Als Beispiel dafür, wie die Theravada-Tradition die Sutren in Bezug auf 'Wiedergeburt' auslegt möchte ich mich im Folgenden auf das Visuddhimagga des Buddhaghosa beziehen. Zunächst die bekannte Stelle, die so anschaulich das Prinzip der 'Leere von einem Eigensein', anatman, wiedergibt:
Das Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da. Die Taten gibt es, doch kein Täter findet sich. Erlösung gibt es, doch nicht den erlösten Mann. Den Pfad gibt es, doch keinen Wanderer sieht man da.
(Visuddhimagga XVI.4)
Folglich kann auch nichts durch die Existenzen wandern - obwohl eine karmische Verbindung zwischen verschiedenen Existenzen besteht:
Die in der Vergangenheit durch Karma bedingt entstandenen Daseinsgruppen [= skandhas, also Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, Wille und Bewusstsein], die sind eben dort erloschen. Durch das vergangene Karma aber bedingt, sind in diesem Dasein andere Gruppen entstanden; doch ist aus dem vergangenen Dasein nichts in dieses Dasein übergegangen. Auch die in diesem Dasein durch Karma bedingt entstandenen Gruppen [skandhas] werden erlöschen; doch wird aus diesem Dasein nichts in das künftige Dasein übergehen.
(Visuddhimagga XIX.8 )
Wie nun die Aufeinanderfolge verschiedener Existenzen vorgestellt wird, erläutert zunächst Kapitel XIV des Visuddhimagga, in dem der Vijnana-skandha untersucht wird - dort ist von einem individuellen 'Bewusstseinstrom' oder 'Bewusstseinskontinuum' (bhavanga sota) die Rede. Allerdings keinem anfangs- und endlosen, sondern einem, das mit der Geburt ins Dasein tritt (patisandhi citta) und mit dem Sterben endet (cuti citta). Nyanatiloka gibt in seiner Übersetzung (die ich hier zitiere) 'patisandhi' bzw. 'patisandhi-vinnana' mit 'Wiedergeburt' und 'Wiedergeburtsbewusstsein' wieder, was vielleicht seine eigenen Ideen wiedergibt, aber nicht unbedingt den Text. 'Patisandhi' heisst 'Wiederverknüpfung', 'Regruppierung'. Was da wieder verknüpft und gruppiert wird, sind skandhas. Unmittelbar auf patisandhi ("Sobald aber das *Wiedergeburtsbewußtsein* geschwunden ist") folgt nun das 'Unterbewusstsein' bhavanga mit demselben Bewusstseinsobjekt. Das bhavanga ist nicht präexistent, es entsteht erst mit dem "Schwinden" des patisandhi-vinnana. Dieses bhavanga liegt nun sämtlichen folgenden Bewusstseinsprozessen zugrunde; die es konstituierenden Bewusstseinsmomente bilden das individuelle "geistige Kontinuum", das im Theravada gelehrt wird.
Der allererste Bewusstseinsmoment, das patisandhi-vinnana, initialisiert also ein permanentes Substrat, das sogenannte Bewusstseinskontinuum oder bhavanga-sota, das dann als tiefste Schicht des Bewusstseins karmische Prägungen aufnimmt. Diese 'Prägungen' sind das Bewusstseinsobjekt des Bewusstseinsubjektes bhavanga-sota. Ein 'Kontinuum' ist dieser Bewusstseinstrom, weil er auch im Tiefschlaf oder bei tiefer 'Bewusstlosigkeit' nicht abreisst - er ist der eigentliche Grund für die Kontinuität der empirischen Person. So wie patisandhi-vinnana der erste Bewusstseinsmoment dieses Bewusstseinsstromes ist, so ist das Sterbebewusstsein cuti-vinnana sein letzter. Der Bewusstseinsskandha ist dann auf seine tiefste Schicht, sein Substrat, reduziert bevor es unwiderruflich erlischt.
Pratityasamutpada, das bedingte Entstehen wird nun in Visuddhimagga XVII erläutert. Die 'Verknüpfung' zweier Existenzen, patisandhi, wird über ein karmisch gestaltetes Bewusstseinsobjekt hergestellt. Das Subjekt dieses Bewusstseinsobjektes ist zunächst ein Sterbebewusstsein, cuti-citta.
"Der allerletzte Unterbewußtseinsmoment in einem Dasein nämlich wird wegen seines Schwindens als das 'Abscheiden' (cuti, Sterben) bezeichnet".
Mit diesem "Schwinden" ist die Kontinuität eines Bewusstseins beendet, der Vijnana-skandha nicht mehr existent. Das Bewusstseinsobjekt wird nun als initialisierendes Objekt eines anderen Subjektes, eines neu entstehenden Bewusstseins, ergriffen. Eben dies ist patisandhi, der erste Bewusstseinsmoment eines neuen Vijnana-skandha.
Ein bloßes Phänomen ist's, ein bedingtes Ding, Was da ins Leben tritt im spätern Dasein. Nicht wandert es aus früh'rem Dasein dort hinüber, Und doch ist's nicht entstanden ohne früh'ren Grund. [...] Hierbei nun wird das frühere Bewußtsein wegen seines Abscheidens als das 'Sterben' (cuti) bezeichnet, das spätere Bewußtsein aber wegen seines Sichwiederverbindens mit dem Anfang eines neuen Daseins als die 'Wiedergeburt' (patisandhi, wörtlich 'Wiederverbindung'). Nicht aber ist dieses Bewußtsein aus dem früheren Dasein in dieses herübergewandert, noch auch ist es entstanden ohne solche Anlässe wie Karma, Karmaformationen, Neigung, Objekt usw., wie man wissen sollte.
(Visuddhimagga XVII)
Nochmals - patisandhi ist der Moment, in dem ein neu entstehendes ("aufsteigendes") Bewusstsein, das als patisandhi-vinnana bezeichnet wird, ein Bewusstseinsobjekt ergreift, das vorher Objekt eines nicht mehr existenten (geschwundenen) Bewusstseins (cuti-vinnana) war. Zwischen cuti-vinnana und patisandhi-vinnana ist eine 'Nullstelle' (um den Begriff 'Kontinuum' physikalisch zu gebrauchen), ist die Grenze zwischen zwei individuellen geistigen Kontinua, die als bhavanga-sota bezeichnet werden. An dieser 'Nullstelle' existiert kein Bewusstsein, es existiert lediglich das Bewusstseinsobjekt als 'Verknüpfung'.
Wer bisher mitgelesen hat, wird sich nun vielleicht fragen, wie denn ein Bewusstseinsobjekt von einem Bewusstsein in ein anderes wechseln kann, als wäre es ein Frosch, der von einem Tümpel zum anderen hüpft. Das hieße praktisch, dass das Bewusstseinsobjekt (zumindest im Moment des Wechsels, der 'Nullstelle' zwischen den Bewusstseinskontinua) unabhängig von einem Subjekt existieren kann. Dieses Problem bleibt - soweit ich sehe - im Theravada-Abhidhamma ungeklärt.