Es wird in diesem Forum zu Recht immer wieder angemerkt, dass der Begriff der Leerheit ungenügend erklärt wird. Nie wird die Kernaussage dieses Konzeptes herausgearbeitet. Stattdessen wird dieser wichtige Begriff wortreich umkreist. Mit der Folge, dass er nicht angreifbar ist. Denn jedesmal, wenn man versucht ihn zu packen, behält man nur Worthülsen zurück.
Das ist nicht seriös. Das ist nicht Buddhismus. Das ist Esoterik.
Hier nun der Versuch, diesen Begriff zu konkretisieren und ihn angreifbar zu machen. Ich hoffe, dass viele versuchen werden meine Darlegung als Punchingball zu benutzen. Denn zumindestens weiß man dann endlich, was genau man konkret ablehnt oder welchem Teil man zustimmt.
Viel Spaß dabei!
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ERSTENS:
Wenn man den Begriff der Leerheit klären will, dann bietet sich eine ganz einfache Beobachtung an. Und an der ist nichts esoterisches.
Wenn ich beispielsweise einen Stuhl betrachte, dann frage ich mich, was denn genau der Stuhl ist, den ich gerade sehe. Ist der Stuhl die Stuhllehne? Ist der Stuhl die Stuhlbeine? Die Sitzfläche vielleicht? Ich denke, jeder würde diese Fragen verneinen.
Natürlich ist der Stuhl die Gesamtheit seiner Einzelteile.
Oder doch nicht?
Wenn ich die Einzelteile des Stuhles - also die Lehne, die Sitzfläche, etc... - nebeneinander lege, oder vielleicht aufeinander schichte, ist das dann mein Stuhl? Ich denke jeder würde diese Frage verneinen.
Erst wenn die Einzelteile in einer bestimmten Beziehung zu einander stehen, erst dann habe ich wieder meinen Stuhl.
Aber mit dieser Erkenntnis kann ich noch immer nicht sagen, was genau der Stuhl ist, den ich dort erblicke.
Das einzige was ich eindeutig über den Stuhl sagen kann, ist:
Der Stuhl ist mehr als die Summe der Einzelteile, aus denen er besteht!
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ZWEITENS:
In der akademischen Welt der Psychologie, Soziologie, Biologie, Physik, etc.. wird das oben beschriebene Phänomen der Übersummität (Etwas ist mehr als die Summe seiner Einzelteile) als Emergenz bezeichnet.
„Emergenz ist die (spontane) Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht – oder jedenfalls nicht offensichtlich – auf Eigenschaften der Elemente zurückführen, die diese isoliert aufweisen. So wird in der Philosophie des Geistes von einigen Philosophen vertreten, dass Bewusstsein eine emergente Eigenschaft des Gehirns sei. Emergente Phänomene werden jedoch auch in der Physik, Chemie, Biologie, Psychologie oder Soziologie beschrieben. Synonyme sind Übersummativität und Fulguration.“ wikipedia, Klammern und Hervorhebungen von mir gesetzt, http://bit.ly/9q0Uoq
In unserem Fall:
Der Stuhl bildet hier das System, das aus Einzelteilen besteht.
Die Eigenschaften sind hier die Eigenschaften eines Stuhles, die man einem Stuhl zuschreibt und die er nicht hätte, wenn er kein Stuhl wäre.
Lasst Euch in der Definition der Emergenz nicht von dem Wort „spontan“ ablenken. Mit diesem Wort wird lediglich sichergestellt, dass Emergenz sich auf (vermeintlich) nicht-triviale Phänomene bezieht, Phänomene also, die unerwartet auftreten. Dies ändert aber nichts an der Kernaussage der Emergenz, die für uns interessant ist und die durch oben stehende Definition verdeutlicht wird.
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DRITTENS:
Für eine weitergehende Betrachtung ist die Kritik von Konrad Lorenz interessant, die er an dem Begriff Emergenz übt:
"Konrad Lorenz hat den Begriff Emergenz kritisiert, da seine deutsche Bedeutung (Auftauchen) suggeriere, etwas bereits Existentes, lediglich bislang Verborgenes, komme zum Vorschein. Er hat stattdessen den Begriff Fulguration vorgeschlagen."
Wikipedia, http://bit.ly/obJfJv
Diese Kritik ist durchaus nachvollziehbar.
Denn bevor ich die Einzelteile des Stuhles nicht zusammensetze, existiert der Stuhl nicht.
Was aber existiert, ist das Potenzial eines Stuhles.
Denn potenziell kann man aus den Einzelteilen eines Stuhles einen Stuhl zusammensetzen.
Dieses Potenzial aber kann nur existieren, wenn prinzipiell die Möglichkeit besteht, dass es sich realisieren kann.
Es besteht also eine Wechselbeziehung zwischen dem Potenzial der Emergenz (Möglichkeit der Herausbildung des Stuhls) und der Realiserung dieser Emergenz (Realisierung der Herausbildung des Stuhles). Diese Beziehung kann wie folgt beschrieben werden:
Realisierung braucht (ist) Potenzial, und Potenzial braucht (ist) Realisierung.
Begreift man die Realisierung der Emergenz als den buddhistischen Begriff Form
und
begreift man das Potenzial der Realisierung dieser Emergenz als den buddhistischen Begriff Leerheit,
dann erhält man durch Einsetzen in obige Beschreibung der Wechselbeziehung folgende Aussage:
Form ist Leerheit und Leerheit ist Form.
Und dies ist nichts anderes als das Herz-Sutra!
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VIERTENS:
Leerheit wäre demnach das Potenzial zur Herausbildung einer konkreten Übersummität, wie der Stuhl. Ein Stuhl also, der nicht an seinen Einzelteilen festgemacht werden kann.
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Anmerkungen:
Kenner der Zen-Literatur haben sicherlich bemerkt, dass ich die gedankliche Zerlegung des Stuhles von einer Zen-Anekdote abgekupfert habe. In dieser Anekdote möchte ein Kaiser von einem Zen-Mönch den Begriff der Leerheit erklärt bekommen. Der Zen-Möch antwortet darauf: "Zeige mir die Kutsche, mit der du gekommen bist." Woraufhin der Kaiser unfähig ist, dem Mönch die Kutsche zu zeigen, obwohl sie direkt vor ihnen steht.
Vielleicht kann einer von Euch den Link zu dieser Anekdote posten.