Der König sprach: «Mag wohl, ehrwürdiger Nāgasena, einer, der nicht mehr wiedergeboren wird (das ist ein Vollkommen-Heiliger), noch irgend ein Schmerzgefühl empfinden?»
«Eine Art des Schmerzgefühls mag er wohl noch empfinden, eine andere aber nicht.»
«Welche aber sind dies?»
«Körperliches Schmerzgefühl, o König, mag er wohl noch empfinden, geistiges Schmerzgefühl aber nicht mehr.»
«Wieso aber, o Herr?»
«Da der Grund und die Bedingung zur Entstehung des körperlichen Schmerzgefühles noch nicht aufgehoben sind (denn die Entstehung körperlicher Schmerzen ist abhängig vom Körper, nicht vom Willen), darum mag er noch körperliches Schmerzgefühl empfinden. Da aber der Grund und die Bedingung zur Entstehung des geistigen Schmerzgefühles aufgehoben sind, darum mag er geistiges Schmerzgefühl nicht mehr empfinden.
[Die Entstehung geistiger Schmerzen ist bedingt durch die Willensverfassung des Einzelnen. Geistiges Schmerzgefühl (Kummer, Gram, Trübsal, Melancholie und Verzweiflung) ist stets mit einem Triebe des sich Widersetzens, Widerstrebens, Grollens oder Hassens (dosa, patigha vyāpāda) verbunden und wird daher im Buddhismus als unheilsam betrachtet. Wie kann man da den Buddhismus eine pessimistische Lehre nennen, wo bereits jede geistig trübe Stimmung schon als unheilsam verworfen wird und eine der Hauptmeditationen diejenige der universalen Freude (muditā-bhāvanā) ist?]
Auch der Erhabene, o König, sagt:
<Nur eine Art des Schmerzes mag er (der von Wiedergeburt befreite Heilige) noch empfinden, und zwar den körperlichen Schmerz. Geistigen Schmerz aber empfindet er nicht mehr>.» (S.36.9)
«Wenn er noch Schmerzen empfindet, warum erlöst er sich dann nicht völlig?» (parinibbāyati; d.h. warum zieht er dann nicht den Tod vor, denn durch den Eintritt des Todes tritt bei dem von Wiedergeburt befreiten Vollkommen-Heiligen die Erlösung vom Dasein (khandha-parinibbāna) ein.)
«Der Vollkommen-Heilige, o König, kennt weder Neigung noch Widerwillen. Die Vollkommen-Heiligen pflücken nicht die unreife Frucht. Weise warten sie ab die Zeit der Reife (*1). Sagt doch, o König, auch der Ordensältere Sāriputta, der Fürst der Wahrheitslehre:
Nicht wünsch' ich mir den Tod herbei,
Nicht hänge ich ans Leben mich:
Ich warte eben ab die Zeit,
Gleich wie der Söldner seinen Lohn.
Nicht wünsch' ich mir den Tod herbei,
Nicht hänge ich ans Leben mich:
Ich warte eben ab die Zeit,
Besonnen und im Geiste klar.» (*2)
«Klug bist du, ehrwürdiger Nāgasena!»
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