Beiträge von Helmut im Thema „Nagarjuna Ratnavali“

    In Vers 73ab der Ratnavali heißt es:


    "Denn in Wirklichkeit verschwindet die Welt nicht durch das Nirvana" (Übersetzung Hopkins/Liebl)


    Wenn wir Nirvana erreicht haben, also die dritte edle Wahrheit verwirklicht haben, hört die Welt nicht auf zu existieren; die Lebewesen und die Phänomene, die die Welt ausmachen, hören nicht auf zu existieren.


    Was hat sich aber verändert, wenn wir Nirvana verwirklicht haben? Wir haben, wie es in Vers 42 heißt, dann den Irrglauben an Dinge und Nicht-Dinge gleichermaßen ausgelöscht.


    Im Madhyamaka wird mit dem Begriff Ding aus sich heraus existierende Phänomene bezeichnet. Das kommt in der Übersetzung am Ende von Beitrag #163 deutlicher zum Ausdruck. Dabei sind inhärente Existenz und Existenz aus sich selbst heraus sind Synonyme.


    Vers 73ab kann man also so verstehen: Durch das Verwirklichen von Nirvana geht die Welt nicht zu Ende und auch die Lebewesen und die Phänomene, die Teile dieser Welt sind, ebenso wenig. Durch die Verwirklichung des Nirvana geht eine Sichtweise und das Festhalten an ihr definitiv zu Ende.

    Im 42.Vers der Ratnavali gibt Nagarjuna eine Definition des Nirvana:


    Wenn Nirvana keine Nicht-Dinghaftigkeit aufweist, wie könnte es dann dinghaft sein? Nur die Auslöschung des Irrglaubens an Dinge und Nicht-Dinge gleichermaßen wird als Nirvana bezeichnet." (J.Hopkins, Nagarjunas Juwelenkette, übersetzt von E.Liebl, Kreuzlingen/München 2006, S.168)


    Dinghaftigkeit und dinghaft sowie Dinge und Nicht-Dinge haben in diesem Kontext die Bedeutung von inhärenter Existenz. Der erste Satz sagt also aus, dass das Nirvana weder inhärent nicht-existent noch dass es inhärent existent ist. Wie alle Phänomene besitzt das Nirvana keine inhärente Existenz, weil es abhängig existiert.


    Der zweite Satz besagt, dass Nirvana in dem Auslöschen des Irrglaubens an inhärente Existenz besteht. Nirvana ist also abhängig vom Verlöschen dieses Irrglaubens.


    In einer Übersetzung dieses Verses direkt aus dem Tibetischen ins Deutsche lautet er:


    Wenn Nirvana kein inhärentes Nicht-Ding ist,

    wie kann es ein inhärentes Ding sein?

    Nirvana ist das Ende des Festhaltens

    an inhärenten Dingen und Nicht-Dingen.

    Das ist der 64.Vers von Nagarjunas Ratnavali.


    Da sich die Bedeutung dieses Verses nicht aus dem Vers selbst ergibt, muss auch dieser Vers der Ratnavali interpretiert werden. Deshalb ist der Kontext wichtig in dem dieser Vers des 1.Kapitels steht. Es wäre gut, wenn Leonie dazu noch etwas sagen würde.

    Wenn sowohl das Gestaltete als auch das Ungestaltete durch Merkmale charakterisiert ist, dann ist es auch etwas Existierendes, also ein Phänomen.

    Da sind Merkmale genannt, aber die Merkmale des Ungestalteten verweisen nicht auf Phänomene, da sie sich nicht zeigen und also auch nicht wahrgenommen werden können.

    Von Merkmalen kann man nur in Bezug auf Phänomene sprechen. In Bezug auf das Ungestaltete kann man von Merkmalen nur sprechen, weil es dieses Ungestaltete gibt. Ein Beispiel ist Nibbana. In A.III.47-48 spricht Buddha Sakyamuni darüber, welche Merkmale das Ungestaltete im Gegensatz zum Gestalteten nicht besitzt. Und Merkmale, die das Ungestaltende nicht besitzt, kann man natürlich nicht wahrnehmen.


    Nur weil ein Phänomen wie das Nibbana nicht kausal entstanden und deshalb nicht vergeht und nicht der Veränderung unterliegt, bedeutet ja nicht, dass es Nibbana nicht gibt. Weil es Nibbana gibt ist es etwas Existierendes und es wird meist durch Verneinungen von Merkmalen beschrieben.


