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Hagbards Büchlein
Nach anhaltendem Bitten und inständigstem Flehen konnten wir, die Autoren, Hagbard Celine soweit bringen, uns die Erlaubnis zu erteilen, ein paar weitere, erleuchtende Abschnitte aus seinem Büchlein Pfeif Nicht, Wenn Du Pißt abzudrucken.19 (Bevor wir diese frenetischen Anstrengungen unternahmen, wollte er, daß wir das ganze Ding veröffentlichten.) Im folgenden also einige der Schlüssel zu diesem seltsamen Kopf, Hagbard Celine:
Einst hörte ich zwei Botanikern zu, die über ein Verdammtes Ding argumentierten, das, blasphemisch genug, im Hof eines College zu sprießen begonnen hatte. Der eine bestand darauf, es sei ein Baum, der andere, es sei ein Strauch. Beide hatte sehr gelehrte Argumente zur Hand und sie debattierten immer noch, als ich mich längst zum Gehen gewandt hatte.
Die Welt bringt ohne Unterlaß Verdammte Dinger hervor - Dinger, die weder Baum noch Strauch, weder Fisch noch Vogel,
weder schwarz noch weiß sind —, und der kategorische Denker kann die verbohrte und summende Welt sensorischer Tatsachen nur als tiefe Beleidigung seines Karteiensystems von Klassifizie- rungen betrachten. Die schlimmsten Tatsachen sind die, die den «gesunden Menschenverstand» vergewaltigen, jener trostlose Sumpf stumpfsinniger Vorurteile und verschwommener Trägheit. Die ganze Wissenschaftsgeschichte ist die Odyssee eines närri- schen Karteiführers, der ständig zwischen solchen Verdammten Dingern hin und her segelt und verzweifelt mit seinen Klassifika- tionen jongliert, damit er sie unterbringen kann, ebenso wie die Geschichte der Politik die flüchtige Erzählung einer langen Reihe von Versuchen ist, die Verdammten Dinger in Reih und Glied zu bringen und sie zu überreden, in Regimentern zu marschieren.
Jede Ideologie bedeutet geistigen Mord, die Reduktion dynami- scher Lebensprozesse auf statische Klassifikation, und jede Klassi- fikation ist eine Verdammung, ebenso wie jede Inklusion eine Ex- klusion ist. In einem fleißigen, summenden Universum, wo keine zwei Schneeflocken miteinander identisch sind und keine zwei Bäume identisch sind und keine zwei Menschen identisch sind - und, dessen wurden wir versichert, in der Tat das kleinste subato- mare Teilchen nicht einmal mit sich selbst identisch ist von einer Mikrosekunde zur nächsten —, ist jedes Karteiensystem eine Selbsttäuschung. «Oder, um es etwas milder auszudrücken», wie Nietzsche sagt, «wir sind alle bessere Künstler, als wir glauben.»
Es ist leicht zu erkennen, daß die Bezeichnung «Jude» im Nazi- Deutschland eine Verdammung war, tatsächlich ist die Bezeich- nung «Jude» aber überall eine Verdammung, selbst da, wo es kei- nen Antisemitismus gibt. «Er ist Jude», «er ist Arzt», und «er ist Dichter» bedeuten für das Karteiensystem-Zentrum im Kortex, daß die Erfahrung, die ich mit jemandem machen werde, der Er- fahrung, die ich mit anderen Juden gemacht habe, gleichen wird, mit anderen Ärzten, mit anderen Dichtern. Folglich wird Indivi- dualität ignoriert, wenn Identität geltend gemacht wird.
Bei jeder Party, an jedem beliebigen Ort, wo Leute sich begeg- nen, kann man diesen Mechanismus in Aktion sehen. Hinter je- dem Vorspiel steht die Vorsicht, indem jeder versucht, die Be- zeichnung hervorzufischen, die den anderen identifizieren und verdammen wird. Schließlich ist es da: «Oh, er ist Werbetexter», «Oh, er ist Fließbandarbeiter.» Beide Seiten entspannen sich, denn nun wissen sie, wie sie sich verhalten müssen, welche Rolle sie in diesem Spiel zu spielen haben. Neunundneunzig Prozent von jedem wurden verdammt; der Rest reagiert auf das eine Prozent, das von der Karteiensystem-Maschine bezeichnet worden ist.
