-Gegner mit dem Pädophilie-Vorwurf ziemlich exakt (wenn auch seitenverkehrt) widerspiegelt und das Geschehen zu einer exotischen Kuriosität herunterspielt. Das muss diese Dialektik sein, von der man so viel hört ... Wobei man das Muster ja auch aus anderen aktuellen Debatten kennt.


    Was die abwiegelnden Erklärungen des Herrn in dem von Thorsten Hallscheidt verlinkten Video angeht, so ziehe ich es vorerst vor, mich stattdessen an ethnologische Fachliteratur zu halten. Alles, was ich dazu finden konnte, verweist auf das bereits von mir Geschriebene - aber auch nicht auf mehr. Man möge mir meine Skepsis nachsehen - auch oder gerade weil die in dem Video verkündete Botschaft von vielen Verunsicherten so offensichtlich sehnlichst erwartet wurde. Achja - alles in Ordnung. Nur ein "eurozentrisches" Missverständnis. So wie die böswillige Kritik eurozentrischer Gutmenschen an dem altehrwürdigen Brauch der Witwenverbrennung in Indien oder der Genitalverstümmelung von Mädchen in Afrika. Darf man alles nicht so eurozentrisch sehen.


    Zur erwähnten ethnologischen Fachliteratur:

    Zitat

    Tibetans love children as much as any other people but do not know how to care for them. The grandmother will spend her leisure stuffing barley gruel or pouring buttered tea into it's mouth to satisfy it, or will let the infant suck her tongue to keep it quiet. Grandmothers or older children have the care of many babies when the mother is at work ...


    Marion Herbert Duncan

    Customs and Superstitions of Tibetans

    Mitre, London 1964

    Also - so gehen bzw. gingen ältere Frauen in Tibet (zumindest im östlichen) mit von ihnen betreuten Kleinkindern um, um sie zu 'stillen'.


    Das gibt natürlich Anlass, über die wechselseitigen Projektionen namens 'Dalai Lama' zu schwadronieren. Wobei die, die sich für die eine oder andere Kampagne engagieren, kräftig bemüht sind, ihre Projektionen zu verkaufen und damit aufzuwerten.


    Wenn ich mir das Video anschaue und mich bemühe, Projektionen zu vermeiden, dann ist meine Wahrnehmung folgende: Nach der von einem Jungen (oder seiner Mutter) erbetenen Umarmung und dem (vom dem alten Mann darauf hin mit Fingerzeig erbetenen) Kuss auf die Wange zieht der Mann den offensichlich überraschten Jungen mit dem Kinn zu sich heran und küsst ihn auf die Lippen. Schon hier lässt sich mE ein leichtes Widerstreben (oder doch zumindest Verunsicherung) des Jungen wahrnehmen. Nach ca. 10 Sekunden Überlegung des Mannes, wie es weiter gehen soll, die Aufforderung "and suck my tongue" - vor der ihm entgegen gestreckten Zunge weicht der Junge unwillkürlich zunächst zurück. Unter Erwachsenen wäre das als Scherz oder Neckerei schon grenzwertig gewesen - bei einem (fremden!) Kind ... Hätte er gesagt "show me your tounge" hätte man das noch als Aufforderung zu einer traditionellen tibetischen Begrüßung interpretieren können - aber "suck" ist da schon in einer anderen Liga angesiedelt. Der Junge nähert sich dem Mann deutlich langsamer als umgekehrt bis zum Stirnkontakt; Lippen- oder Zungenkontakt vermeidet er. Als er anschließend 'entlassen' wird, setzt ein (auf mich) erleichtert wirkendes Lächeln ein. Als er für eine erneute Umarmung herangezogen wird, wendet er - anders als beim ersten Mal - den Kopf ab und vermeidet Kontakt mit dem Gesicht des Mannes.


    Generell macht der Mann auf mich einen leicht desorientierten und verwirrten Eindruck. Ein insgesamt sehr herzlich und liebevoll wirkender Mann, allerdings ohne jedes Gespür für soziale Distanz in einem mE schon pathologischen Ausmaß. Voll bewusst scheint er sich der Grenzüberschreitung nicht zu sein - darauf deutet allenfalls das Zögern vor der Aufforderung, nun an der Zunge zu saugen.