    Wenn sowohl das Gestaltete als auch das Ungestaltete durch Merkmale charakterisiert ist, dann ist es auch etwas Existierendes, also ein Phänomen.

    Nibbana hat keine Merkmale und ist also auch kein Phänomen. Daher hat Buddha hierzu nichts gesagt.

    Das trifft ja nicht zu. Bereits in seiner ersten Lehrrede hat Buddha Sakyamuni Nibbana als die völlige Abwesenheit aller Leiden samt ihrer Ursachen charakterisiert. In A.III.47-48 nimmt er indirekt Bezug auf Nibbana und in SN 38. 1 heißt es zu diesem Thema: "Was da, Bruder, das Versiegen von Gier, das Versiegen von Hass, das Versiegen von Verblendung ist, das nennt man Nirvana"


    Nibbana / Nirvana wird also durch Negation beschrieben indem aufgezeigt wird wodurch Nibbana nicht charakterisiert ist. Trotzdem existiert das Nibbana, weil durch die Praxis des achtfachen Pfades alle Hindernisse für Nibbana beseitigt wurden, aber nicht das Nibbana.

    Auf palikanon.de lautet die Übersetzung von A.III.47-48 Das Gestaltete und das Ungestaltete:


    "Drei Merkmale des Gestalteten gibt es, ihr Mönche. Welche drei?

    • Ein Entstehen zeigt sich;
    • ein Vergehen zeigt sich; und
    • eine Veränderung des Bestehenden zeigt sich.

    Diese drei Merkmale des Gestalteten gibt es, ihr Mönche.


    Drei Merkmale des Ungestalteten gibt es, ihr Mönche. Welche drei?

    • Kein Entstehen zeigt sich;
    • kein Vergehen zeigt sich; und
    • keine Veränderung des Bestehenden zeigt sich.

    Diese drei Merkmale des Ungestalteten gibt es, ihr Mönche."


    Wenn sowohl das Gestaltete als auch das Ungestaltete durch Merkmale charakterisiert ist, dann ist es auch etwas Existierendes, also ein Phänomen. Buddha Sakyamuni spricht ja in beiden Fällen von etwas Bestehenden (drittes Merkmal). Gestaltetes und Ungestaltetes sind eine vollständige Einteilung aller Phänomene. Es gibt kein Phänomen, das nicht in eine der beiden Kategorien gehört. Das bedeutet aber auch nicht, dass beide Kategorien gleich umfänglich sein müssen.


    In der Lehrrede selbst bezieht Buddha Sakyamuni Ungestaltetes nicht auf Nibbana. Er nennt keine konkreten Phänomene dieser Kategorie. Dass Ungestaltetes lediglich Nibbana ist, findet sich nur in der Fußnote des Übersetzers zu A.III.47-48. Diese Zuordnung finden wir aber auch in Buddhistisches Wörterbuch von Nyanatiloka. Diese Zuordnung ist ja auch nicht verkehrt.


    Ausgehend von den drei Merkmalen des Ungestalteten kann / muss man sich aber die Frage stellen: Erfüllt nur Nibbana diese drei Merkmale und sonst kein anderes Phänomen?

    Die dritte Wahrheit sagt einfach aus: wo immer du ein Leiden bei dir erkennst, lass es los, geb deine Angst auf.

    Die dritte edle Wahrheit wie sie Buddha Sakyamuni in seiner ersten Lehrrede (SN 56.11) dargelegt hat, bedeutet mehr. Es geht nicht nur darum, die Leiden loszulassen, sondern darum, die Leidensursachen vollständig aufzugeben, so dass im eigenen Geisteskontinuum keine Leiderfahrung mehr entstehen kann. Leiden loszulassen ist nicht gleichbedeutend mit der vollständigen Überwindung aller Leidensursachen. Die Überwindung aller Leidensursachen ist tiefgründiger als das Loslassen von Leiden und Angst. Das Loslassen überwindet ja nicht die Ursachen des Leidens.

    Alles ist vergänglich, usw.

    Diesen Spruch hört man aus diversen buddhistischen Richtungen immer wieder. Aber er ist falsch, weil die dritte edle Wahrheit nicht vergänglich ist. Deshalb ist nicht alles vergänglich.