Gewisse Verdammungen sind sozial und intellektuell natürlich notwendig. Eine Cremetorte, die in das Gesicht eines Schauspie- lers geworfen wird, wurde vom Naturwissenschaftler verdammt, der sie gemäß dem Newtonschen Bewegungsgesetz analysierte. Diese mathematischen Gleichungen berichten uns allen, was wir über die Wucht, mit der die Torte auf das Gesicht aufschlug, wissen wollen, aber nichts über die menschliche Bedeutung des Tortewer- fens. Ein Anthropologe, der die soziale Funktion des Schauspielers als Schamane, als Hofnarr und Königsersatz analysiert, erklärt das Tortewerfen als Überbleibsel des Narrenfestes und des Tötens des Königsstellvertreters. Das verdammt den Schauspieler auf andere Weise. Ein Psychoanalytiker, der hier ein ödipales Kastra- tionsritual findet, hat eine weitere, dritte Verdammung vollzo- gen, und der Marxist sieht ein Ventil für die unterdrückte Wut der Arbeiter gegen die Bosse und vollzieht eine vierte. Jede Ver-
dammung hat ihren Wert und ihren Nutzen, dennoch bleibt es eine Verdammung, es sei denn, ihre partielle und zufällige Natur wird anerkannt.
Der Dichter, der die Torte im Gesicht des Schauspielers mit dem Niedergang des Westens oder seiner eigenen vergeblichen Liebe vergleicht, begeht eine fünfte Verdammung, doch sind in diesem Fall das Spielelement und die Wunderlichkeit des Symbolgehalts offensichtlich. Man sollte es wenigstens hoffen; liest man die neuen Kritiker, so lassen sie an diesem Punkt gelegentlich Zweifel aufkommen.
Die menschliche Gesellschaft kann entweder gemäß dem Prin- zip der Autorität strukturiert werden oder gemäß dem Prinzip der Freiheit. Autorität bezeichnet eine statische soziale Konfigura- tion, in der die Menschen als Überlegene und Unterlegene agieren: eine sado-masochistische Beziehung. Freiheit ist eine dynamische soziale Konfiguration, in der die Menschen als Gleiche füngieren: eine erotische Beziehung. Bei jeder zwischenmenschlichen Bezie- hung ist entweder Autorität oder Freiheit der dominante Faktor. Familien, Kirchen, Logen, Vereine und Gesellschaften sind entwe- der autoritärer als freiheitlich oder freiheitlicher als autoritär.
Indem wir so fortfahren, wird es offensichtlich, daß die kämp- ferischste und intoleranteste Form der Autorität der Staat ist, der selbst heute noch einen Absolutismus anzunehmen wagt, den die Kirche selbst längst aufgegeben hat, um Gehorsam zu erzwingen, sich Techniken bedient, deren sich die Kirche in ihrer alten, schamvollen Inquisition bediente. Jegliche Form von Autoritaris- mus ist jedoch schon ein kleiner «Staat», selbst wenn es sich nur um zwei Personen als Mitglieder handelt. Freuds Bemerkung, daß die Verblendung eines Menschen eine Neurose und die Verblen- dung vieler Menschen die Religion ist, kann verallgemeinert wer- den : Der Autoritarismus eines Menschen ist Verbrechen und der Autoritarismus vieler Menschen ist der Staat. Benjamin Tucker schrieb dazu:
Aggression ist einfach nur ein anderer Name für Regierung. Ag- gression, Invasion, Regierung sind austauschbare Begriffe. Die Grundlage einer Regierung ist Kontrolle oder der Versuch einer Kontrolle. Derjenige, der einen anderen zu kontrollieren ver- sucht, ist ein Herrscher, ein Aggressor, ein Eindringling; und die Natur einer solchen Invasion ändert sich nicht, sei sie von einem einzelnen gegen einen anderen ausgeführt, nach Art eines ge- wöhnlichen Verbrechens, oder von einem Menschen gegen alle übrigen Menschen, nach der Art eines absoluten Monarchen, oder von allen Menschen gegen einen einzelnen, nach Art der modernen Demokratie. Tuckers Anwendung des Wortes «Invasion » ist auffällig präzi-
se, zieht man in Betracht, daß er es fünfzig Jahre vor den grundle- genden Erkenntnissen der Ethologie schrieb. Jeder autoritäre Akt ist tatsächlich eine Invasion in das psychische und physische Terri- torium eines anderen.
