Erstaunlich finde ich die Medienkampagne der Dalai-Lama-Versteher, die die Kampagne der Dalai-Lama-Gegner mit dem Pädophilie-Vorwurf ziemlich exakt (wenn auch seitenverkehrt) widerspiegelt und das Geschehen zu einer exotischen Kuriosität herunterspielt. Das muss diese Dialektik sein, von der man so viel hört ... Wobei man das Muster ja auch aus anderen aktuellen Debatten kennt.
Was die abwiegelnden Erklärungen des Herrn in dem von Thorsten Hallscheidt verlinkten Video angeht, so ziehe ich es vorerst vor, mich stattdessen an ethnologische Fachliteratur zu halten. Alles, was ich dazu finden konnte, verweist auf das bereits von mir Geschriebene - aber auch nicht auf mehr. Man möge mir meine Skepsis nachsehen - auch oder gerade weil die in dem Video verkündete Botschaft von vielen Verunsicherten so offensichtlich sehnlichst erwartet wurde. Achja - alles in Ordnung. Nur ein "eurozentrisches" Missverständnis. So wie die böswillige Kritik eurozentrischer Gutmenschen an dem altehrwürdigen Brauch der Witwenverbrennung in Indien oder der Genitalverstümmelung von Mädchen in Afrika. Darf man alles nicht so eurozentrisch sehen.
Zur erwähnten ethnologischen Fachliteratur:
Quote
Tibetans love children as much as any other people but do not know how to care for them. The grandmother will spend her leisure stuffing barley gruel or pouring buttered tea into it's mouth to satisfy it, or will let the infant suck her tongue to keep it quiet. Grandmothers or older children have the care of many babies when the mother is at work ...
Marion Herbert Duncan
Customs and Superstitions of Tibetans
Mitre, London 1964
Also - so gehen bzw. gingen ältere Frauen in Tibet (zumindest im östlichen) mit von ihnen betreuten Kleinkindern um, um sie zu 'stillen'.
Das gibt natürlich Anlass, über die wechselseitigen Projektionen namens 'Dalai Lama' zu schwadronieren. Wobei die, die sich für die eine oder andere Kampagne engagieren, kräftig bemüht sind, ihre Projektionen zu verkaufen und damit aufzuwerten.
Wenn ich mir das Video anschaue und mich bemühe, Projektionen zu vermeiden, dann ist meine Wahrnehmung folgende: Nach der von einem Jungen (oder seiner Mutter) erbetenen Umarmung und dem (vom dem alten Mann darauf hin mit Fingerzeig erbetenen) Kuss auf die Wange zieht der Mann den offensichlich überraschten Jungen mit dem Kinn zu sich heran und küsst ihn auf die Lippen. Schon hier lässt sich mE ein leichtes Widerstreben (oder doch zumindest Verunsicherung) des Jungen wahrnehmen. Nach ca. 10 Sekunden Überlegung des Mannes, wie es weiter gehen soll, die Aufforderung "and suck my tongue" - vor der ihm entgegen gestreckten Zunge weicht der Junge unwillkürlich zunächst zurück. Unter Erwachsenen wäre das als Scherz oder Neckerei schon grenzwertig gewesen - bei einem (fremden!) Kind ... Hätte er gesagt "show me your tounge" hätte man das noch als Aufforderung zu einer traditionellen tibetischen Begrüßung interpretieren können - aber "suck" ist da schon in einer anderen Liga angesiedelt. Der Junge nähert sich dem Mann deutlich langsamer als umgekehrt bis zum Stirnkontakt; Lippen- oder Zungenkontakt vermeidet er. Als er anschließend 'entlassen' wird, setzt ein (auf mich) erleichtert wirkendes Lächeln ein. Als er für eine erneute Umarmung herangezogen wird, wendet er - anders als beim ersten Mal - den Kopf ab und vermeidet Kontakt mit dem Gesicht des Mannes.
Generell macht der Mann auf mich einen leicht desorientierten und verwirrten Eindruck. Ein insgesamt sehr herzlich und liebevoll wirkender Mann, allerdings ohne jedes Gespür für soziale Distanz in einem mE schon pathologischen Ausmaß. Voll bewusst scheint er sich der Grenzüberschreitung nicht zu sein - darauf deutet allenfalls das Zögern vor der Aufforderung, nun an der Zunge zu saugen.
Von Missbrauch kann man hier im strafrechtlichen Sinn wohl nicht sprechen - vor allem, weil der Junge der Aufforderung nicht nachkam und nicht weiter gedrängt wurde. Aber man kann Kinder auch zu nicht strafbaren Zwecken missbrauchen - und das verlinkte Interview mit Mutter und Kind fällt nach meiner Auffassung ebenso darunter wie die missglückte PR-Aktion.
Immerhin hat sich damit wohl mein Hinweis, eine Verpixelung des Jungen in dem Video sei angemessen, erledigt. Was übrigens auch Frau Bosetti so sieht ... Und zusammen mit Thorsten Hallscheidt hat sie mich überzeugt, dass das nicht wirklich eine Entschuldigung ist, was Dharamsala dazu öffentlich hat verlauten lassen.
https://www.youtube.com/watch?v=GSCP_MF77sw