Tantra verstehen lernen – 2. Die Authentizität der Tantras
Die Quelle der Tantras
Tantra-Praxis erfordert Überzeugtheit von der Authentizität der Tantras, ein korrektes Verständnis von ihrer Durchführung und ihrer Theorie sowie Gewissheit über ihre Wirksamkeit als Methoden, die zur Erleuchtung führen. Gemäß der tibetischen Tradition ist Buddha Shakyamuni selbst die Quelle der Tantras. Viele Gelehrte, sowohl westliche als auch buddhistische, halten diesen Punkt jedoch für umstritten. Gemäß westlicher, wissenschaftlicher Maßstäbe kann jedoch keiner der Texte, die dem Buddha zugeschrieben werden – weder die Sutras noch die Tantras – einer Überprüfung auf Authentizität standhalten. Die Frage ist, ob dies für Tantra-Praktizierende wesentlich ist oder ob andere Kriterien für sie relevanter sind.
Die Tibeter erklären, dass Buddha Shakyamuni drei Fahrzeuge oder Pfade der Praxis lehrte, die zu den höchsten spirituellen Zielen führen. Das bescheidene Fahrzeug, (Skt. Hinayana, kleines Fahrzeug) führt zur Befreiung, während das umfassende Fahrzeug, (Skt. Mahayana, großes Fahrzeug) zur Erleuchtung führt. Obgleich Hinayana ein abwertender Begriff ist, der nur in Mahayana-Texten erscheint, werden wir ihn hier ohne negativen Beigeschmack als den weitgehend akzeptierten allgemeinen Begriff für die achtzehn buddhistischen Schulen des Vorläufers des Mahayana benutzen. Tantrayana, das tantrische Fahrzeug – auch Vajrayana genannt, das Diamantstarke Fahrzeug – ist eine Unterkategorie des Mahayana. Hinayana übermittelt nur Sutras, während Mahayana sowohl Sutras als auch Tantras übermittelt.
Niemand schrieb Buddhas Lehrreden oder anweisende Dialoge nieder, als er sie vor zweieinhalbtausend Jahren gab, da sich das Schreiben gemäß der indischen Gepflogenheiten zu dieser Zeit auf geschäftliche und militärische Angelegenheiten beschränkte. Im Jahr nach dem Verscheiden des Buddha versammelten sich jedoch fünfhundert seiner Anhänger zu einem Konzil, in dem drei seiner wichtigsten Schüler unterschiedliche Teile seiner Worte wiedererzählten. Danach übernahmen verschiedene Gruppen von Mönchen die Verantwortung dafür, bestimmte Abschnitte auswendig zu lernen und sie in regelmäßigen Abständen zu rezitieren. Die Verantwortung wurde von einer Generation von Schülern zur nächsten weitergegeben. Diese Worte wurden die Hinayana-Sutras. Ihr Anspruch, authentisch zu sein, stützt sich ausschließlich auf das Vertrauen, dass die drei ursprünglichen Schüler ein perfektes Gedächtnis besaßen und dass jene im Konzil, die ihren Bericht bekräftigen, sich alle an die richtigen Worte erinnerten. Diese zwei Voraussetzungen lassen sich wissenschaftlich unmöglich nachweisen.
Selbst wenn die ursprüngliche Übertragung frei von Verfälschung gewesen sein mag, mangelte es vielen herausragenden Schülern in den nachfolgenden Generationen an fehlerlosem Gedächtnis. Innerhalb von hundert Jahren nach Buddhas Verscheiden kam es zu Unstimmigkeiten über viele der Hinayana-Sutras. Schließlich bildeten sich achtzehn Schulen heraus, jede mit ihrer eigenen Version dessen, was der Buddha gesagt hatte. Die Schulen waren sich sogar uneinig darüber, wie viele Lehrreden und Dialoge des Buddha auf dem ersten Konzil rezitiert wurden. Gemäß einiger Versionen war es mehreren Schülern des Buddha nicht möglich gewesen teilzunehmen, und sie gaben die Lehren, an die sie sich erinnerten, in mündlicher Form ausschließlich ihren eigenen Schülern weiter. Die auffälligsten Beispiele sind die Texte über spezielle Themen des Wissens (Skt. abhidharma). Viele Jahre lang rezitierten nachfolgende Generationen sie außerhalb der offiziell abgesegneten Treffen, und erst spätere Konzile fügten sie der Hinayana-Sammlung hinzu.
Die ersten schriftlichen Texte erschienen vier Jahrhunderte nach Buddha, in der Mitte des ersten Jahrhunderts v. u. Z. Sie waren die Hinayana-Sutras aus der Theravada-Schule, der Linie der Älteren. Allmählich erschienen auch die Sutras der anderen siebzehn Hinayana-Schulen in schriftlicher Form. Obgleich die Theravada-Version die erste war, die in schriftlicher Form erschien und obwohl Theravada die einzige Hinayana-Schule ist, die bis heute vollständig erhalten ist, sind diese beiden Faktoren kein Beweis dafür, dass es sich bei den Theravada-Sutras um die authentischen Worte des Buddha handelt.