    Von Missbrauch kann man hier im strafrechtlichen Sinn wohl nicht sprechen - vor allem, weil der Junge der Aufforderung nicht nachkam und nicht weiter gedrängt wurde. Aber man kann Kinder auch zu nicht strafbaren Zwecken missbrauchen - und das verlinkte Interview mit Mutter und Kind fällt nach meiner Auffassung ebenso darunter wie die missglückte PR-Aktion.


    Immerhin hat sich damit wohl mein Hinweis, eine Verpixelung des Jungen in dem Video sei angemessen, erledigt. Was übrigens auch Frau Bosetti so sieht ... Und zusammen mit Thorsten Hallscheidt hat sie mich überzeugt, dass das nicht wirklich eine Entschuldigung ist, was Dharamsala dazu öffentlich hat verlauten lassen.

    Dalai Lama, Judenhass, Atomkraft und ein Grashalm | Bosetti will reden!
    Sarah Bosetti will reden...über die Nachrichten.Sarah Bosetti beobachtet die aktuellen Ereignisse in den Nachrichten und fragt sich, ob das Wissen über diese...
    www.youtube.com

    Ich bin mittlerweile auch auf die Info gestoßen, dass es wohl einen tibetischen Brauch gibt, wonach einem noch nicht abgestillten Kind gelegentlich statt einer Brustzitze (bzw. als 'Schnullerersatz') die Zunge zum Saugen und zur Beruhigung geboten wird, wenn keine Milch gegeben werden kann. Etwa, wenn die Großmutter das Kind hütet. Ob das Anbieten der Zunge zum Saugen auch zwischen erwachsenen Männern und Kindern (gar größeren) üblich ist, blieb da etwas im Unklaren ...


    Das stellt eine psychosexuelle Störung als Ursache des Verhaltens natürlich in Frage, möglich wäre ebenso der Wunsch, einer väterlich-zärtlichen Empfindung Ausdruck in einer regressiven (vielleicht selbst erfahrenen) Form zu geben. Was jedoch nichts daran ändert, dass das Verhalten übergriffig und unangemessen war. Wofür man sich ja auch öffentlich entschuldigt hat.


    Ein kleiner Nebenaspekt - wie wäre die Reaktion ausgefallen, wenn es sich um ein deutlich hellhäutigeres Kind gehandelt hätte? Der kleine Junge ist Inder (weswegen der DL auch Englisch mit ihm spricht) und die intimeren Details tibetischer Kultur sind ihm wohl nicht bekannter als den Jungen hier im Dorf. Es ist und bleibt ein übergriffiges Verhalten - selbst, wenn es von liebevollen Gefühlen getragen ist. Die Grenze zwischen Liebe und Gier ist fließend - und die ist spätestens da, wo die Liebe auf Abwehr stößt (deren Anzeichen hier mißachtet oder doch zumindest übersehen wurden), überschritten.


    Man möchte den Leuten in Dharamsala empfehlen, diesen Mann, der so viel für sie getan hat, endlich seinen letzten Lebensabschnitt behütet und in Ruhe verbringen zu lassen. Ihr tut ihm und euch keinen Gefallen mit solchen Auftritten.

    Ich möchte nicht mehr in einem "buddhistischen" Forum bleiben, wo solche Sachen (teilweise) relativiert und verteidigt werden.

    Lieber Martin (wenn mir die vertrauliche Anrede gestattet ist) - ich denke, es ist absolut verständlich, dass Du für solche Situationen wie die in dem Video dokumentierte und auch für die Körpersprache, die da zu beobachten ist, eine besondere Sensibilität hast und Du gerade aus Mitbetroffenheit heraus nicht offen für Relativierungen bist; sie als Ausblenden von unheilsamem, leiderzeugendem Handeln erfährst. Wobei ich wiederholen möchte, was ich hier an anderer Stelle schon schrieb: mein Eindruck ist, dass manche Menschen bestimmte Dinge nicht sehen können. Weil sie eben nicht den Menschen Tenzin Gyatso sehen, sondern nur die Projektionsfläche 'Dalai Lama'. Wobei es genug andere, weniger populäre Projektionsflächen gibt, die den hinter diesem Vorhang Handelnden verbergen. Hat man einmal hinter den Vorhang geschaut, klappt das mit dem 'Verbergen' nicht mehr so gut. Jedenfalls - in manchen Diskussionsforen ist es daher üblich, der Diskussion solcher Themen eine Triggerwarnung voranzustellen.


