Beiträge von Sudhana im Thema „Tenzin Palmo über Fleisch-essende (Laien), was haltet ihr davon?“

    @He Who Remains : ein zweifellos interessanter Vorschlag, wobei mir persönlich die nachgefragte "Lust" (bzw. Zeit dafür) etwas mangelt. Eine nähere Beschäftigung mit dem Plattformsutra liegt bei mir schon etliche Jahre zurück und ich bin nicht so wild darauf, das wieder aufzugreifen. Jedenfalls wäre es in solch einem Fall sinnvoll, sich auf eine gemeinsame Textgrundlage zu einigen - den frühesten überlieferten Text ('Dunhuang-Fassung'), übersetzt von P. Yampolski, oder den kanonischen Text, übersetzt von J. McRae. Ansonsten gäbe es auf Deutsch die Übersetzung U. Jarands, wenn ich mich recht erinnere im Wesentlichen auf der Kōshōji - Version beruhend. Leider ist in der Übersetzung nicht (z.B. in Fußnoten) vermerkt, wo und warum von der Kōshōji - Version abgewichen wurde. Von der Textentwicklung her liegt diese (songzeitliche) Version zwischen Dunhuang-Version und der mingzeitlichen kanonischen Version (TT2008). Begleitend zu solch einer Diskussion wäre der Sammelband 'Readings of the Platform Sūtra' (ed. Morten Schlütter / Stephen F. Teiser, Columbia University Press 2012) empfehlenswert, insbesondere der Aufsatz 'Ordination and Precepts in the Platform Sūtra' von Paul Groner. Zur Einführung ebenfalls empfohlen: Carl Bielefeldt / Lewis Lancaster, T'an Ching (Platform Scripture), Philosophy East and West 25.II, University of Hawaii Press 1975. Bei ernsthaftem Interesse und wenn man die genannten Texte (bis auf Jarands Übersetzung) nicht im Internet findet, PN an mich.


    Ich verrate sicher kein Geheimnis wenn ich sage, dass meine Sichtweise stark durch Dōgen geprägt ist, der seinerseits - so meine Lesart - auf Nāgārjuna aufsetzend eine Art nicht-diskursives Madhyamaka entwickelt. Das knüpft natürlich an den durch Shenhui mit Huineng in Verbindung gebrachten Pradigmenwechsel zur Prajñāpāramitā (konkret dem Diamantsutra) an; also der 'Verwerfungslinie' zwischen den halb legendären Meistern der Laṅkāvatāra-Schule und dem sich unter der Ägide Shenhuis formierenden 'südlichen' Chan. Das Plattformsutra (in seiner leider verloren gegangenen Urfassung) war ja so etwas wie dessen 'Gründungsurkunde' - wobei sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass der von Shenhui vom Zaun gebrochene Streit mit dem 'nördlichen' Chan von ihm ziemlich polemisch geführt wurde. Das vorgebliche Alleinstellungsmerkmal der 'südlichen Schule' (also derjenigen, die Huineng als einzigen 6. Dharmanachfolger Bodhidharmas anerkannten), nämlich die dunjiao-Doktrin ('Lehre unmittelbaren Erwachens'), wurde, anders als unterstellt, auch von konkurrierenden Chan-Linien gelehrt und war im Übrigen auch kein 'Eigengewächs' des Chan, sondern geht auf Daosheng (um 400 n.d.Z.) zurück.