    Ein beständiges Phänomen ist ein Phänomen, das sich nicht von Moment zu Moment verändert, weil es nicht durch Ursachen kausal entstanden ist.


    Das trifft auf Igor07 s Beispiel zu. Andere Beispiele wären die dritte edle Wahrheit oder der abstrakte Raum. Die Verschiedenheit der Vase von allen anderen Phänomenen wäre auch ein beständiges Phänomen, allerdings recht abstrakter Art.

    keine neue Wahrheit in Europa jedenfalls. So lehrt man es ja sogar in den Schulen.


    Das war zu anderen Zeiten anders. Ich frage mich, warum das heute noch erklärungsrelevant erscheint. Helmut , warum erklärst du, dass die Phänomene bedingt durch andere entstehen (und auch vergehen)? Kennst du jemanden, der das nicht weiß?

    Es kommt drauf an, was man unter abhängigem Entstehen / Bestehen versteht. Setzt man dieses mit Kausalität gleich, also dem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, dann bräuchte man nicht weiter darüber reden, denn jeder der im Schulunterricht aufgepasst, kennt diesen Zusammenhang, zumindest in Bezug auf die materielle Welt. Aber abhängiges Entstehen ist nicht gleichbedeutend mit Kausalität, sondern umfassender.


    Das abhängige Entstehe hat drei Aspekte (manchmal werden auch vier genannt). Ich beschränke mich auf die Darstellung mit drei Aspekten.

    1. Ein Produkt (1) ist abhängig von vielen Ursachen und Bedingungen
    2. Ein Produkt ist abhängig von seinen vielfältigen Teilen
    3. Ein Produkt ist abhängig von unserer Benennung.

    Jedes Produkt ist durch alle diese drei Aspekte gekennzeichnet. Man kann sie alle gleichzeitig an jedem Produkt feststellen. Nur wenn diese drei Aspekte gegeben sind, existiert ein Produkt.


    Beim ersten Punkt sind wohl noch alle mit dabei; beim zweiten Punkt werden es schon weniger und beim dritten Punkt nochmals weniger. Und beim Punkt, dass jedes Produkt diese drei Aspekte gleichzeitig aufweist, bleiben nur noch wenige übrig. Und wenn es um die Konsequenz geht, die sich daraus ergibt, bleibt nur noch eine sehr kleine Gruppe übrig.


    Die Konsequenz ist nämlich: Alle Produkte existieren nur durch das Zusammentreffen verschiedenen Umstände und Bedingungen, die das Produkt nicht selber sind. Das bedeutet, die Produkte haben keinen Wesenskern, der das Produkt zu dem macht was es ist.


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    (!) Ich schreibe hier von Produkten und nicht von Phänomenen, weil es beständige Phänomene gibt auf die der erste Aspekt des abhängigen Entstehens nicht zutrifft.

    Nagarjuna trifft die von dir behauptete Unterscheidung nicht und muss sie auch nicht treffen.


    Seine Fragestellung ist in Mulamadhayamakakarikas nicht, gibt es Phänomene, die ein Eigenwesen besitzen und gibt es Phänomene, die kein Eigenwesen besitzen. Seine Fragestellung ist, kann es überhaupt ein Phänomen geben, das Eigenwesen, inhärente Existenz besitzt. Er sagt, kein abhängiges Phänomen hat eine Eigenexistenz und weil alle Phänomene in Abhängigkeit existieren, gibt es kein inhärent existierendes Phänomen.


    Die von dir behauptete Unterscheidung, die Nagarjuna deiner Meinung nach treffen muss, trifft er nicht. Er muss es auch nicht, weil es keine Begründung dafür gibt.

    In Ratnavali geht es in erster Linie nicht um inhärente Existenz wie in Mulamadhyamakakarikas. Deshalb möchte ich die Debatte über inhärente Existenz und abhängiges Entstehen nicht in diesem Thread weiter debattieren und bitte die Moderation die Beiträge ab Beitrag#88 hier abzutrennen und in einen neuen Thread zu verschieben.

    Das abhängige oder bedingte Entstehen / Bestehen ist das Königsargument gegen Eigenwesen / inhärente Existenz.


