Die wenigen Eindrücke von Freiheit oder Befreiung, die wir in unserem Leben erfahren können, sind überaus dünn gesät und winzig klein. Wenn wir trotzdem einen gelegentlichen Einblick in etwas Derartiges erhaschen, versuchen wir ihn einzufangen. Und das bedeutet, wir haben ihn bereits wieder verloren. Dennoch ist es möglich, diese Einblicke auszudehnen.
Angenommen, jemand erwacht zum ersten Mal aus einem tiefen Schlaf. Erstmals erblickt er die Mitternachtssterne...
Wenn er anschließend lange genug wartet und nicht wieder einschläft, würde er die Morgendämmerung erblicken und danach den Sonnenaufgang.
Er würde nicht nur beginnen, die Sterne zu sehen – sondern er würde auch die gesamte Landschaft um ihn herum erkennen, die von diesem brillanten Licht erhellt wird, das aus dem Himmel erscheint. Er würde beginnen, sich selbst zu erkennen. Er würde seine Hand sehen, seine Handflächen, seine Zehen, seinen Stuhl, seinen Tisch und die Welt, um ihn herum. Und wenn er clever genug wäre, in einen Spiegel zu blicken, würde er sich selbst erkennen, ohne auf das Sternenlicht angewiesen zu sein.
Wir reden hier über eine Art Entdeckung – aber nicht im mystischen Sinne – sondern in Form einer echten persönlichen Erfahrung. Sie ist sehr persönlich, extrem persönlich. Wir benutzen hier den Begriff persönliche Erfahrung, weil das bedeutet – dieses Erlebnis hat keine religiöse, psychologische oder begriffliche Nebenbedeutung. Es ist deine Erfahrung. Wenn du dir kochendes Wasser über deine Hand gießt, ist das deine ganz persönliche Erfahrung.
– Du wirst verletzt. Wenn du einen Orgasmus erlebst, ist das eine ganz persönliche Erfahrung. Niemand sonst erlebt ihn.
Deshalb ist Gogpa oder Aufhören weniger eine Entdeckung, sondern eine Erfahrung, die für uns sehr real ist. Du landest plötzlich einen Treffer. Du bist auf der Stelle bei guter Gesundheit. Du hast keine Erkältung, keine Grippe, keine Beschwerden und keine Schmerzen in deinem Körper. Du fühlst dich völlig wohl, absolut wohl, erfrischt und wach. Solch eine Erfahrung ist möglich. Sie wird möglich, weil wir wissen, jemand hat dies bereits erlebt. Und wir sind im Begriff es früher oder später selbst zu erleben. Aber dafür gibt es natürlich keinerlei Garantie.
Die Person, die das erlebt hat, war der Buddha. Der Sanskrit Begriff Buddha wird im Tibetischen Sanggyê genannt. Sang bedeutet wörtlich "erwacht", einfach gewöhnlich erwacht. Gyê heißt "Ausdehnung" oder "erblüht."
Somit bezieht sich das Wort Sang auf ein Erwachen vom Schlaf des Schmerzes. Und in dem Schmerz, dem Leiden und der Unbewusstheit ist gyê wie eine erblühte Blume. Sobald du erwacht bist, verfügst du bündelweise über ein gesammeltes Wissen. Das Erkennbare ist dir bekannt – und zwar durch die Geistesgegenwart und Bewusstheit.
Wir versuchen hier, zum Sanggyê zu werden. Wir versuchen zu erblühen. Wir versuchen zu erwachen. Das genau ist es, was wir hier tun. Und vielleicht erhaschen wir einen flüchtigen Einblick in die Tatsache, dass sich Sanggyê endlos ereignet.
Manchmal entsteht das Gefühl, dass wir uns nur selbst betrügen. Und manchmal betrügen wir uns selbst. Aber wie auch immer, dieses Element erscheint ständig. Deshalb versuchen wir, ein Buddha zu werden, ein wirklicher Sanggyê.
Chögyam Trungpa Seminary 74