Ich stimme all dem uneingeschränkt zu.
Es scheint dir hier jetzt zu theoretisch und zu wenig alltagsnah zu werden...
Auf was soll sich die Lehre denn beziehen, wenn nicht auf den Alltag?
Ja, die Lehre bezieht sich auf den Alltag. Glaubst du denn, dass ich das anders sehe?
Wir leben in einer Zeit, in der immer klarer wird, dass nicht jeder allein für sein Leiden verantwortlich ist. Es ist nicht nur Karma, wenn ein Tier eine Existenz in der Massentierhaltung erdulden muss, es ist nicht nur Karma, wenn Menschen kein Auskommen mehr finden, versuchen über das Mittelmeer zu fliehen und dabei ertrinken. Es ist nicht nur Karma, wenn Menschen überteuerte Mieten zahlen müssen, weil sich ganze Branchen daran obszön bereichern, es ist auch nicht nur Karma, wenn künftige Generationen globale Kriege um knappe Ressourcen in einer in weiten Teilen unbewohnbaren Welt erleben müssen. Du erkennst meine Beispiele von oben wieder. Wir sind alle dafür auf die eine oder andere Weise verantwortlich – auch durch Passivität!
Das sind jetzt die Ungerechtigkeiten in der Welt. Das sind Teile des globalen Alltags. Für all das und für noch viel mehr soll ich verantwortlich sein? Um Himmels Willen, ich bin nicht das Göttliche oder das kosmische Bewusstsein. Ich lebe mittendrin und bin Teil davon, aber ich übernehme nicht die Verantwortung für das alles. Was für eine Bürde wäre das, ich würde augenblicklich unter der Last zusammenbrechen.
Natürlich kann ich etwas tun, ganz konkret im Alltag, ich muss und will nicht passiv sein, aber ich bin nicht Superman oder Spiderman, ich kann nicht die Welt retten.
Nun sagt die buddhistische Lehre, ich kann den Wesen am besten dienen, wenn ich mich selbst befreie. Die Befreiung mündet in der Erkenntnis der zwölf Glieder des abhängigen Entstehens, nach der Wille und Unwissenheit zu Leiden führt. Und das stimmt nur bedingt (siehe oben). Allerdings ändert diese Erkenntnis nichts am Leiden der Wesen. Diese Erkenntnis kann mir helfen, mich von Dukkha zu befreien, in dem sie mich zu generellem Überdruss führt, so dass ich der Wirklichkeit den Rücken zuwende:
Zitat
"In solchem Anblick, ihr Mönche, wird der erfahrene heilige Jünger
des Körpers überdrüssig
und wird des Gefühles überdrüssig
und wird der Wahrnehmung überdrüssig
und wird der Geistesformationen (sankhara) überdrüssig
und wird des Bewußtseins überdrüssig,
überdrüssig wendet er sich ab. Abgewandt löst er sich los. 'Im Erlösten ist die Erlösung', diese Erkenntnis geht auf. 'Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt', versteht er da.
-> Quelle
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Die Erkenntnis kann nicht nur helfen, mich von dukkha zu befreien, sie kann noch viel mehr. Sie verändert mich und meinen Blick auf die Welt. Ich beginne anders zu handeln, anders zu sprechen, und allmählich auch anders zu denken. Das hat eine große Auswirkung auf mein direktes Umfeld.
Dieser Überdruss oder diese Ernüchterung, von der du sprichst, muss nicht dazu führen, dass ich der Menschen-Wirklichkeit den Rücken kehre. Es wird sich zwar wohl verändern, wem und welchen Dingen ich Aufmerksamkeit schenke, was ich an mein Bewusstsein lasse, alleine schon aus Achtsamkeit mir selbst gegenüber. Das heißt aber nicht, dass ich der Welt den Rücken kehre, das heißt nur, dass ich die Dinge ins rechte Licht rücke und schaue, was ich tun kann, was in meiner Kraft steht.
Ist das eine Option in einer Zeit, in der es wichtiger denn je ist, zu handeln, in der Nicht-Handeln zu einer Vermehrung von Leid führt?
Über die "Menge" an Leid im Verlauf der Geschichte kann ich nichts sagen. Ich vermute, dass sie weder zu- noch abnimmt. Aber das weiß ich nicht so genau, im Grunde finde ich das auch nicht so wichtig.
Du wirkst, als wolltest du dich und alle anderen wachrütteln. Daran ist nichts auszusetzen. Wir sind nur vielleicht so unterschiedlich, dass jede/r auf eine andere Weise gut wachzurütteln ist. Es ist auch schwer zu sagen, was genau ein heilsames Dasein ist, wir stehen alle an unterschiedlichen Punkten.