    Eine gewiss nicht unerhebliche Rolle spielte hier der Wettbewerb um die Protektion der Kaiserin Wu Zetian, die ihrerseits auf eine buddhistische Staatsideologie setzte - als Frau war sie für die konfuzianische 'Konkurrenz' inakzeptabel. In der Legende der Baotang-Linie des Chan spielt sie sogar eine wichtige Rolle bei der Übermittlung von Bodhidharmas Robe an Wuzhu. Diese Allianz von Thron und Altar führte dann auch zu einer massenhaften Zunahme von (Laien-)Bodhisattvaordinationen - Wendi Adamek behandelt das recht ausführlich. Nicht zuletzt unter Beamten und Militärs, die damit (möglicherweise vorrangig) ihre Loyalität bezeugten. Diese Ordinationen waren dann auch Anlass von Lehrvorträgen, die ggf. auch aufgezeichnet wurden - eine recht umfangreiche Passage des Plattformsutra (auf die ich bereits verwies) hat als Quelle solch eine Niederschrift und dem Anlass entsprechend spricht Huineng da über 'formlose Zuflucht', über 'formlose Gelübde' bzw. das 'Gelübde der Formlosigkeit'. Man kann - zumindest ich tue dies - mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der 'Rahmen' / der Kontext dieses Vortrages eine durchaus 'normale', d.h. formelle Initiationszeremonie war und der Vortrag deren Exegese. Ohne formalen Ritus wäre schließlich der staatstragende Aspekt der Veranstaltung weggefallen, dafür gibt's keine Subventionen ...


    Zitat

    Jemand fragte: "Zwei Drachen streiten sich um einen wertvollen Stein. Wer soll ihn bekommen?" Jōshu antwortete: "Der Verlierer entbehrt ihn nicht, der Gewinner braucht ihn nicht."

    Meine Ethik gründet auf dem, was ich von Kindesbeinen an eingeimpft bekam und von Eltern und Gesellschaft lernte. Das ist so wie bei den meisten Menschen. Schon bei Aristoteles waren das Sitten und Gebräuche.

    Das scheint mir eine etwas einseitige Interpretation zu sein. Neben diesen auf 'Gewohnheit' / Herkommen beruhenden ethischen Tugenden postuliert Aristoteles ja ergänzend die dianoetischen Tugenden, die 'aus Belehrung entstandenen'. Aristoteles' Ethikbegriff ist deutlich beschränkter (konkret auf den Bereich normativer Ethik) als der heute im Diskurs übliche.


    Ohne dies nun weiter auszuwalzen: ich verstehe Dich so, dass Ethik für Dich lediglich eine Sache sozialer Konvention ist. Das ist sie auch - aber nicht nur. Ethik als rein kulturelles Konstrukt bedeutet in Konsequenz, dass das herrschende Ethos einer Kultur das Ethos der sie Beherrschenden ist. Ein kulturanthropologischer Vergleich zeigt jedoch ein differenzierteres Bild - zum einen bemerkenswerte partielle Ähnlichkeiten zwischen ethischen Normen sehr unterschiedlicher Kulturen einerseits und die altruistische Ausrichtung der meisten dieser Normen andererseits. Da erscheint mir die 'Mitleidsethik' Schopenhauers doch ein plausiblerer Eklärungsansatz zu sein. Also eine psychologisch / neurologische Grundlage empathischer Natur (gewissermaßen 'angeborene Erleuchtung') an Stelle eines bloßen sozialen Konstrukts; einer Rudel-Hackordnung.


    Empathie wurzelt im Empfinden wechselseitiger Bedingtheit; im Teilen von dukkhata, anatman, anitya. Je tiefer die Empfindung, um so unausweichlicher die daraus gezogene Konsequenz für das dem Empfinden folgende Handeln. Da braucht es - anders als für das Zusammenleben in einer grundsätzlich offenen Übungsgemeinschaft - keine Regeln und Gelübde. Sie stören allerdings auch nicht.

    Das Gebot der Selbst-Natur hat nichts mit den sila zu tun.

    Dass Du das so siehst, ist ja offensichtlich. Daher auch meine Diagnose, dass Dein Zen ethikfrei ist. Wenn Du das bestreitest - was Du ja getan hast - worauf gründet Deine Ethik?


    Mir scheint auch offensichtlich zu sein, dass Du das Prinzip des 'formlosen dreifachen Studiums' nicht verstehst - der Unterschied zum klassischen dreifachen Studium [von Śīla, Prajńā und Dhyāna; insbesondere in China mit dem theoretischen und praktischen Studium von Vinaya, Śāstra und Sūtra identifiziert] liegt einzig in der Formlosigkeit. Wozu der Huineng des Platformsutra ja auch konkret Erläuterungen gibt; u.a. zur 'formlosen Zufluchtnahme' oder zu 'formlosen Geboten'. Im Rahmen einer öffentlichen Bodhisattva-Ordination übrigens. Wie auch immer - worauf richtet sich Dein "Instinkt"?