    Nicht, dass ich glaube, Du hättest eine gebraucht. Aber ich kann Deinen Wunsch, Dich zurückzuziehen, verstehen. Trotzdem möchte ich Dich darum bitten, Deinen Rückzug auf diesen Thread hier zu beschränken. Es wäre sehr schade, wenn Deine Stimme hier im Forum verloren ginge. Üben wir uns in kṣānti pāramitā ... ^^ _()_

    Ich frage mich auch schon den ganzen Tag, ob Demenz etwas ist, das einem Dalai Lama zustoßen darf oder ob eine solche Erkrankung verschleiert werden würde, weil sie den Glauben an die Kontrollierbarkeit des menschlichen Geistes sowie daran, dass der Dalai Lama a) ein Bodhisattva ist und b) ein Bodhivatta seine irdischen Existenzen sozusagen im Griff hat, in Frage stellt.

    Ich räume ein, dass dieser Aspekt mich an der Diskussion am meisten interessiert - bzw. wie damit umgegangen wird. Wenn man sich den Umgang damit etwa auf facebook anschaut, sind da nicht nur 'woke' (um den Begriff auch mal zu benutzen) Leute unterwegs, die einem 87-jährigen, auf mich nicht nur leicht desorientiert wirkenden Mann Pädophilie zu unterstellen statt - zumindest für Nicht-Dalai-Lama-Fans naheliegend - Senilität. Was ja nun wirklich nichts Ehrenrühriges ist, darauf müssen wir alle gefasst sein.


    Und genau da scheint mir das Problem der anderen 'Extremisten' zu liegen, die bei dieser offensichtlich sexuell konnotierten Grenzüberschreitung überhaupt kein Problem erkennen können (ich schreibe bewusst nicht: 'wollen'). Ist doch der Dalai Lama. Der darf das, keine Angst, der will nur spielen ... Für mich ist das Realitätsverweigerung und ich vermute (wobei ich das gar nicht werten will), dass es mit dem Auszug vieler 'Tibeter' hier zusammenhängt, dass ich hier diese Position so nicht wahrnehme.


    Ich habe kein Problem mit der Sichtweise, der Dalai Lama sei nirmāṇakāya Avalokiteśvaras. Ich halte mich selbst gelegentlich dafür (was wegen mir niemand ernst zu nehmen braucht). Der Haken an der Sache: nirmāṇakāya geht nicht ohne nāmarūpa - mit der entsprechenden Konsequenz, den trilakṣaṇa zu unterliegen. Den Zerfall von Körper-und-Geist inklusive. Wie Du und Ich. Dass diesem Zerfall von Körper-und-Geist zu entgehen nur möglich ist durch die Aufgabe von Körper-und-Geist: ich denke, es ist genau diese Einsicht, der man gerne durch derartige Realitätsverweigerung ausweichen möchte.


    An dem hier diskutierten 'Fall', der als solcher natürlich vor allem eine durch das globale Dorf medial gehetzte Sau ist (da habe ich auch Verständnis für Noreply 's Naserümpfen ), ist vor allem unser Umgang damit von Interesse. Und Leonie : ja, so jemanden lässt man nicht mehr unbeaufsichtigt mit den Kindern spielen, und seien es die eigenen Enkel oder Urenkel. Aber ich bezweifle sehr, dass hier im juristischen Sinn von einer Schuldfähigkeit gesprochen werden kann. Wie schon angedeutet, sind nachlassende Triebkontrolle und der Verlust der Fähigkeit, soziale Distanzen zu respektieren, im Zusammenhang mit manchen Formen altersbedingten Abbaus bekannte Symptome. Ein besonderes Problem ist im vorliegenden Fall möglicherweise ein zu permissives Umfeld.