Jedes Faktum der Wissenschaft war einstmals verdammt. Jede Erfindung wurde als unmöglich angesehen. Jede Entdeckung war für irgendeine Orthodoxie immer ein nervöser Schock. Jede künstlerische Innovation wurde als Betrug und Narretei denun- ziert. Das gesamte Netz von Kultur und «Fortschritt», alles von Menschenhand Erschaffene auf dieser Erde, alles, was uns nicht von der Natur gegeben wurde, ist die konkrete Manifestation eines Menschen, der sich weigerte, sich vor der Autorität zu beu- gen. Hätte es nicht die Rebellierenden, die Widerspenstigen, die
Kompromißlosen gegeben, besäßen wir nicht mehr, wüßten wir nicht mehr, wären wir nicht mehr als die ersten affenähnlichen Haminiden. Wie Oscar Wilde richtig sagte: «Ungehorsam war des Menschen erste Tugend.»
Das menschliche Gehirn, das so gern Beschreibungen seiner selbst als des Universums wunderbarstes Wahrnehmungsorgan liest, ist ein noch wunderbareres Organ der Ablehnung. Die nack- ten Tatsachen unseres Ökonomie-Spiels sind einfach aufzudecken und unleugbar sind sie einmal festgelegt, aber die Konservativen - die normalerweise Individuen sind, die jeden einzelnen Tag ihres Lebens von diesen Tatsachen profitieren — verstehen es, ihnen ge- genüber blind zu bleiben oder sie durch eine rosarote Brille zu betrachten. (Ähnlich verhält es sich mit dem Revolutionär, der die vollständige Offenbarung der Geschichte über den natürlichen Gang der Revolution, durch Gewalt zum Chaos und zurück zum Ausgangspunkt, ignoriert.)
Wir müssen uns erinnern, daß der Gedanke Abstraktion ist. Nach Einsteins Metapher ist die Beziehung zwischen einer phy- sischen Tatsache und unserer geistigen Wahrnehmung dieser Tatsache nicht wie die Beziehung zwischen Rindfleisch und Rind- fleischbrühe, ein einfacher Vorgang von Extraktion und Konden- sation; vielmehr ist es, so Einstein, wie die Beziehung zwischen
unserem Mantel und der Garderobenmarke, die wir bekommen, wenn wir den Mantel zur Aufbewahrung abgeben. Mit anderen Worten beinhaltet menschliche Wahrnehmung mehr Kodierung als einfaches Spüren. Das Maschenwerk der Sprache oder der Ma- thematik der Kunstschulen oder irgendeines anderen Abstrak- tionssystems gibt unserer geistigen Konstruktion die Struktur, und zwar nicht der ursprünglichen Tatsache wegen, sondern des Symbolsystems wegen, in welches sie kodiert wurde, genauso wie ein Kartograph ein Land purpurn färbt, nicht weil es purpurn ist, sondern weil sein Kode es so verlangt. Jeder Kode schließt aber bestimmte Dinge aus, verzerrt andere Dinge und überbetont wie- der andere Dinge. Nijinskis gefeierter Sprung durch das Fenster auf dem Höhepunkt von Le Spectre d'une Rose ist am besten im Notationssystem der Choreographen kodiert; Wortsprache ver- sagt völlig im Versuch, das auszudrücken; Malerei oder Bildhaue- rei könnte die Magie eines Augenblicks vollständig auffangen, aber nur einen Augenblick davon; die Gleichung des Naturwis- senschaftlers, Kraft = Masse x Beschleunigung, beleuchtet nur einen Aspekt davon, der von allen anderen Kodes nicht wahrge- nommen wird, verliert aber alles andere drumherum. Jede Wahr- nehmung wird beeinflußt, geformt und strukturiert von den Ko- dierungsgewohnheiten — den geistigen Spielgewohnheiten - des Wahrnehmenden.
Jegliche Autorität ist eine Funktion des Kodierens, von Spielre- geln. Immer wieder haben sich Menschen erhoben, um mit Mist- gabeln gegen Kanonen zu kämpfen; ebenso haben sich Menschen den schwächsten und zerstreutesten Unterdrückern ergeben. Alles ist vom Ausmaß der Verzerrung von Wahrnehmung abhängig, die durch Kodieren geschieht und wie sie die physischen (und geisti- gen) Reflexe konditioniert.
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Ich hoffe der Text stösst auch hier auf ein wenig Liebe Er stammt aus dem Buch Illuminatus! 3 - Leviathan