    Zitat

    In den Aktivitäten, zu denen deine Selbstnatur Anlass gibt, gibt es neunzehn Konfrontationen: das Falsche und das Richtige, Unwissenheit und Weisheit, Dummheit und Wissen, Verwirrung und Samadhi, Befolgung der Gebote und Nichtbefolgung, gerade und krumm, wirklich und unwirklich, steil und eben, Leidenschaften und Erleuchtung, Mitgefühl und Schaden, Freude und Ärger, Geburt und Zerstörung, Dauerhaftigkeit und Vergänglichkeit, der Dharmakaya und der physische Körper, der Nirmanakaya und der Sambhogakaya, Substanz und Funktion, Natur und Eigenschaften sowie Empfindung und Unempfindlichkeit. In der Sprache und den Eigenschaften der Dinge gibt es zwölf Konfrontationen, in der äußeren Umgebung gibt es fünf Konfrontationen von Naturphänomenen, insgesamt also sechsunddreißig Konfrontationen.


    Wenn du das Gesetz der sechsunddreißig Konfrontationen anwenden kannst, wird es auf alle Sutras anwendbar sein und beim Verlassen und Betreten wirst du dich vom Dualismus fernhalten. Wie kommt es, dass deine Selbstnatur zu Aktivitäten führt? Wenn du zu anderen über diese sechsunddreißig Konfrontationen sprichst, dann trenne dich äußerlich von der Form, während du in der Form bist, und innerlich, während du in der Leerheit bist, trenne dich von der Leerheit. Wenn du dich an die Leere klammerst, wirst du nur deine Unwissenheit vergrößern. Wenn du dich an die Form klammerst, wirst du nur deine falschen Ansichten verstärken, den Dharma verleumden und schnell sagen, dass man keine geschriebenen Worte verwenden sollte. Wenn du sagst, man solle keine geschriebenen Worte verwenden, dann sollten die Menschen nicht sprechen, denn Sprache selbst ist nicht anders als geschriebene Worte.

    (Das Plattform-Sutra des Sechsten Patriarchen, übersetzt nach P. Yampolski)

    Das ist nicht Huineng. Das ist eine Entstellung von Teilen der Zen-Schulen, wahrscheinlich vorwiegend im Soto.

    Du irrst Dich. Das findest Du schon in den Dunhuang-Manuskripten des Plattform-Sutra, die auf 830 / 860 datiert werden. Das ist die älteste bekannte Textversion - da von "Entstellung" zu reden ist entweder Unkenntnis oder blanke, unbeweisbare Spekulation. 1967 von Philipp Yampolsky übersetzt:

    Zitat

    The mind-ground, not in error, is the precept of self-nature; the mind-ground, undisturbed, is the meditation of self-nature; the mind-ground, not ignorant, is the wisdom of self-nature.

    Es gibt natürlich im Zen Ausprägungen, die mir nicht entgehen (und für die wohl auch Sudhana stehen möchte), die sich auf Sutren beziehen, also den Text, und von dort eine Ethik herleiten.

    Warum nicht Klartext? Wobei es schon ein wenig komplexer ist. Das hat durchaus etwas mit der Thematik 'Überlieferung außerhalb der Schriften' zu tun - Danke übrigens für Piya Tans Arbeit; ich habe sie bislang nur überflogen und werde ihr bei Gelegenheit mehr Zeit widmen. Einer der entscheidenden Punkte ist natürlich nicht neu: dass die 'Überlieferung außerhalb der Schriften' eine Fabrikation des nachklassischen Chan der Song ist und in Japan vom Rinzai rezipiert wurde und das offensichtlich gut zur Kultur (und Ethos) einer den Staat beherrschenden, brutalen Militärkaste passte. Im Sōtō hingegen (vgl. z.B. Shōbōgenzō Bukkyō) wird Überlieferung / Übertragung nicht-dualistisch aufgefasst: die Übertragung innerhalb und die Übertragung außerhalb von Worten sind nicht verschieden, nicht-zwei. 'Soheit' manifestiert sich auch in den Schriften. Konventionelle Wahrheit ist nur die kommunizierbare Form absoluter Wahrheit.


