Ok, nehmen wir an, der Satz „ICH habe schon unzählige Leben gelebt und erinnere mich daran“ entspricht der Wahrheit.
Was hat er zu bedeuten?
Dadurch, dass das ICH in Abhängigkeit von den Aggregaten und in Abhängigkeit von der Benennung existiert, ist diese Aussage so sinnvoll und richtig wie die, dass jeder „Regentropfen“ seit Anbeginn der Zeiten existiert und immer existieren wird, nämlich einmal als Teil eines Ozean, einmal als Teil eines Flusses, einmal als Teil eines Urinstrahls, einmal aufgespalten in Wasserstoff und Sauerstoff, u.s.w..
In vielen menschlichen Wesen entsteht (emergiert) die Vorstellung eines kontinuierlichen existierenden Ich. Diese Vorstellung entsteht in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen. Vergehen diese Bedingungen, vergeht auch das, was wir als „ICH“ bezeichnen. Das ist wieder ähnlich wie bei einem Regentropfen. Auch wenn die Substanz, aus der der Regentropen besteht, unbegrenzt fortdauert, so sind doch nur sehr begrenzt die Bedingungen gegeben, dass die „Benennung“ Regentropfen zutrifft.
Ein Regentropfen hat also einen eindeutigen Anfang (Kondensierender Wasserdampf) und ein eindeutiges Ende (wenn er in einer größeren Menge von Wasser aufgeht). Kommt deshalb ein Regentropfen aus den Nichts? Entsteht er ohne Grund? Keineswegs! Mit dem Bewusstsein, mit dem „ICH“ ist es ähnlich.
Im Grunde ist „ICH“, wenn es als anfangslos gedacht wird, nicht mehr und nicht weniger als eine Bezeichnung für das Potenzial der Wirklichkeit sich zu „ICH“, zu reflektierender Bewusstheit verbinden zu können. Um in diesem Bild zu bleiben, muss es also einen Teil der Wirklichkeit geben, der „ICH“, Bewusstheit werden kann, ebenso wie Wasser immer das Potenzial hat, Regentropfen zu werden.
Dieses „Material“ hat die besondere Eigenschaft, dass Erleben stattfinden kann (auch ohne jemanden, der bewusst erlebt). Diese Grundeigenschaft kann tatsächlich nicht aus dem Nichts kommen und ohne Ursache entstehen, und muss also ständig in Wandlung befindlicher Teil der Wirklichkeit sein. Auch kann diese Konstante nicht verschwinden, ebensowenig, wie das, woraus ein Regentropfen besteht einfach verschwindet, wenn der Regentropfen in einer Pfütze sein Ende gefunden hat.
Der Philosoph David Chalmers sieht hier eine riesige Lücke in den Naturwissenschaften: Neben Raum, Zeit und Masse muss es seiner Ansicht nach noch eine Kategorie geben, die das Entstehen von Qualia erklärt: von der Besonderheit des Universums, dass etwas nicht nur existiert sondern auch zum Er-Leben werden kann. Als Bild nennt er hier etwas wie subatomare Teilchen, die aber die Besonderheit haben, Bewusstheit in einfachster Form zu sein. Diese Teilchen, besser diese Eigenschaft der Materie, Qualia, Erlebnisinhalt zu sein, ist ebenso unzerstörbar wie Materie selbst. Es fehlt also mit anderen Worten in dem Teilchenzoo, den die Physik etabliert hat, das Teilchen, das Bewusstsein werden kann. Lothar Schäfer hat den Begriff der Information dafür vorgeschlagen.
Man könnte also die Wirklichkeit als riesigen Ozean begreifen, der das Potenzial hat, unter bestimmten Bedingungen höhere Formen von Bewusstsein zu erzeugen, die bei uns Menschen zu der Vorstellung eines kontinuierlichen „Ich“ führen. Die Grundvoraussetzungen von Bewusstheit sind aber immer schon als Grundbaustein, Grundbedingung von Materie vorhanden und werden auch immer vorhanden sein.
Aus dem Hinduismus stammt folgender Vers, der das gut illustriert:
In den Steinen schläft Brahman.
In den Pflanzen atmet Brahman.
In den Tieren träumt Brahman.
In den Menschen erwacht Brahman.
Unter diesen Vorraussetzungen ist eine "Wiedergeburt" mehr als wahrscheinlich, was aber nur bedeutet, dass die grundlegende Eigenschaft der Materie, bewusst werden zu können, zu immer neuen Formen von Bewusstheit kristallisiert und wieder zerfällt. Das, woraus das Erleben besteht, das ich mit dem Begriff "ICH" belege, ist wahrscheinlich ohne Anfang und ohne Ende. Ebenso wie Sauerstoff und Wasserstoff mal Ozean, man Fluss, mal Urinstrahl, mal Regentropfen sein können, und weder Anfang noch Ende haben. Doch diese Ich-Illusion, die ich mein Leben und meine Erinnerung nenne, die exisitiert so lange wie der Regentropfen. Das "Wasser" aus dem mein Leben und alle Erinnerungen bestehen, ist allerdings ohne Anfang und ohne Ende.