Beiträge von Sudhana im Thema „Gehen, gegangene Strecke, der Gehende“

    Kleiner Einwurf. Von "Ebenen" zu sprechen, halte auch ich für ein leicht missverständliches Bild, auch wenn es nicht falsch ist (dazu später). Es wird - gerade in Bezug auf Wahrheit - da leicht ein Rangunterschied im Sinne einer "höheren" oder "tieferen Ebene" assoziiert und damit auch eine unterschiedliche Wertigkeit impliziert. Dem ist hier jedoch nicht so; der Unterschied liegt in der Funktion, die saṃvṛtisatya (anders als paramārthasatya) hat: sie zeigt auf paramārthasatya. Nāgārjuna sagt dies unmissverständlich: ohne saṃvṛtisatya kann paramārthasatya nicht gezeigt werden. In diesem - und nur in diesem - Sinne ist saṃvṛtisatya eine "relative Wahrheit". Die Relation, die Beziehung ist da eben dieses "zeigen". Grundsätzlich geht es bei Nāgārjunas 'zwei Wahrheiten' um eine kommunizierbare Wahrheit und eine nicht kommunizierbare Wahrheit.


    Tatsächlich ist die Grenze zwischen Kommunizierbarkeit und Nicht-Kommunizierbarkeit unüberbrückbar - sie muss schon "durchbrochen" werden. Dann hat man bestenfalls eine Sprache, die dieser Grenze sehr nahe kommt - die Sprache der Prajñāpāramitā-Sūtras oder die der gōng'àn / kōan.


    Eigentlich verdeutlicht der Begriff 'saṃvṛti' dies schon ein wenig. Es gibt mehrere Übersetzungsmöglichkeiten, je nach Kontext. am Häufigsten steht es für "Verschluss", doch hier ist offensichtlich die zweithäufigste Bedeutung gemeint: bedecken, verbergen, geheim halten. Die mE treffendste Übersetzung für saṃvṛtisatya wäre "verhüllte Wahrheit". Solch eine Verhüllung kann man schon als "Ebene" begreifen, die nichtsdestotrotz dem Verhüllten Form gibt und es so zeigt.


    Wenn eine "Bedeckung" eng sitzt (und womöglich eine gewisse Transparenz hat), dann verbirgt sie nicht nur, dann zeigt sie auch. Wie jede Frau zumindest aus der Erinnerung weiss - und jeder Mann mal staunend erfahren hat.


    So weit mein Wort zum Sonntag.


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    Gute Vorsätze sind dazu da, sie zu - äh ... los zu lassen...


    Eine besondere Perle ist hier śloka 25.20 - in der Übersetzung Weber-Brosamer/Back

    Zitat

    25.20 Die Grenze des Nirvāna ist zugleich die Grenze des Saṃsāra. Zwischen diesen beiden wird auch nicht der feinste Unterschied gefunden.

    Bemerkenswert, weil Nāgārjuna hier von zwei Grenzen (Skrt. koṭi; Garfield, den Rudolf benutzt, übersetzt "limit") spricht und diese in eins setzt - mit einem so simplen wie überzeugenden Argument - denn was sollte die "Grenze des Nirvāna" anderes ausgrenzen als saṃsāra und was die "Grenze des Saṃsāra" anderes als nirvāna? Beide sind dialektisch aufeinander bezogen; ein Drittes gibt es da nicht. Demzufolge sind beide Grenzen tatsächlich ein und dieselbe, weil sie auschließlich saṃsāra und nirvāna voneinander abgrenzen können. Simple Dialektik. Eine, wo darüber hinaus ihre 'Leere' schön deutlich wird.


    In Nāgārjunas (zumindest als solchem geltenden) Autokommentar Akutobhayā heisst es dazu verdeutlichend (Übers. Walleser):

    Zitat

    Da des nirvāna und des saṃsāra (Körperwanderung) Wirklichkeitsgrenze (bhūta-koṭi), Nichtentstehensgrenze (anutpāada-koṭi), Wirklichkeitsgrenzeerreichen (bhūtakoṭi-pratiṣṭhāna) in gleicher Weise nicht erfasst werden (anupalabdi-samatvena) existiert auch nicht der geringste Unterschied.