    Wobei sich die Ethik nur provisorisch auf Sūtren und Bodhisattvagelübde stützt - sie stützt sich auf die hinter diesen Worten stehende und im Zazen nachvollzogene dezentrale Vernetztheit allen Seins, die Interdependenz alles Seienden. Mit Huineng zu sprechen: Manifestation des Geistgrundes ohne Irrtum, ohne Torheit, ohne Verwirrung - die dreifache formlose Übung von Śīla, Prajńā und Dhyāna. Dieser Übung entspringt als Motivation der Praxis das Prinzip fusesshō - Enthaltung von Leben-Nehmen über das für diese Praxis Erforderliche hinaus.

    Nein, ich meine stets die Erfindung der Literaten, die den Palikanon zu verantworten haben. Oder die Autoren der Mahayana-Sutren etc. Diese Argumente brauche ich, weil jemand hier auf Sutren als sein Maßstab verwies.

    Nun, zumindest sehen wir ähnlich Buddha und seine Lehre als historisch gewachsenes Narrativ. Eines, das gerade in der Frage des Fleischverzehrs eine historische Entwicklung hin zu größerer Konsequenz erfahren hat; das Mahayana insbesondere in Ostasien ist da sehr viel unmissverständlicher. Ich erinnere nur an das 8. Kapitel des für die Chan-Genese so wichtigen Laṅkāvatāra. Jedenfalls - entweder einigen wir uns auf Buddhadharma als ein sich entsprechend ändernder Bedingungen (ökonomischen, politischen, sozialen ...) ebenfalls änderndes Narrativ oder wir beziehen uns auf eine bestimmte historische Form dieses Narrativs. Wobei die früheste historisch nachweisbare Form besonders beliebt ist, weil sie so leicht mit einem Original verwechselt werden kann. Auch da haben wir wohl keinen Dissenz. Aber Voraussetzung eines sinnvollen Gedankenaustauschs wäre zunächst ein Offenlegen, in welcher Hinsicht man sich auf solche Narrative bezieht - als ein historisches Ideal oder als einen Wandlungsprozess. Im letzteren Sinne spielen bei diesem Thema aktuelle Bedingungen (z.B. ökologische) durchaus eine Rolle; wenn man ein aus dem Palikanon konstruiertes historisches Ideal zur Grundlage des Diskurses macht, eher nicht. Zu einem sinnvollen Diskurs gehört es, da nicht die Bezugsebenen nach Belieben zu wechseln, wie es einem gerade in die Argumentation passt.


    Zunächst einmal: ontopic ist hier die Frage der Stellung von Verzicht auf Ernährung durch das Fleisch getöteter Wesen (die Sonderstellung von Aas, dessen Verzehr als zumindest ethisch unbedenklich angesehen wird, ist bemerkenswert). Und zwar im Kontext des Buddhadharma. Ist es da so abwegig, auf Sutren - also auf vom Sangha als 'kanonisch' anerkannte Texte - zu verweisen? Wobei sich zumindest mir da die Frage stellt, was eigentlich Dein Maßstab ist. Ich habe den Eindruck, dass es ein recht persönlicher ist. Was ja in Ordnung ist. Du plädoyierst für ethische Unbedenklichkeit von Fleischverzehr, was auch in Ordnung ist - obwohl ich glaube, keiner hier will Dir das verbieten. Nur - wenn Du für Deinen persönlichen Maßstab in Anspruch nimmst, er sei konsistent im Kontext des Buddhadharma, benötigen wir wohl oder übel auch einen Maßstab für 'Buddhadharma'. Und das sollte ein gemeinsamer sein, kein persönlicher. Sonst reden wir notwendig aneinander vorbei.