    Ein Phänomen, egal ob es körperlich oder geistig ist,

    besitzt keine inhärente Existenz,

    weil es nur in Abhängigkeit von vielen Ursachen und Umständen besteht.


    Ein schwieriger Mensch

    ist nicht aus sich selbst heraus, also inhärent, schwierig,

    weil es von vielen Umständen abhängt, dass er schwierig ist.


    Die Menschen besitzen

    keinen ewigen Kern, kein atta,

    weil sie sich in Abhängigkeit von vielen Umständen und Bedingungen in ihrem Leben verändern.

    Mal was dazwischen werfen: Eine Eigennatur haben nur und ausschließlich Objekte, die ist nicht gleichzusetzen mit aus sich selber erschaffen oder sich erhalten können.

    Jedes Objekt, Körper ist Eigennatur.


    [...] und damit ist alles Geistige einschließlich Ich, Mein Selbst ohne Eigennatur, da hilft auch kein noch so starker Glaube.


    Ich schreibe das, was mir Nagarjuna lehrt.

    Diese Unterscheidung trifft Nagarjuna in den Mulamadhyamakakarikas nicht. Seine Position ist ja vielmehr, dass alle Phänomene - egal ob Person oder Nicht-Person - kein Eigenwesen, also keine inhärente Existenzweise haben. Seine Position ist also, dass alle materiellen und immateriellen Phänomene leer oder frei von inhärenter Existenz sind. In den Mulamadhyamakakarikas legt er ja sehr ausführlich in 27 Kapiteln dar, warum die Phänomene, also alles Existierende, keine inhärente Existenz haben können.


    Er setzt sich in den Mulamadhyamakakarikas sowohl mit Nicht-Buddhisten als auch mit Buddhisten auseinander, die inhärente Existenz der Phänomene postulieren und fragt: Angenommen, es gibt inhärente Existenz, wodurch ist sie gekennzeichnet? Logisch gäbe es nur vier Arten inhärenter Existenz, wenn es sie denn gäbe, nämlich als:

    1. Existenz aus sich selber
    2. Existenz aus inhärent anderem
    3. Existenz aus sich selbst und inhärent anderem
    4. Existenz ohne Ursache.

    Nagarjuna weist in den 27 Kapiteln nach, dass es diese vier Arten von inhärenter Existenz nicht gibt. Da alle vier Möglichkeiten inhärenter Existenz negiert wurden, folgt daraus, dass es keine inhärente Existenz der Phänomene gibt. Im Vers I.1 fasst er dies kurz zusammen. Aus der Negation der inhärenten Existenz der Phänomene folgt allerdings nicht, dass sie dann nicht existieren würden, wie seine Kritiker annahmen.


    In der Ratnavali ist dies ist aber nur am Rande ein Thema. Das was er in den Mulamadhyamakakarikas bezüglich der inhärenten Existenz erläutert hat, setzt er in dieser Schrift nach meiner Meinung als bekannt voraus.

    Es geht um die Verneinung inhärenter Existenz, also um die Verneinung der Existenz aus sich selbst heraus, um die Verneinung des Eigenwesens der Phänomene. Eine inhärente Existenz ist deshalb auch immer eine unabhängige Existenz.

    abhängige Existenz wäre dann die notwendige Voraussetzung für "Karma" und das ganze Übel...

    Wandel und Veränderung ist nur möglich, weil alle Phänomene abhängig bestehen. Gäbe es kein abhängiges Entstehen, dann gäbe es uns auch als Menschen nicht und auch nicht die Welt in der wir leben. Wir würden nicht geboren werden und könnten dann auch kein Leid und kein Glück erleben. Das steht aber im direkten Gegensatz zu unserer Erfahrung, unserem Erleben in unserer jetzigen Existenz.


    Weil wir als Menschen abhängig entstanden sind, können wir handeln. Unser Handeln (karma) ist selbst ein abhängiges Phänomen und hinterlässt Wirkungen; nicht nur im Außen sondern auch in unserem Bewusstseinskontinuum.


    Begehen wir die zehn unheilsamen Handlungen, dann schaden wir nicht nur anderen Menschen, sondern wir sammeln auch Ursachen für Leiderfahrungen in unserem Bewusstsein an. Bereinigen wir diese unheilsamen Potenziale, die wir in unserem Geist angesammelt haben, so schwächen wir sie und sie können überwunden werden. Dann werden wir kein Leid erleben. Begehen wir keine unheilsamen Handlungen, sammeln wir auch keine Ursachen für Leiden an.


