Um mit dem 'Betreff' zu beginnen - es ist stark von den Ausgangsbedingungen abhängig (den 'Fähigkeiten', und Erfahrungen, die jemand mitbringt), ob bzw. wie sehr man für Sōtō-Zen, also die von Dōgen übermittelte Übung des Weges, einen Lehrer braucht. Theoretisch ist es sicher möglich, das alles aus den Schriften Dōgens zu lernen, wenn man sie (und das ist der entscheidende Punkt) übend liest - d.h. umsetzt / aktualisiert. Zentral im Zazen. Das dürfte nur äußerst selten gelingen, in der Regel bleibt man da stecken und gibt früher oder später frustriert auf. "Zen bringt nix? Haha - verarschen kann ich mich selbst ..."
Erfahrungsgemäß tauchen beim Einüben des Zazen in der formlosen Form des shikantaza verschiedene Probleme auf - mentaler und somatischer Art. Evt. auch schlicht praktischer Art oder gar sozialer Art. Die Beratung durch kalyāṇamitras - wenn man sie denn annehmen kann - kann da eine große Hilfe sein. Kalyāṇamitra ('guter und tugendhafter Freund') ist die ursprüngliche Bezeichnung für 善知識, zen chishiku, was auch dasselbe bedeutet. Das, was bei uns so gerne mit "Meister" übersetzt wird. Das muss nicht laufen wie eine Handwerkslehre nach japanischer Zunftordnung, das ist eher etwas für Geschäftsleute. 'Lehrer' (bzw. 'Lehrerin') passt eigentlich ganz gut, wenn man da auch pädagogischen (und nur den) Eros mitdenkt. Und - es ist durchaus sinnvoll, sich verschiedene Lehrer/innen und ihren Lehrstil anzuschauen, bevor man sich für jemanden entscheidet und ihn dann fragt. Am besten für solch ein 'Testen' eignet sich ein Sesshin oder Zazenkai - da lernt man auch die Übungsgemeinschaft kennen. Nichts sagt zuverlässiger etwas über einen Lehrer / eine Lehrerin aus als die unter seiner/ihrer Betreuung übende Gemeinschaft.
Was man nicht erwarten sollte, ist, dass man dann ständig am Händchen genommen und herumgeführt wird. Wenn einem einer so kommt, verdrückt man sich am besten schnell. Du musst deinen Weg schon selbst suchen und finden. Du bekommst dabei Unterstützung und Beratung - von jemandem, der auf seinem Weg schon etwas länger unterwegs ist. Ruckzuck geht das alles nicht, das Einüben braucht seine Zeit. Da kann es durchaus ausreichend sein, zwei- bis dreimal im Jahr um ein (oder mehrere, im Rahmen eines sesshin) dokusan zu bitten. Der Bedarf nach Unterstüzung und Hilfestellung reduziert sich ja auch mit der Zeit - was ja schließlich Sinn der Sache ist.
Den wichtigsten Punkt habe ich noch gar nicht angesprochen. Ohne Lehrer hat man kein Korrektiv, wenn man auf den Holzweg gerät, ohne es zu merken. Der hört dann irgendwann auf und man meint, man sei am Ziel, während man nur irgendwo knöcheltief im Dreck steckt.
Also erste Frage, ab wann gilt ein Lehrer eigentlich als "wirklicher" Lehrer?
[Ich bitte um Nachsicht, wenn ich mir fortan das etwas umständliche Gendern spare]
Der Schüler macht den Lehrer und der Lehrer den Schüler. Anders gesagt - da findet eine Übertragung statt. Und zwar primär eine Übertragung von Herz/Geist zu Herz/Geist. Das setzt eine große Offenheit des Schülers voraus - und eine solche Offenheit kann auch missbraucht werden und zu Verletzungen führen.
Es gibt wegen dieses Missbrauchspotentials auch eine sekundäre, formale Übertragung. So 'ne Art Waffenschein. Diese formale Übertragung definiert den Kreis derer, die von ihren Lehrern als befähigt beurteilt wurden, das Erlernte und Erfahrene selbst zu lehren - es weiter zu übertragen. Das ist so etwas wie eine wechselseitige Bürgschaft.
Okay, der Haken an der Sache ist klar - eine Garantie, nicht an den Falschen zu geraten, sind auch saubere Papiere nicht immer, wie man weiß. Ein eigenes Urteil bleibt einem da nicht erspart. Deswegen sollte es wohl abgewogen sein.
Dazu ein weiterer Punkt. Wie oben schon angedeutet, spielt Sangha, die konkrete Übungsgemeinschaft, eine wichtige Rolle. Das 'dritte Juwel' ist ebenso Lehrer wie ihr Leiter. Wer nie in und als Gemeinschaft geatmet und Zazen geübt hat, hat etwas verpasst.
Viele historische Zen-Praktizierende habe ja großteils recht einsiedlerisch gelebt und ohne Lehrer in Abgeschiedenheit praktiziert - ich denke, dass diese trotzdem Entwicklung auf dem Weg erfahren haben.
Ja und ja. Wobei sie sich auf diese Weise zurückgezogen haben, nachdem sie keinen Lehrer mehr brauchten. Oder sogar erst (wie Jōshu), nachdem ihr Lehrer, den sie bei seinen Aufgaben unterstützten, verstorben war. Es ist die Phase der Übung, den die klassischen 'Ochsenbilder' 7 -9 beschreiben. Dabei kann und braucht auch kein Lehrer mehr helfen. Aber zunächst ist es erst einmal sinnvoller, am 4. Bild zu arbeiten. Dann kann man weiter sehen ...