    (der Kommentar ist nur im Kanjur auf Tibetisch erhalten, die von Walleser angegegebenen Sanskritbegriffe sind von ihm rückerschlossen).


    MMK 25.20 setzt freilich nicht 25.19 außer Kraft, wo es bei Weber-Brosamer/Back heisst:

    Zitat

    25.19 Es gibt nichts, was den Saṃsāra vom Nirvāna unterscheidet, und das Nirvāna vom Saṃsāra unterscheidet.

    - in śloka 19 wird keine Grenze, sondern das Abgegrenzte in eins gesetzt. Wo sich dann (mir zumindest) die Frage stellt, woher dann die Grenze kommt. Aus avidyā natürlich - es gibt da den schönen nahöstlichen Mythos vom Schöpfer, der nicht nur das Licht anknipst, sondern es auch gleich vom Dunkel scheidet - also abgrenzt. Kein Wunder, dass die Gnostiker diesen Demiurgen verunglimpften, was ihnen wenig Wohlwollen einbrachte. Doch ich schweife ab ...


    Wir waren bei avidyā als grundlegende Bedingung der "Grenze". Und eben dies zeigt, was diese "Grenze" noch ist: pratītyasamutpāda, dessen 1. nidāna eben avidyā ist.


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    Tatsächlich werde ich hier dazu auch nichts mehr schreiben (letzter Post in diesem Thread).

    Ich bin hier auch raus. Auf eristische Spielchen (bereits zwei Mal angemahnt) und Qualifizierungen wie "Gleichheitsapostel" habe ich keinen Bock; das genügt nicht meinen Grundanforderungen an eine sachliche Diskussion. Sorry - ich kann mit meiner Zeit Nützlicheres anfangen.


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    mit wirklich oder real existieren meine ich: was wir wahrnehmen.

    Hmmm ... bekanntlich nehmen insbesondere Menschen häufig Dinge wahr, die nicht real existieren. Hier würde das Gleichnis von Schlange und Seil wieder mal recht gut passen. Die Herkunft dieses Beispiels ist eigentlich schnurz, es veranschaulicht jedenfalls sehr schön den Unterschied zwischen "wirklich oder real existieren" und dem, was so Alles wahrgenommen wird. Ich hatte nicht ohne Grund da etwas 'tiefer' angesetzt - Realität "ereignet" sich, wenn sparśa / phassa als Bedingung vedanā ermöglicht. Der ganze Rest ist nur 'Weiterverarbeitung' dieser primären Reize. Mindfuck.


    Ansonsten

    Damit wird aber ARYA DHARMA nicht einverstanden sein, mit seiner Nicht-Dualität von nibbana und samsara.

    Keine Ahnung, wo ich der widersprochen habe sollte. Kann sich nur um ein Missverständnis handeln; ein Zitat wäre da hilfreich. Zu dieser Nicht-Dualität ein weiteres Mal meinen Verweis auf MMK 25.19 ff - ist ja schon 'ne Weile her ...


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    Denn auch Leid oder Schmerz 'gibt es nicht'.

    Du setzt 'Sein' mit 'real' gleich (noch so ein eristischer Taschenspielertrick :)). Real ('wirklich' = Resultat und Ursache von Wirkung) ist die Empfindung als Teilprozess des Konditionalnexus pratītyasamutpāda, auch wenn ihr keine Dauer zukommt und sie 'leer' (śūnya) ist, sie also kein Für-Sich-Sein (svabhāva) hat. Ich bitte Dich - Nāgārjuna ist doch kein Nihilist, der Realität leugnet. Was ja auch ein recht albernes Unterfangen wäre; für wen sollte er das tun?