    Begehen wir die zehn heilsamen Handlungen, unterlassen wir also bewusst die zehn unheilsamen Handlungen, werden wir damit Nutzen für andere Menschen bewirken als auch Ursachen für Glückserfahrungen in unserem Bewusstseinskontinuum ansammeln.


    Unser Handeln (karma) ist also nicht nur eine Ursache für Übel. Übel / Leiden entsteht nur durch unheilsame Handlungen und heilsame Handlungen sind Ursache für unser Glück.

    Hallo Railex ,


    dein Beispiel mit deinem Vater zeigt doch das abhängige Bestehen sehr gut auf. Trotz schwieriger Umstände in der Nachkriegszeit hat sich dein Vater verändert, hat neue Verhaltensweisen und Sichtweisen angenommen. Aber du hast dich ja genauso verändert. Wir sind also nicht ein für alle Mal festgelegt und können uns verändern unabhängig von unserem Alter.


    Ich wünsche dir alles Gute.

    In den Versen 36 und 37, die ich hier jetzt überspringe, legt Nagarjuna dar, dass Samsara ein abhängig entstandenes Phänomen ist und Samsara deshalb beendet werden kann.


    Vers 38: "Wer aber erkennt, wie Ursache und Wirkung hervorgebracht und wieder zerstört werden, der betrachtet die Welt nicht als in Wirklichkeit existierend oder nicht-existierend."


    Wenn Nagarjuna sagt, dass die Welt in Wirklichkeit weder existierend noch nicht-existierend ist, geht es um ein bestimmte Auffassungen über die Bestehensweise der Welt, die er mit dieser Formulierung verneint. Es geht um die Verneinung inhärenter Existenz, also um die Verneinung der Existenz aus sich selbst heraus, um die Verneinung des Eigenwesens der Phänomene. Eine inhärente Existenz ist deshalb auch immer eine unabhängige Existenz.


    Nagarjuna widerlegt damit zwei extreme Auffassungen bezüglich der Existenzweise der Phänomene.


    Das eine Extrem ist die Auffassung, wenn Phänomene existieren, dann müssen sie inhärente Existenz besitzen. Das andere Extrem ist die Auffassung, wenn die Phänomene keine inhärente Existenz besitzen, dann könnten sie nicht existieren.


    Diese beiden Extreme widerlegt Nagarjuna mit dem Argument des abhängigen Entstehens:

    1. Die Phänomene haben keine inhärente Existenz, weil sie durch Ursachen und Umstände entstanden sind deshalb auch wieder vergehen.
    2. Wenn man die inhärente Existenz der Phänomene verneint, folgt daraus nicht, dass diese Phänomene nicht-existent sind, denn sie existieren ja aufgrund von Umständen und Bedingungen.

    Im 1.Kapitel der Ratnavali geht es natürlich immer wieder um abhängiges Bestehen und Leerheit (sunyata). Beides hängt ja miteinander zusammen.


    Es reicht natürlich nicht aus, nur ein rein intellektuelles Verständnis der Leerheit zu entwickeln. Erst wenn wir eine überbegriffliche, unmittelbare Erfahrung der Leerheit entwickelt haben, verfügen wir über das Gegenmittel gegen unsere Unwissenheit, dem 1.Glied des zwölfgliedrigen Zyklus des abhängigen Entstehens.


    Um aber dieses überbegriffliche Verständnis der Leerheit entwickeln zu können, brauchen wir aber zunächst erst einmal ein gutes intellektuelles, begriffliches Verständnis darüber was durch die Leerheit, die eine Negation ist, verneint wird. Dieses Verständnis ist die Grundlage der analytischen und konzentrativen Meditationen mit denen wir in einem langen Prozess diese zunächst begriffliche Erkenntnis in eine unmittelbare überbegriffliche Erfahrung der Leerheit umwandeln.

    So wie Nagarjuna im 30.Vers der Ratnavali kurz und knapp den Prozess beschreibt durch den man sich aus Samsara befreit, so beschreibt er im 35.Vers ebenso kurz und knapp wodurch wir immer wieder eine samsarische Existenz annehmen.