Die Theravada-Sutras sind in der Pali-Sprache verfasst, während die anderen siebzehn Versionen in einer Auswahl von indischen Sprachen wie Sanskrit und dem lokalen Dialekt von Magadha geschrieben sind, der Region, in der Buddha lebte. Man kann jedoch nicht sagen, dass Shakyamuni nur in einer oder all diesen indischen Sprachen gelehrt hat. Daher kann keine Version der Hinayana-Sutras Authentizität aufgrund der Sprache beanspruchen.
Darüber hinaus riet Buddha seinen Schülern, seine Lehren in jeder nur verständlichen Form zu vermitteln. Er wollte nicht, dass seine Anhänger seine Worte in einer heiligen archaischen Sprache wie der der indischen Schriften, den Veden, erstarren lassen. In Übereinstimmung mit seinem Rat erschienen unterschiedliche Teile der Hinayana-Lehren des Buddha zuerst in verschiedenen indischen Sprachen mit unterschiedlichem Schreibstil und abweichender Grammatik in schriftlicher Form, entsprechend der jeweiligen Zeit. Auch die Mahayana-Sutras und Tantras zeigen eine große Stil- und Sprachvielfalt. Von einem traditionellen buddhistischen Standpunkt aus betrachtet bestätigt die Vielfalt der Sprachen eher die Authentizität als dass es sie widerlegt.
Die tibetische Tradition besagt, dass Schüler, bevor Buddhas Lehren niedergeschrieben wurden, die Hinayana-Sutras öffentlich auf großen monastischen Versammlungen rezitierten, die Mahayana-Sutras in kleinen privaten Gruppen und die Tantras unter extremer Geheimhaltung. Die Mahayana-Sutras tauchten zuerst Anfang des zweiten Jahrhunderts u. Z. auf, und die Tantras erschienen vielleicht bereits ein Jahrhundert später, auch wenn sich dies zeitlich nicht genau festlegen lässt. Wie zuvor beschrieben, gehen mehrere Hinayana-Traditionen davon aus, dass private Kreise einige der berühmtesten Hinayana-Traditionen bereits mündlich übertrugen, bevor die großen monastischen Versammlungen sie in die Sammlung für ihre öffentliche Rezitation aufnahmen. Daher spricht das Fehlen eines Textes auf der Tagesordnung des ersten Konzils nicht gegen seine Authentizität.
Zudem schworen die Teilnehmer der Tantra-Rezitationssitzungen die Geheimhaltung der Tantras, so dass sie Nichtinitiierten nicht enthüllt wurden. Daher überrascht es nicht, dass keine persönlichen Berichte von den Tantra-Treffen erschienen. Aus diesem Grund ist es schwierig, die Übertragung der Tantras und das Auftreten der geheimen Treffen vor der schriftlichen Niederlegung zu beweisen oder zu widerlegen. Und selbst wenn man eine mündliche Übertragung der Tantras akzeptiert, lässt es sich nicht festlegen, wann und wie diese Übertragung begann, wie im Falle der Hinayana-Schriften, die beim ersten Konzil fehlten.
Wie der indische Meister Shantideva in „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattva“ (Skt. „Bodhicharyavatara“) argumentiert, gilt jede Argumentationskette, die angeführt wird, um die Authentizität der Mahayana-Texte zu beweisen oder als Unglaubwürdig darzustellen, gleichermaßen auch für die Hinayana-Schriften. Daher muss sich die Authentizität der Tantras auf andere Kriterien als linguistische Faktoren und das Erscheinungsdatum der ersten Schriften stützen.
Unterschiedliche Sichtweisen gegenüber Buddha Shakyamuni als Lehrer
Eine große Quelle für Verwirrung beim Versuch, die Quelle der Tantras zu ermitteln, scheint darin zu bestehen, dass westliche Buddhismusforscher, Hinayana-Gelehrte und Mahayana-Experten alle eine unterschiedliche Auffassung von Buddha Shakyamuni haben. Buddhismusforscher verstehen Shakyamuni als historische Persönlichkeit und großen Lehrer, doch nicht als jemanden, der übermenschliche Kräfte besaß, selbst nichtmenschliche Wesen unterrichtete und nach seinem Tod weiterlehrte. Obwohl Hinayana-Gelehrte das Zugeständnis machen, dass Buddha Shakyamuni außergewöhnliche Kräfte besaß und alle Wesen lehren konnte, messen sie diesen Qualitäten kaum Bedeutung bei. Zudem sagen sie, dass mit Verscheiden Shakyamunis seine Lehrtätigkeit beendet gewesen sei.
