Lieber mukti,
erreiche doch mal in vollendeter Form die drei Punkte, die Du von Herrn Batchelor angeführt hast, und dann kannst Du uns ja sagen, ob es darüber hinaus noch etwas zu erreichen gibt.
Daran erkenne ich nämlich den Wert einer Lehre, nicht an den Zielen, sondern an denjenigen, die ihn gehen.
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Leiden vollständig zu umarmen, bedeutet nicht, Leiden zu verstärken, sondern steigert paradoxerweise deine Empfindung des Erstaunens, am Leben zu sein. Durch das «Ja»-Sagen zu Geburt, Krankheit, Alter und Tod, öffnest du dein Herz und Geist für das schiere Mysterium des Seins hier überhaupt erst: Dass du in diesem Moment atmest, den Wind in den Blättern der Bäumen rascheln hörst, du in den Nachthimmel aufschaust und in Staunen verloren bist.
Kann ich nur bestätigen. Es gibt nichts zu erreichen und abzulehnen. In solchen Momenten ist die Welt in Ordnung wie sie ist. Ich habe auch bei todkranken Menschen solche Momente miterleben dürfen.
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Eine sorgfältige Prüfung des eigenen menschlichen Zustandes lässt sehr wenig übrig, weswegen man narzisstisch sein könnte.
Je genauer sich jemand die vergänglichen, tragischen und unpersönlichen Bedingungen der eigenen Existenz anschaut, desto mehr bricht das Spiegelbild des geliebten, faszinierenden Selbst-Bilds auseinander und löst sich auf.
Auch da bin ich ganz dabei. Das ist das Ergebnis der Übungen und Analysen, wie wir sie auch im Vajrayana kennen. Ungetrenntsein, die Bedingtheit von allem erkennen, kein Grund mehr an der Illusion eines unabhängigen Egos mehr festzuhalten.
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Dieses Verfahren ist eine Vorlage, die über das gesamte Spektrum der menschlichen Erfahrung angewendet werden kann, von jemandes ethischer Vision bezüglich dessen, was ein «gutes Leben» ausmacht, bis zu jemandes tagtäglichen Interaktionen mit Kollegen am Arbeitsplatz. Buddhismus 2.0 hat kein Interesse daran, ob eine solche Lebensweise zu einem endgültigen Ziel namens «nibbana» führt oder nicht. Worauf es ankommt, ist ein immer tieferes, immer breiteres Engagement für einen Prozess der Praxis, in der jedes Element von ELSA ein notwendiger und wesentlicher Bestandteil ist.
Da sind die silas, die rechte Lebensweise, die Achtsamkeit, das Ende der Spekulationen, Mitgefühl usf.
Es fehlen also nur: Kanons als einziges Studienobjekt, Gebimmel, Roben, bunte Farben, Institutionen …
Klingt doch ganz so, wie es Herr Gautama mal gemacht hatte, bevor man begonnen hatte ihm nachzulaufen, Haine und kostbare Roben zu schenken, seine Reden aus dem Gedächtnis aufzuschreiben und mit allerlei Zierat zu verbrämen, sich intensiv über die richtige Interpretation zu streiten, Traditionslinien zu begründen …
Nicht, dass ich was dagegen habe, das ist mir ehrlich gesagt egal – manches mag ich richtig, denn es hilft mir und anderen, aber es ist doch Drumherum. Drumherum zu schaffen liegt womöglich in der menschlichen Natur: Wir essen eben lieber bunt und gewürzt, appetitlich angerichtet, mit angemessenen Werkzeugen. Ich jedenfalls.
In meiner persönlichen Analyse trenne ich sehr wohl zwischen der Essenz und dem Drumrum.
Viele Menschen sind abgeschreckt vom Drumrum. Und zum Teil auch mit Recht, wie ich finde, denn viele Buddhisten halten das Drumrum für die Essenz. Z.B. gehen sie ein paar Weihrauchstäbchen anzünden und machen anschließend daheim das Monster. Oder entschuldigen ihre mitgefühlsbefreite Vernachlässigung anderer Menschen mit dem Argument Karma. Oder zitieren seitenweise Kanon um sich damit über andere Siege zu erringen. Oder errichten Sanghas um Macht auszuüben. Über alles das schwebt die große fette goldene Karotte Nirwana. Über die unterhält man sich dann am Lagerfeuer und spekuliert, wie die wohl schmecken mag und wie sie dem Buddha gemundet haben könnte, und jeder will sie haben … darüber verbrennen die Kartoffeln, die sie im Feuer haben.
Vielleicht macht das Batchelor auch? Weiß ich nicht, denn ich kann nicht in sein Herz sehen, ich kann nur mit meinem Herzen die Zeilen oben lesen. Die berühren mein Herz, und allein das zählt. (Ich beziehe mich nur auf diese Zeilen da oben, denn ich habe noch kein Buch von ihm gelesen. Werde es bei Gelegenheit doch mal tun.)
Jeder ist auf seinem Weg und hat seine Gedanken und Überlegungen. Für mich gebietet der Anstand mich darüber nicht abwertend auszulassen, sondern das zu respektieren. Das habe ich leider oft genug getan, das reut mich zutiefst.
Liebe Grüße
Doris