    Vers 35: "So lange die Anhäufungen für wahr genommen werden, so lange gibt es die Vorstellung von einem Ich. Wenn die Vorstellung von einem Ich existiert, kommt es zum Handeln und damit zur Geburt."


    Zunächst ein paar Worterklärungen:

    • Die Anhäufungen sind die Skandhas
    • wahr meint eine Existenz unabhängig vom wahrnehmenden Bewusstsein
    • Vorstellung von einem Ich ist die Vorstellung, es gäbe ein aus sich heraus existierenden Ich

    Der indische Meister Candrakirti vergleicht diesen Prozess im Madhyamakavatara mit der Analogie eines Ziehbrunnens.


    So schreibt er in 3.Vers des 1.Kapitels: "Die im Daseinskreislauf umher irrenden Wesen, zuerst einem Selbst verhaftet, das 'Ich' genannt wird, bringen sodann die Anhaftung an die Dinge hervor: 'das ist mein' - ich verneige mich vor dem Erbarmen mit diesen Wesen, die ohne Freiheit sind, wie die Eimer eines Schöpfrades im Brunnen."


    Im Kommentar des tib. Meisters Dschetsün Rendawa werden sechs Übereinstimmungen zwischen den Lebewesen in Samsara und den Eimern des Schöpfrades genannt:

    1. So wie die Eimer mit einem Seil festgebunden sind, so sind die Wesen durch befleckte Handlungen und Leidenschaften (karma und kleas) an Samsara gefesselt.
    2. So wie ein Mechanismus dafür sorgt, dass die Eimer unaufhörlich in den Brunnen hinab gelassen und wieder hinauf gezogen werden, so hält das Bewusstsein den Kreislauf der Existenzen in Gang.
    3. So wie die Eimer tief in den Brunnen hinab gelassen werden, so fallen die Wesen von den höchsten Daseinsbereichen hinab in die niederen Daseinsbereiche.
    4. So wie die Eimer mühelos in den Brunnen hinab gelassen werden und nur mit Mühen wieder hochgezogen werden können, so wandern die Wesen in Samsara mühelos in die niederen Daseinsbereiche und können nur mittels großer Anstrengung die höheren Daseinsbereich erreichen.
    5. Beim Vorgang des Hinablassens und Heraufbewegens kann man keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende feststellen. Genauso wandern die Lebewesen in Samsara unaufhörlich durch die Daseinsbereiche ohne dass man einen Anfang, eine Mitte oder ein Ende in diesem Prozess feststellen kann.
    6. So wie die Eimer sich Tag für Tag pausenlos in den Brunnen hinab und wieder hinauf bewegen, so sind die Lebewesen in Samsara pausenlos den Wirkungen ihrer früheren Handlungen und Leidenschaft ausgesetzt und sammeln durch ihr Handeln gleichzeitig wieder neue Ursachen für zukünftige leidvolle Zustände in Samsara an.

    Auch der tib. Meister Je Tsongkapa beschreibt diese sechs Übereinstimmungen in seinem ausführlichen Kommentar zu Candrakirtis Madhyamakavatara. Eine indische Quelle, in der diese sechs Übereinstimmungen erläutert werden, kenne ich nicht.

    Helmut, kannst du mir bitte(vielleicht anhand des zwölfgliedrigen Zyklus?) nochmal erklären, wie die falsche Vorstellung vom Ich, die Ursache der Skandhas wird? kurze Erklärung sollte reichen_()_

    Hallo Railex ,


    ich habe deine Frage nicht vergessen, komme aber jetzt erst dazu dir zu antworten.


    Wenn Nagarjuna in Vers 29 sagt, die Skandhas "von Körper und Geist entstehen aus der Vorstellung von einem Ich, die faktisch falsch ist", dann ist dies die kürzeste Fassung des zwölfgliedrigen Zyklus, die ich kenne.


    Die falsche Vorstellung vom Ich ist ein Aspekt der Unwissenheit, die das erste Glied dieses Zyklus ist. Diese Unwissenheit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Realität nicht korrekt erfasst. Dadurch entstehen in unserem Geisteskontinuum Leidenschaften (Klesa) wie Begierde, Ärger, Wut, Neid usw. Motiviert durch diese Leidenschaften begehen wir verschiedenste Handlungen, die dann karmische Prägungen in unserem Geist hinterlassen. Im Todesprozess reifen durch Umstände und Bedingungen Wirkungen karmischer Prägungen heran und bestimmen in welchem Daseinsbereich wir erneut Geburt annehmen.