    Ehrlich gesagt bin ich etwas im Zwiespalt wegen der Verlinkung des Videos. Zum einen gibt es mehr Kontext als die sonst kursierenden Schnipsel. Zum anderen halte ich es für richtig, wenn Medien-Outlets in der Regel das Gesicht / den Kopf des Jungen verpixeln. Bitte überdenkt das noch einmal.


    Natürlich zeigt das Video nichts Strafbares - es zeigt mir einen Mann, der nicht mehr auf die Bühne, ins Rampenlicht gehört. Dem man das - gerade wegen solcher Dinge - schlicht nicht mehr zumuten sollte; zu seinem eigenen Schutz. Natürlich ist das nur eine persönliche Einschätzung, aber ich denke, wer mit der Pflege dementer Personen etwas Erfahrung hat, wird aus dem Video und der damit dokumentierten Distanzüberschreitung ähnliche Schlüsse ziehen.

    Angesichts der von Dharamsala an die Medien gegebenen öffentlichen Entschuldigung erübrigt sich die Diskussion, ob es sich bei dem Video und den Worten des Dalai Lama ("suck my tongue", was eigentlich noch eine Nummer heftiger ist als nur "lutschen") um ein Fake handelt.


    Dass es sich bei dieser Art, mit einem Kind umzugehen (noch dazu mit einem fremden), um eine tibetische kulturelle Eigenart handelt, kann man sicherlich ausschließen. Dharamsala hat bei der Entschuldigung auch gar nicht erst versucht, das Verhalten mit einem Verweis auf tibetisches Brauchtum zu relativieren. Dass das im Video Dokumentierte in eine völlig andere Liga gehört, als sich zur Begrüßung nur die Zunge zu zeigen, ist offensichtlich und dass so etwas nur als windige Ausrede aufgenommen würde, war den Schadensbegrenzern vom Büro 'Seiner Heiligkeit' ebenso offensichtlich klar. Das unwillkürliche Zurückweichen des Kindes, als ihm der alte Mann da seine Zunge entgegenstreckt, zeigt deutlich eine Grenze an, die dann trotz offensichtlichen Widerwillens des Kindes überschritten wird - wenigstens nicht bis hin zum Zungenkuss vor Publikum.


    Wobei sich in der PR-Abteilung Dharamsalas da wohl jemand nach einem anderen Job umsehen muss(te). Solch ein Video darf natürlich nicht an die Öffentlichkeit gelangen, da war der Zensor wohl gerade pinkeln. Möglicherweise wurde es ja auch gezielt geleakt - um das Ende der Ära des Dalai Lama einzuläuten. Jetzt versucht man Schadensbegrenzung; immerhin mit einer vorbehaltlosen Entschuldigung für das Verhalten ohne Rechtfertigungsversuche (!), was ich anerkennenswert finde.


    Für mich liegt die Vermutung einer altersbedingten dementiellen Erkrankung nahe. Das Problem Dharamsalas ist, dass der Aufbau des Karmapa zu einem Nachfolger als religiöse Integrationsfigur der Exiltibeter gründlich fehlgeschlagen und keine Alternative in Sicht ist. Sonst wäre der Dalai Lama vermutlich schon weitestgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden - aber so braucht man ihn nach wie vor als Gallionsfigur. Es ist nun wohl der Punkt erreicht, wo dies der exiltibetischen Sache (und dem internationalen Ansehen des Dalai Lama) eher schadet als nutzt.


    Dass eine demenzielle Erkrankung eine psychosexuelle Störung durch allmählichen Verlust der Verhaltenskontrolle ("Enthemmung") akut werden lassen kann, ist durchaus möglich. Angesichts der Biographie mit einer von Kindheit an unterdrückten Sexualität wäre eine solche Störung wenig überraschend - wobei natürlich solch ein Video bei weitem nicht hinreicht, eine solche Störung zu diagnostizieren. Es scheint mir lediglich die plausibelste Erklärung zu sein.