… Um die Natur des Geistes zu erklären, werden im
Tibetischen zwei Attribute des Geistes herausgestellt: Er ist frei von Form und
erkennend. Das heißt, der Geist ist frei von irgendwelcher Art von Materie, leer
von Materie. Aber der Geist ist nicht nur leer oder frei von Materie, denn das trifft
auch auf den Raum zu, der ebenfalls frei von Materie ist und keine Form hat. Der
Geist verändert sich überdies von Moment zu Moment, er wechselt ständig seine
Ausprägung von Freude und Leid.
Wenn Sie zum Beispiel jemandem etwas Angenehmes sagen, wird
sein Geist den Zustand von Fröhlichkeit annehmen. Sagen Sie ihm etwas
Unangenehmes, wird sein Geist den Zustand von Traurigkeit annehmen. So wechselt
der Geist ständig von einem Zustand der Fröhlichkeit zur Traurigkeit und zu
neutralen Zuständen.
Betrachten Sie Ihren eigenen Geist von heute Morgen bis
jetzt: Da können Sie selbst feststellen, wie oft Sie sich gefreut haben und wie
oft nicht, das heißt, wie oft Ihr Geist in einem angenehmen und glücklichen
Zustand war und wie oft in einem unangenehmen und traurigen oder neutralen
Zustand. So ist der Geist nicht nur frei von Materie, sondern auch erfassend
und erkennend.
Der Geist erfasst ständig ein Objekt. Ganz gleich, ob er es richtig
oder falsch erfasst: Ständig ist er auf ein Objekt gerichtet, ständig erscheint
ihm etwas. Wenn Sie an Ihr Zuhause, an Ihre Wohnung denken und sich an die
Deckenlampe erinnern, erfasst Ihr Geist diese Lampe, das heißt wenn er daran
denkt, richtet er sich gewissermaßen auf diese Lampe. Oder denken Sie an Ihr
Auto oder an andere Dinge: Immer wenn Sie an irgendetwas denken, erfasst Ihr
Geist dieses Objekt.
Allein die Tatsache jedoch, dass der Geist ein Objekt
erfasst, heißt noch nicht, dass er es auch richtig erfasst. Manche Objekte
erfasst er falsch. Wichtig ist hier, dass man versteht, dass der Geist ständig
auf irgendein Objekt gerichtet ist oder ein Objekt erfasst.
Geist ist gewöhnungsfähig
Der Geist hat weiterhin die Eigenschaft, dass er sich
gewöhnen lässt. Ganz gleich, woran er gewöhnt wurde, auf diesem Gebiet kann er
dann sehr große Dinge verrichten. Wenn Sie zum Beispiel Dharma kennenlernen, es
anwenden und Ihren Geist an Dharma gewöhnen, kann er sich auf diesem Weg
ständig weiterentwickeln, eines Tages sämtliche Fehler abstreifen und in seiner
Natur Dharmakaya (der höchste Weisheitsaspekt des Buddha) werden. Er kann also
einen Zustand erreichen, der vollständig frei von allen Fehlern und Makeln ist.
Wenn man den eigenen Geist aus seinem gegenwärtigen
fehlerhaften Zustand in einen Zustand bringen will, in dem alle Fehler
beseitigt und alle Vorzüge entwickelt sind, so ist es notwendig, die Natur des
Geistes genauer zu kennen. Und die Begründung für eine solche mögliche Entwicklung
des Geistes ist in der Natur des Geistes selbst zu finden. Dabei kann nicht nur
der Geist soweit entwickelt werden, sondern auch der Körper und die Sprache
werden durch die Fortschritte des Geistes bis zu diesem vollkommenen Stadium
gebracht, da sie gewissermaßen die Werkzeuge des Geistes darstellen.
Wenn von Arhat, Bodhisattva und Buddha die Rede ist, so
bezieht sich das auf Zustände des Geistes, die erreicht werden können, wenn man
den Geist vom gegenwärtigen Zustand langsam auf dem Weg des Dharma
weiterentwickelt, ihn daran gewöhnt und ihn schult. Wird im Gegensatz dazu der
Geist an eine unheilsame Richtung gewöhnt, an Begierde und Hass, dann wird
nicht nur unser Geist in dieser Richtung weitergehen, sondern ebenso die
Sprache und den Körper in diese Richtung mitreißen. Das führt zu einem endlosen
Zyklus, in dem man von Leid zu Leid wandert.
So besitzt der Geist die Natur, dass man ihn gewöhnen kann.
Ganz gleich, in welchem Zustand er gegenwärtig ist, er hat die Fähigkeit, sich
an eine heilsame Richtung zu gewöhnen und sich darin ständig weiterzuentwickeln.
Ein Mensch, der am Anfang nichts weiß, kann in der Schule Dinge lernen und hohe
Stufen erreichen, in denen er großes Wissen und große Kenntnisse besitzt. Das
ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der Geist entwickelt und an bestimmte
Dinge gewöhnt werden kann. Das muss nicht immer unbedingt durch Meditation
geschehen, sondern kann auch, wie gesagt, durch die
Schule geschehen. Soweit zur Natur des Geistes allgemein. …
Quelle: Geshe Rabten, Auf dem Weg zur geistigen
Freude