    Diese karmischen Prägungen sind Geistesfaktoren, die also bestimmen, welche Existenz, ob als Tier oder Mensch usw., wir annehmen. Der Körper, den wir in unserer neuen Existenz zum Beispiel als Mensch annehmen, wird natürlich durch die Keimzellen der Eltern in der Empfängnis verursacht und nicht durch einen Geistesfaktor.


    Zum Zeitpunkt der Empfängnis verbindet sich aber unser anfangsloses Geisteskontinuum mit der Verschmelzung der elterlichen Keimzellen. Deshalb wird das vierte Glied des zwölfgliedrigen Zyklus Name und Form (namarupa) genannt. Dies ist der erste Moment des neuen Lebens.

    Drin liegt die Wurzel für das weiteres, also ohne diese "Leerheit" wäre keinen echten Buddhismus, eigentlich.

    Wie siehst du es, Helmut ?

    Dem markierten Satzteil würde ich nicht zustimmen.


    Buddha Sakyamuni hat ja viele Lehrreden gegeben in denen er überhaupt nicht über Leerheit (Sunyata) gesprochen hat. Diese wären dann ja minderwertiger Dharma. Aber es ist nicht angemessen, Lehrreden von Buddha Sakyamuni für minderwertig zu halten, denn er hat immer in Abhängigkeit von dem Auffassungsvermögen und der Motivation der Zuhörenden gesprochen.


    Denjenigen, die die Motivation hatten, im nächsten Leben wieder eine hohe Wiedergeburt als Mensch zu erlangen, brauchte er die Leerheit nicht lehren. Denen hat er Unterweisungen über Tod und Vergänglichkeit, die Leiden der niederen Daseinsbereiche, Zuflucht und das Gesetz von Karma.


    Denjenigen, die die Befreiung aus Samsara verwirklichen und ein Arhat werden wollten, hat er dann zusätzlich gelehrt wie man eine Abkehr von den vermeintlichen Vortrefflichkeiten des Samsara entwickelt.


    Denjenigen, die die Motivation hatten, die Buddhaschaft zum Wohle der Wesen zu erlangen, hat er dann noch gelehrt wie man Bodhicitta entwickelt und das Erkennen der endgültigen Realität. Und dieses Erkennen der letztgültigen Realität geschieht durch die Einsicht in die Leerheit.


    Von der Zielsetzung her unterscheidet Nagarjuna in der Ratnavali zwischen hohem Zustand und letztendlichem Glück. Der hohe Zustand ist eine Wiedergeburt als Mensch. Das letztendliche Glück besteht in der Befreiung aus Samsara. Dies wird unterteilt in die Arhatschaft und die Buddhaschaft.

    In den Versen 31 bis 33 gibt Nagarjuna Erklärungen zum abhängigen Entstehen anhand der Beziehung zwischen Ich und Skandhas und benutzt dabei die Analogie des Spiegelbildes.


    Vers 31 bis 33:


    "(31) So wie es heißt, dass das Bild unseres Gesichtes im Spiegel vom Spiegel abhängt und nicht wahrhaft als Gesicht existiert,


    (32) auf diese Weise existiert auch das ICH abhängig von den Anhäufungen. Und wie das Bild im Spiegel existiert es in Wirklichkeit nicht.


    (33) Und wir ein Spiegelbild nur in Abhängigkeit von einem Spiegel erblickt werden kann, so kann auch die Vorstellung vom ICH nicht ohner die Anhäufungen existieren."


    Drei Begriffserklärungen:

    1. Wahrhaft existieren bedeutet in diesem Zusammenhang Existenz aus sich selbst heraus, Existenz aufgrund eines Eigenwesens, Existenz unabhängig vom wahrnehmendem Bewusstsein.
    2. Anhäufungen sind die fünf Skandhas Körper, Empfindung, Unterscheidung, Gestaltende Faktoren und Bewusstsein.
    3. ICH bedeutet in diesem Zusammenhang ein aus sich selbst heraus existierendes Ich, das ein Eigenwesen besitzt und unabhängig vom wahrnehmendem Bewusstsein existiert.

