Zitat „Die Biologie steht vor einer kopernikanischen Wende“, prophezeit der italienische Botaniker Stefano Mancuso, der an der Universität Florenz das „Labor für Neurobiologie der Pflanzen“ betreibt.
Der Astronom Nikolaus Kopernikus entdeckte im ausgehenden Mittelalter, dass die Erde um die Sonne kreist, und löste damit die Vorstellung des griechischen Gelehrten Ptolemäus ab, die Erde stehe im Mittelpunkt des Universums. Auf ähnliche Weise wird derzeit die langjährige Annahme vieler Biologen, Pflanzen seien im Grunde besinnungslose Maschinen, durch neue Entdeckungen ihrer Erfahrungs- und Empfindungsfähigkeit revidiert.
Mancuso ist überzeugt: Gewächse seien nicht nur im Vollbesitz aller fünf Sinne, die wir Menschen haben, sie hätten darüber noch eine ganze Menge mehr, von denen wir bisher nicht einmal zu träumen wagten. Für Magnetfelder zum Bei-spiel oder für Chemikalien.
„Heute wissen wir: Pflanzen sprechen miteinander, erkennen ihre Verwandten und zeigen ganz unterschiedliche, individuelle Charaktere“, sagt Mancuso. Der Mittfünfziger sitzt in seinem Labor vor einer Pinnwand, die mit Ausdrucken von Schönheiten aus dem botanischen Reich zugehängt ist: Orchideenblüten, alte Bäume, Landschaften. Daneben breitet sich eine Weltkarte aus.
Der Forscher – schütterer grauer Vollbart, flinke Augen hinter modischer Brille – könnte Geisteswissenschaftler sein anstatt Laborpraktiker. Und tatsächlich geht es Mancuso nicht nur um Routineforschung, sondern um die großen ungelösten Fragen: „Ich beschäftige mich mit Pflanzen, weil ich wissen will, was Leben ist. Das ist nämlich überhaupt noch nicht klar. Bloß geben die meisten Forscher das nicht zu.“ Für Mancuso verhindert gerade in der Wissenschaft ein allzu menschenfixierter Standpunkt, dass wir andere Wesen so wahrnehmen, wie sie sind. Wir können ihre Fähigkeiten nicht erkennen – und erst recht nicht anerkennen.
Sehen, hören, tasten, riechen, schmecken – ist es wirklich möglich, dass die starren Gewächse in Wahrheit nicht nur in manchen Körperpartien so beweglich sind wie kleine Tiere, sondern dass sie eine ebenso differenzierte Wahrnehmung der Welt haben? Um seinem Zuhörer auf die Sprünge zu helfen, erinnert Mancuso daran, dass es wenig nutzt, wenn wir unsere eigenen Fähigkeiten eins zu eins mit denen der Pflanzen vergleichen. Wir müssen vielmehr den Standpunkt der Gewächse einnehmen – sozusagen die Welt aus den Augen sesshafter Lebewesen betrachten, die Licht essen.
Mit den Augen fängt es an. Pflanzen sind blind, oder? Denn sie besitzen im Gegensatz zu fast allen Tiere keine Sehzellen. Mancuso hilft sanft nach: Wenn wir Sehen als die Fähigkeit beschreiben, auf Lichtunterschiede sinnvoll zu reagieren, dann können Pflanzen nicht nur sehen, sondern sind geradezu Meisterinnen darin. Denn Licht ist ihr eigentliches Lebensmittel. Um zu gedeihen, müssen Pflanzen das Licht erfassen und ihm optimal entgegenwachsen. „Wir können uns vorstellen, dass im Grunde der ganze Körper der Pflanze mit Augen bedeckt ist“, sagt Mancuso. Oder vielmehr: Die Pflanze ist ein einziges Auge. Nicht nur die Blätter, alle Oberflächen des Pflanzenkörpers enthalten Rezeptoren für Helligkeit – damit dort im Notfall schnell Grün austreiben kann.
Pflanzen haben elf verschiedene Lichtsensoren, und damit sieben mehr als der Mensch in seinen Augen. Der US-Botaniker David Chamovitz fand in den vergangenen Jahren heraus, dass gleiche Gene in Pflanzen, Tieren und Menschen für die Lichtregulation zuständig sind. Chamovitz ist sich sicher: „Pflanzen sehen Sie, wenn Sie sich ihnen nähern und wenn Sie sich über sie beugen.“
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