Karma
Hier betätigte sich Sāriputta einem Andersdenkenden gegenüber als weiser Seelsorger. Ein anderes Mal finden wir ihn als Verteidiger der Buddha-Lehre in einer Disputation mit andersdenkenden Samanen. Im Bambushain bei Rājagaha hatten sie sich versammelt, um mit ihm über die Karma-Lehre zu reden. Als feststehend nahmen sie die ursprünglich von Brahmanen als Geheimlehre in den Upanischaden, dem jüngsten Teil des Veda, aufgestellte, dann aber von Buddha öffentlich verkündete Lehre an, daß jedes Tun, gut oder böse, eine entsprechende Folge nach sich zieht, die sich in dem gegenwärtigen oder in einem späteren Dasein auswirken wird, und daß demgemäß unser gegenwärtiges Dasein selbst die Frucht unseres früheren Handelns ist.
Zweifelhaft war ihnen aber, wer für das Karma verantwortlich ist und ob derjenige, der in seinem gegenwärtigen Leben die Folgen des Karmas trägt, derselbe ist, der in einem früheren Dasein die Taten getan hat, oder ein anderer, oder teils er selbst, teils ein anderer, oder weder er selbst noch ein anderer, daß es also auf Zufall beruht. Diese vier Theorien trugen sie vor, um ihren Gegner in Verlegenheit zu bringen. Eine von ihnen könne nur richtig sein, und wenn sich der Gegner für eine entschieden hätte, würden sie nachweisen, daß er sich damit in Widersprüche verwickle und daß das Ergebnis unhaltbar sei. Diesen Disputierkünstlern war es, wie manchen Sophisten im alten Griechenland, weniger darum zu tun, die Wahrheit zu ermitteln, als vielmehr ihren Gegner in der Redeschlacht niederzukämpfen.
Sāriputta erkannte sofort den schwachen Punkt in der Fragestellung der anderen. Der liegt darin, daß sie voraussetzten, im Individuum oder in der Person sei etwas ewig Dauerndes oder eine unsterbliche Seele, die den Tod überdauert und im späteren Dasein eine neue körperliche Gestalt annehme. Das war die auf unklarem Denken beruhende Theorie von der Seelenwanderung, die Buddha widerlegt und durch die Lehre von der Wiedergeburt berichtigt hatte. Seele, so wies er nach, ähnlich wie es später Kant getan hat, ist ein leerer Begriff, dem nichts Tatsächliches entspricht; eine unsterbliche Seele gibt es nicht.
Das Individuum oder die Person ist nichts weiter als die Zusammenfassung der fünf Gruppen: Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, unbewußte Tätigkeiten und Bewußtsein. Diese Gruppen sind in unaufhörlicher Wandlung begriffen, sie entstehen bei der Geburt, ändern sich in jedem Augenblick und schwinden dahin im Tode. In der Erscheinungswelt gibt es nichts Unwandelbares, das als Seele durch die aufeinanderfolgenden Lebensläufe wandern könnte. Und doch ist die Karma-Lehre richtig, denn jedes Tun hat notwendig die ihm entsprechenden Folgen, und wenn diese Folgen nicht im gegenwärtigen Leben eintreten, müssen sie sich in einem späteren zeigen. Die Frage nach dem Subjekt des Tuns und des Erleidens der Folgen ist als falsch gestellt abzuweisen, denn es ist die Frage nach dem jenseits aller Erkenntnismöglichkeit liegenden Transzendenten.
Demgemäß erwiderte Sāriputta: Eure vier Theorien vom Karma beruhen auf einer irrigen Voraussetzung. Allerdings ist das Leiden, die Folge des Karmas, ursächlich entstanden, aber die Ursache ist nichts anderes als Berührung. Denn niemand kann anders empfinden als durch Berührung. - Ein anderer Jünger Buddhas, Ānanda, den wir später näher kennen lernen werden, hatte der Disputation zugehört und Buddha darüber berichtet, und dieser billigte die Erklärung Sāriputtas. Ānanda rühmte besonders, daß Sāriputta es verstanden hatte, den ganzen Gegenstand mit einem einzigen Wort, dem Wort Berührung, auszusprechen und damit die schwierige Frage zu lösen, und führte dann selbst, auf Wunsch Buddhas, näher aus, wie das zu verstehen ist:
Paticcasamuppāda
Das, was man Leiden oder Übel nennt, besteht im wesentlichen im Altwerden und Sterben. Altern und Sterben aber hat Geburt zur Voraussetzung. Geburt hat zur Voraussetzung, daß Leben überhaupt da ist. Leben hat zur Voraussetzung, daß ein Ergreifen, Erfassen stattfindet; Ergreifen oder Erfassen gibt es nur, wenn Daseinsdurst, Drang oder Trieb zum Leben vorhanden ist; dieser wieder kann nur dann auftreten, wenn Empfindung vorhanden ist; Empfindung setzt Berührung voraus. Damit Berührung stattfinden kann, müssen die sechs Sinnesbereiche da sein: die Fähigkeiten zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu tasten und zu denken. Und umgekehrt: wenn die sechs Sinnesbereiche verschwinden, dann gibt es keine Berührung, ohne Berührung keine Empfindung, ohne Empfindung keinen Daseinsdurst, ohne Daseinsdurst kein Ergreifen, ohne Ergreifen kein Leben, ohne Leben keine Geburt, ohne Geburt kein Altern und Sterben. "Auf diese Weise kommt die Aufhebung der ganzen Masse des Leidens zustande." (S.12.24)