    Realität ist genau Hier und Jetzt, tathatā, permanent im Wandel durch Ursachen und Bedingungen (hetupratyaya) - und sie manifestiert sich primär in der Empfindung (vedanā) von Kontakt (phassa). Das ist ein Aspekt des Konditionalnexus, der insgesamt ein bedingtes(!), d.h. durch Kausalität bestimmtes dynamisches Sein beschreibt, das entsprechend leer von jeglichem nicht-bedingten Sein ist.

    Es ist gewiss nicht Nāgārjunas Anliegen, die Realität von duḥkha zu widerlegen, nur sein Für-Sich-Sein - was wiederum heisst, (auch) die āryasatya als saṃvṛtisatya zu qualifizieren. Wobei saṃvṛtisatya (bei Nāgārjuna zumindest) keine 'mindere' oder 'provisorische' oder halbe Wahrheit ist, sondern schlicht einen anderen Gültigkeitsbereich hat als paramārthasatya - den relativen im Gegensatz zum absoluten.


    Dass ein Verleugnen der Realität von duḥkha auch den gesamten Bodhisattvaweg, der genau dadurch motiviert ist, ad absurdum führen würde, sei hier nur ergänzend noch angemerkt. Mittlerer Weg ist es sowieso nicht.


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    Ich sehe es nicht so, dass ein einzelnes Lebewesen nur ein "typischer Oberbegriff" ist.

    Um genauer zu sein: 'Lebewesen' ist eine Klassifikation. Ein abgrenzendes Ergreifen einer Gruppe von Merkmalen (lakṣaṇah), denen ein Eigensein / Für-sich-sein (svabhāva) beigelegt wird. Das führt unweigerlich in Konsequenz zu einer ātman - Theorie, nach buddhistischer Lehre also zu einer kognitiven Fehlhaltung mit entsprechenden Konsequenzen für die Kognition.

    Ich z. B. bin kein Oberbegriff.

    Im Grunde schon, das verdeutlichen insbesondere die Abhidhamma-/Abhidharma-Schriften mit ihrer psychologischen (nicht ontologischen) Herangehensweise. Was sich bei dieser Analyse zeigt, sind dynamische psycho-physische Prozesse (die bereits genannten dharmas), die man aufgrund gemeinsamer Merkmale zu Gruppen bündelt (skandah), die wiederum die Tendenz haben, die oben erwähnte Fehlhaltung einzunehmen, deren Kern / Kristallisationspunkt die ātman - Sichtweise ist. Eben das 'Ich' und seine Perspektive auf 'Nicht-Ich'. Dieses 'Ich' ist ebenso wenig real wie die nächst höhere Klassifikationsstufe: 'Lebewesen'. Real sind lediglich die Folgen der kognitiven Fehlhaltung, also die aus diesem avidyā entstehende, durch rāga und dveṣa vorangetriebene Dynamik (anitya), die notwendig als leidhaft empfunden wird. Real ist der Schmerz, ist duḥkha - nicht das 'Ich', das meint, ihn zu fühlen.

    Zitat

    Wie einen Stern, eine Luftspiegelung, eine Butterlampe,

    wie Illusion, Tautropfen, Luftblasen im Wasser,

    wie einen Traum, einen Blitz, eine Wolke -

    so sieh alles an, was zusammengesetzt ist.


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    Konkretes gibt es. Also auch konkrete Lebewesen?

    Was soll denn der Taschenspielertrick mit dem "also auch"? Als wäre das eine notwendige logische Folge. Ist es aber nicht. Und nein, gibt es nicht. "Lebewesen" ist typischer Oberbegriff, der eben nichts Konkretes bezeichnet, das wäre ein Widerspruch in sich. Die Problematik des ontischen Status solcher Begriffe ist ja auch in der europäischen Geistesgeschichte bekannt, wo sie zum Universalienstreit führte.