Mahayana-Gelehrte des Sutra wie des Tantra erklären, dass Shakyamuni schon vor vielen Äonen ein Buddha wurde und das stufenweise Erlangen der Erleuchtung in seinem Leben als Prinz Siddharta lediglich zur Schau stellte. Er ist seitdem weiterhin in unterschiedlichen Manifestationen erschienen und hat weiterhin gelehrt, wobei er eine große Vielfalt übersinnlicher Fähigkeiten benutzte. Sie zitieren das „Lotus-Sutra“, in dem Shakyamuni erklärt, dass er sich in der Zukunft in Form von spirituellen Meistern manifestieren würde, deren Lehren und Kommentare genauso authentisch sein würden wie seine eigenen Worte. Darüber hinaus akzeptieren Mahayana-Gelehrte, dass sich Buddhas in mehreren Formen und an mehreren Orten gleichzeitig manifestieren können, wobei jede Emanation über ein anderes Thema lehrt. So manifestierte sich Buddha zum Beispiel, während er als Shakyamuni auf dem Geiergipfel in Nordindien die „Prajnaparamita-Sutras“ („Sutras der Vollendung der Weisheit“) erörterte, auch am Dhanyakataka-Stupa in Südindien als Kalachakra und legte die vier Klassen der Tantras dar.
Die Mahayana-Vision dessen, wie Buddhas lehren, geht über das persönliche Anweisen von Schülern hinaus. Shakyamuni inspirierte zum Beispiel auch andere Buddhas und Bodhisattvas (jene, die sich vollständig dem Erlangen der Erleuchtung verschrieben haben und dem, anderen zu helfen) dazu, in seinem Namen zu lehren (z.B. als Avalokiteshvara in Buddhas Anwesenheit das „Herz-Sutra“ darlegte). Er gestattete anderen auch, die von ihm beabsichtigte Bedeutung zu lehren, wie im Falle von Vimalakirti in den „Anweisungen des Vimalakirti-Sutra“.
Zudem erschienen Shakyamuni und andere Buddhas, die in seinem Namen lehren durften, später weit fortgeschrittenen Schülern in reinen Visionen und enthüllten weitere Sutra- und Tantra-Belehrungen. So enthüllte Manjushri zum Beispiel dem Gründer der tibetischen Sakya-Tradition, Sachen Kunga-Nyingpo, das „Scheiden von den vier Anhaftungen“, und Vajradhara erschien wiederholt Meistern in Indien und Tibet und enthüllte weitere Tantras. Noch dazu versetzten Buddhas und Bodhisattvas Schüler in andere Bereiche, um sie zu lehren. Maitreya führte den indischen Meister Asanga zum Beispiel in sein reines Land und übertrug ihm dort seine „Fünf Texte“.
Da sich die Zuhörerschaft der Belehrungen des Buddha aus einer Vielfalt von Wesen zusammensetzte, nicht nur aus menschlichen Wesen, hüteten einige gewisses Material für später, für bessere Zeiten. Zum Beispiel bewahrten die Nagas, halb Menschen-, halb Schlangenwesen, die „Prajnaparamita-Sutras“ in ihrem unterirdischen Königreich unter einem See auf, bis der indische Meister Nagarjuna kam, um sie zu bergen. Jnana-Dakini, eine übernatürliche weibliche Meisterin, behielt das „Vajrabhairava-Tantra“ in Oddiyana, bis der indische Meister Lalitavajra dorthin reiste, weil Manjushri ihm in einer reinen Vision dazu geraten hatte. Zudem versteckten sowohl indische wie tibetische Meister Schriften zum Schutz an materiellen Orten oder verankerten sie als Potential im Geist besonderer Schüler. Später wurden sie von Generationen von Meistern als Schatztexte (terma, tib. gter-ma) wiederentdeckt. Asanga zum Beispiel vergrub Maitreyas Werk „Weitest gehender immer währender Strom“, und der indische Meister Maitripa brachte ihn Jahrhunderte später wieder zum Vorschein. Padmasambhava verbarg unzählige Tantra-Texte in Tibet, die von späteren Nyingma-Meistern in Nischen und Winkeln von Tempeln oder in ihrem eigenen Geist entdeckt wurden.
Wenn die tibetische Tradition Shakyamuni als die Quelle der Tantras betrachtet, bedeutet dies Buddha, wie er im Allgemeinen von den Mahayana-Sutra- und -Tantra-Traditionen beschrieben wird. Nähern sich potenzielle Tantra-Praktizierende dem Thema der Authentizität von dem Standpunkt, dass sie lediglich die Beschreibungen der Buddhologen oder der Hinayana-Gelehrten akzeptieren, dann kann solch ein Buddha natürlich nicht die Tantras gelehrt haben. Das ist für solche Leute jedoch irrelevant. Tantra-Praktizierende haben nicht vor, die Art von Buddhas zu werden, die Buddhologen und Hinayana-Gelehrte beschreiben. Durch Tantra-Praxis trachten sie danach, Buddhas zu werden, wie sie in den Mahayana-Sutra- und -Tantra-Belehrungen geschildert werden. Da sie davon ausgehen, dass Shakyamuni solch ein Buddha war, akzeptieren sie natürlich, dass er die Tantras auf all die wundersamen Weisen lehrte, von denen die Tradition berichtet.