    Die Soheit, die Selbstlosigkeit der Person, die Leerheit (sunyata) hat es schon immer gegeben. Sie sind die Realität wie sie ist. Wir müssen sie aber erkennen und deshalb brauchen wir den Dharma. Auf der konventionellen Ebene müssen wir das abhängige Entstehen korrekt verstehen.


    Die dritte edle Wahrheit müssen wir verwirklichen. Wir müssen die Freiheit von den Leidensursachen in unserem eigenen Geisteskontinuum verwirklichen. Das bedeutet, jetzt ist unser Geisteskontinuum noch von den Leidensursachen geprägt und mit dem achtfachen Pfad beseitigen wir sie in einem schrittweisen Prozess und verwirklichen so die Leidfreiheit, die darin besteht, dass unser Geist nicht mehr unter dem Einfluss der Leiden und ihrer Ursachen steht.

    An welchen Ansichten du Igor07 festhalten willst, weil du sie für richtig und angemessen hältst, ist doch deine eigene Entscheidung. Buddha Sakyamuni hat ja nur gesagt, wer die Befreiung aus Samsara erreichen will, also die dritte edle Wahrheit verwirklichen will, muss bestimmte Ansichten aufgeben. Aber jeder entscheidet für sich selbst ob er oder sie die dritte edle Wahrheit verwirklichen will.

    Zitat

    dass die Skandhas nicht so existieren wie sie uns erscheinen

    Aber das würde doch nichts zwangsläufig bedeuten, dass auf "meine" ( "") Skandhas keinen Verlass wäre. Dann ich wäre nichts imstande , diese Frage und das ganze abzutippen...

    Wenn die S. uns anders "erscheinen", dann man kann sich doch genug auf sie im RL und im Alltag verlassen. Ungeachtet( trort) dieser "Täuschung"...

    Wenn Buddha Sakyamuni und auch Nagarjuna und andere indische Meister wie Asanga, Dharmakirti, Buddhapalita, Candrakirti oder Santideva sagen, dass das Ich und die Skandhas nicht aus sich selbst heraus, also nicht inhärent, existieren, dann leugnen sie ja nicht, dass es ein Ich und die Skandhas gibt.


    Sie negieren nicht das Ich und die Skandhas, sondern eine falsche Ansicht über die Bestehensweise des Ichs und der Skandhas. Sie negieren diese Sicht, weil sie die Wurzel des Samsaras ist. Die falsche Sichtweise, die von ihnen negiert wird, ist die Unwissenheit, die der erste Faktor des zwölfgliedrigen Zyklus ist, der uns an Samsara bindet.


    Wer also Befreiung aus Samsara erlangen will, muss diese falschen Ansichten über die Bestehensweise des Ichs und der Skandhas aufgeben. Diejenigen, die diese Zielsetzung nicht haben, brauchen sich hiermit nicht groß zu beschäftigen.

    Ich komme wieder auf Vers 30 der Ratnavali zurück zu dem ich ja bereits in Beitrag #24 etwas gesagt habe.


    Mit Vers 30 beschreibt Nagarjuna den Weg, der zur Befreiung aus Samsara führt. Voraussetzung ist, dass wir die Anhäufungen (Skandhas) als Täuschung erkannt haben.


    Die Täuschung, die hier gemeint ist, ist die Ansicht, dass unsere Skandhas aus sich heraus existieren, weil es uns in unserer alltäglichen Wahrnehmung so erscheint und wir dies auch glauben.


    Analysieren wir ob dies zutrifft, so werden wir feststellen, dass die Skandhas nicht so existieren wie sie uns erscheinen; dass es einen Widerspruch zwischen der Erscheinungsweise und der Bestehensweise der Skandhas gibt.


    Wenn wir erkennen, dass die Skandhas nicht aus sich heraus existieren, erkennen wir auch, dass das Ich nicht aus sich heraus existiert. Denn wenn die aus sich heraus existierenden Skanghas nicht existent sind, gibt es auch keine Benennungsgrundlage mehr für ein aus sich heraus existierendes Ich.


    Deshalb heißt es im ersten Satz dieses Verses: "Nachdem wir also die Anhäufungen als Täuschung erkannt haben, können wir die Vorstellung von einem ICH aufgeben."