    Ich denke, man kann da bedenkenlos dem Buddhadharma allgemein (nicht nur dem Madhyamaka speziell) eine radikal nominalistische Deutung unterstellen. Scheinbar konkret sind dharmas - und es war das Anliegen diverser Abhidharmas (und auch der Yogācāra-Schule), diese dharmas, deren Anzahl als begrenzt vorgestellt wurde (unterschiedlich nach Schule, maximal 100), zu katalogisieren und hinsichtlich ihrer Natur (u.a. ob es sich um saṃskṛtadharma oder asaṃskṛtadharma handelt) zu untersuchen. Wobei das saṃskṛta nicht nur als 'bedingt' zu lesen ist, sondern ganz wörtlich auch als 'zusammengesetzt', was das bedingte Sein eines dharma impliziert.


    Aktuell (d.h. nach Untergang diverser Śrāvakayāna-Schulen) gibt es nun hinsichtlich der Frage, ob asaṃskṛtadharma existieren, nur noch drei Antworten: 'nein' (so die Nāgārjuna folgenden Mahāyānin), 'sechs' (so die Yogācārin - davon sind allerdings vier lediglich verschiedene Formen von nirodha) oder 'ja, aber nur eines (nibbana)' nach Abhidhamma-Tradition. Was nun 'Konkretheit' angeht, so sind nicht die dharmas konkret. 'Konkretheit' ist lediglich ein Wechselbegriff zu 'Soheit', tathatā - was dann auch bei den Yogācārin als asaṃskṛtadharma gilt (vervollständigt wird diese Kategorie durch ākāśa, den Raum). Mehr ist da nicht.


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    Als kleine Ergänzung möchte ich hier doch noch einen Hinweis anfügen. Leider fand mE der wichtige Hinweis auf MMK 5 nicht ganz die ihm gebührende Beachtung. Wenn man einmal, statt sich auf śloka 8 zu beschränken, das gesamte Kapitel (d.h. die vorausgehende Argumentation) betrachtet, so ist dieses ein Musterbeispiel für Nāgārjunas dialektisch-dekonstruktive Ontologie. Der hier behandelte 'Raum' steht lediglich stellvertretend für die Dekonstruktion der dharmas (im Sinne 'Seinselemente') schlechthin, nimmt der Raum doch in der abhidharmischen dharma-Theorie eine besondere Stellung ein. In manchen Śrāvakayāna-Schulen (auf die speziell dieses Kapitel gemünzt gewesen sein dürfte) wurde ihm sogar der Rang eines asaṃskṛtadharma zuerkannt, also eines nicht-zusammengesetzt/-bedingten Seinselements. Ein anderes, weniger umstrittenes asaṃskṛtadharma behandelt Nāgārjuna bekanntlich im 25. Kapitel. Dazu diesbezüglich die Empfehlung, zum Verständnis von


    Wenn du dich auf MMK 5.8 beziehst, kommt es drauf an wie man "das beglückende Zur-Ruhe-Kommen des Sichtbaren" und das letztliche Verlöschen interpretiert.

    - mal 25.24 beizuziehen.


    Dass aber - und das rechtfertigt seine besondere Stellung - eine dialektisch-dekonstruktive Ontologie eben keine negative Ontologie ist, schlechthin (durch die Methode bedingt) nicht sein kann, verdeutlicht śloka 5.8. Für die, die nicht am hinterm Busch hervorlugenden Horn gleich den ganzen Ochsen erkannt haben (wobei man es mit dieser Qualifikation als Eintrittsbedingung ja nie so wirklich ernst genommen hat ...;)). Aber "nicht negativ" ist (zumindest bei Nāgārjuna) nicht dasselbe wie "positiv". Der synthetische Schritt führt allemal in die Leere (von unbedingtem Sein), Śūnyatā - die wiederum identisch ist mit bedingtem Sein (pratītyasamutpāda). Aber das ist jetzt wieder eine andere Baustelle ...


    Vor allem - um an eine kürzliche Bemerkung von mir über Nāgārjuna zu erinnern - ist das eine Einsicht, die sich nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch verifizieren lässt ...


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