Im Zen unterscheidet man durchaus auch zwischen plötzlichem und allmählichem Erwachen. Das ist am besten in den beiden berühmten gatha (Versen) ausgedrückt, von denen Eno, der 6. Patriarch in seiner Biographie berichtet.
Der 5. Patriarch suchte einen Nachfolger und bat seine Mönche um Verse, die ihr Verständnis zeigen sollten. Der Mönchsälteste Shenxiu schrieb daraufhin an eine Wand des Klosters:
Der Leib ist der Bodhi-Baum
Der Geist ist wie ein klarer stehender Spiegel
Poliere ihn allzeit mit Eifer
Lass keinen Staub daran haften.
Das ist die Sicht des „Bewachen der Sinnestore“, z.B. da Staub eine Metapher für die Kleshas ist.
Daraufhin lies Eno sein gatha hin schreiben:
Im Grund gibt es keinen Bodhi-Baum
Da ist kein klarer Spiegel auf einem Gestell
Im Ursprung ist da kein Ding
Worauf soll sich Staub legen.
Ich hatte nicht ohne Grund das MN 1 hier erwähnt, denn darin wird auch diese unterschiedliche Sichtweise thematisiert. Shenxiu kann als die Sicht des Mönchs gesehen werden, der stets bemüht ist, sich der kleshas zu entledigen, d.h. den Spiegel sauber zu halten.
Enos Sicht zeigt hingegen die des Thatagatha – des Ursprungs aller Sichtweisen, in dem es keine Sicht, keine Ansicht und damit auch kein Ding gibt. Auch kein Staub.
Das Mulapariyaya Sutta unterscheidet vier Arten von Menschen, anhand deren wird nun die unterschiedliche Sicht gezeigt und ich nehme da mal den letzten Punkt – Nibbana.
Der Weltling, der höher geschulte Bikkhu, der Arhat (I, II, III, IV) und der Tathagatha I und II. Ich nehme mal den letzten Punkt dann von den Aufzählungen, um die feinen Unterschiede sichtbar zu machen.
Weltling
26."Er nimmt Nibbāna als Nibbāna wahr. Nachdem er Nibbāna als Nibbāna wahrgenommen hat, stellt er sich Nibbāna vor, er macht sich Vorstellungen in Nibbāna, er macht sich Vorstellungen von Nibbāna ausgehend, er stellt sich vor 'Nibbāna ist mein', er ergötzt sich an Nibbāna. Warum ist das so? Weil er es nicht vollständig durchschaut hat, sage ich."
Bikkhu
50. "Er erkennt Nibbāna unmittelbar als Nibbāna. Nachdem er Nibbāna unmittelbar als Nibbāna erkannt hat, sollte er sich nicht Nibbāna vorstellen, er sollte sich nicht Vorstellungen in Nibbāna machen, er sollte sich nicht Vorstellungen von Nibbāna ausgehend machen, er sollte sich nicht vorstellen 'Nibbāna ist mein', er sollte sich nicht an Nibbāna ergötzen. Warum ist das so? Damit er es vollständig durchschauen möge, sage ich."
Arhat I
74. "Er erkennt Nibbāna unmittelbar als Nibbāna. Nachdem er Nibbāna unmittelbar als Nibbāna erkannt hat, stellt er sich nicht Nibbāna vor, er macht sich nicht Vorstellungen in Nibbāna, er macht sich nicht Vorstellungen von Nibbāna ausgehend, er stellt sich nicht vor 'Nibbāna ist mein', er ergötzt sich nicht an Nibbāna. Warum ist das so? Weil er es vollständig durchschaut hat, sage ich."
Arhat II
98. "Er erkennt Nibbāna unmittelbar als Nibbāna. Nachdem er Nibbāna unmittelbar als Nibbāna erkannt hat, stellt er sich nicht Nibbāna vor, er macht sich nicht Vorstellungen in Nibbāna, er macht sich nicht Vorstellungen von Nibbāna ausgehend, er stellt sich nicht vor 'Nibbāna ist mein', er ergötzt sich nicht an Nibbāna. Warum ist das so? Weil er frei von Begierde ist, durch die Vernichtung der Begierde."
Arhat III
122. "Er erkennt Nibbāna unmittelbar als Nibbāna. Nachdem er Nibbāna unmittelbar als Nibbāna erkannt hat, stellt er sich nicht Nibbāna vor, er macht sich nicht Vorstellungen in Nibbāna, er macht sich nicht Vorstellungen von Nibbāna ausgehend, er stellt sich nicht vor 'Nibbāna ist mein', er ergötzt sich nicht an Nibbāna. Warum ist das so? Weil er frei von Haß ist, durch die Vernichtung des Hasses."
Arhat IV
146. "Er erkennt Nibbāna unmittelbar als Nibbāna. Nachdem er Nibbāna unmittelbar als Nibbāna erkannt hat, stellt er sich nicht Nibbāna vor, er macht sich nicht Vorstellungen in Nibbāna, er macht sich nicht Vorstellungen von Nibbāna ausgehend, er stellt sich nicht vor 'Nibbāna ist mein', er ergötzt sich nicht an Nibbāna. Warum ist das so? Weil er frei von Verblendung ist, durch die Vernichtung der Verblendung."
Tatagatha I
170. "Er erkennt Nibbāna unmittelbar als Nibbāna. Nachdem er Nibbāna unmittelbar als Nibbāna erkannt hat, stellt er sich nicht Nibbāna vor, er macht sich nicht Vorstellungen in Nibbāna, er macht sich nicht Vorstellungen von Nibbāna ausgehend, er stellt sich nicht vor 'Nibbāna ist mein', er ergötzt sich nicht an Nibbāna. Warum ist das so? Weil der Tathāgata es vollständig bis zum Ende durchschaut hat, sage ich."
Tathagatha II
194. "Er erkennt Nibbāna unmittelbar als Nibbāna. Nachdem er Nibbāna unmittelbar als Nibbāna erkannt hat, stellt er sich nicht Nibbāna vor, er macht sich nicht Vorstellungen in Nibbāna, er macht sich nicht Vorstellungen von Nibbāna ausgehend, er stellt sich nicht vor 'Nibbāna ist mein', er ergötzt sich nicht an Nibbāna. Warum ist das so? Weil er verstanden hat, daß Ergötzen die Wurzel von Dukkha ist, und daß es mit Werden (als Bedingung) Geburt, und für alles, was geworden ist, Alter und Tod gibt. Daher, ihr Bhikkhus, ist der Tathāgata durch die völlige Vernichtung, die Lossagung, das Aufhören, das Aufgeben und Loslassen der Begehren zur höchsten vollkommenen Erleuchtung erwacht, sage ich."
http://palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m001z.html
Wenn man nun für „Nibbana“ den Begriff „Fähigkeiten“ einsetzt, sowie in den Abschnitten der Lehrrede zuvor, anstatt Nibbana, Begriffe, wie „Empfindung“, „Erdelement“ usw. verwendet sind, dann versteht man, dass „Fähigkeiten“, wie auch „Training“ nichts substantielles sind, sondern eben Konzepte, die man als solche unmittelbar erkennen soll und sich nicht Vorstellungen machen soll, sich nicht darin ergehen soll und sie sich auch nicht als „mein“ vorstellen soll. Dann kann man diese ganze Debatte über graduelles Training als das ansehen, was es ist – substanzlos bzw. leer.