    Wenn das geklärt wäre, können wir auf dieser Grundlage über Laienpraxis und Ordiniertenpraxis und deren Unterschiede sprechen. Der wesentliche Unterschied dazwischen besteht darin, dass sich die Ordiniertenpraxis tatsächlich nach einem Regelwerk, dem Vinaya ausrichtet - der Laie verspricht lediglich, sich in bestimmten sozialen Verhaltensformen zu üben und Buddha, Dharma und Sangha als Leitbild des persönlichen Weges anzunehmen. Da gibt es keine 'Regelverstöße', allenfalls Defizite in der Übung. Die gerade genannte 'Zufluchtnahme' hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass die ethische Praxis von Laien und Ordinierten gleich ausgerichtet ist; die strengere und geregelte Praxis der Ordinierten grundsätzlich Vorbildcharakter für Laien hat. Weiter ist da mE auch nicht zu differenzieren.


    Dann kann man auch darüber reden, ob Bhikshus Fleisch als Spende annehmen dürfen oder müssen und unter welchen Bedingungen, womit die ethischen Prinzipien dieser Regel abgewogen werden - denn es geht bei Annahme solch einer Spende um eine Abwägung von Heilsamkeit auch im Kontext Dāna. Bei Lambert-Schmithausen findet sich da ja einiges. Im osiatischen Mahayana wiederum sieht es ja, wie schon angedeutet, etwas anders aus - hier ein Zitat aus einer im 19. Jhdt in China durchgeführten Feldstudie:

    Zitat

    Selbst wenn sie sich nicht in ihren Tempeln aufhalten, verzichten die Mönche strikt auf nicht-vegetarisches Essen. In jedem Fall kommt die Versuchung für sie nicht auf: nachdem sie sich ein oder zwei Jahre lang vegetarisch ernährt haben, entwickeln sie einen unbesiegbaren Ekel vor Fleisch und Fisch. Bei mehreren Gelegenheiten, bei denen der Autor dieser Zeilen die Gelegenheit hatte, seine Mahlzeiten einzunehmen [in einer der für Laien reservierten Hütten neben dem Kloster, in dem er sich aufhielt], wurde er von Mönchen besucht, die neugierig waren, wie und was er aß. Sobald sie jedoch den Geruch seines Schweinebratens oder seiner Lammkeule rochen, stürzten sie aus der Hütte - krank und nahe am Erbrechen.

    (J.J.M. de Groot, Le Code du Mahayana en Chine. Son influence sur la vie monacale et sur le monde laique. Johannes Muller, Amsterdam 1893 - Reprint Forgotten Books 2018)

    Da der Buddha z.B. eben gerade nicht den Konsum von Schweine-, Hühner-, Rindfleisch untersagte

    Du meinst selbstredend den historischen Buddha - um ein älteres Posting von Dir aus diesem Thread zu zitieren:

    Zitat

    Diese Ansichten stammen aus einem ständigen Rückgriff auf den Palikanon.

    - was Du da noch für unangemessen hieltest. Okay - bei Dir ist dieser "Rückgriff" nicht "ständig", sondern nur wenn es Dir gerade mal in den Kram passt. Das Problem, das ich bei Deinem Umgang mit Quellen (nicht nur hier) registriere, ist eine extrem selektive Lesart - bis hin zur Sinnverfälschung durch Missachtung des Kontextes. Ich frage mich, ob da das Problem tatsächliche selektive Wahrnehmung ist oder eristische Strategie.


    Wie auch immer - zum Thema Fleischverzehr im frühen Buddhismus gibt es hier eine umfassende Studie von Lambert-Schmithausen. Ein wenig komplexer ist die Sachlage schon ...

    Zitat

    Bei den im vorigen angeführten Textaussagen ist allerdings im Blick zu halten, daß sie zunächst einmal nur als Zeugnis für die Verhältnisse im Zeitraum der Kompilation bzw. Redaktion dieser Texte und für die normative Einstellung der hierfür verantwortlichen Personengruppen (im Falle des Vinaya wohl vor allem Mönche, die bereits in festen Klöstern lebten) gelten können. Inwieweit das sich ergebende Bild auf die Anfänge des Buddhismus übertragen werden kann, ist eine andere Frage, auf die ich noch zurückkommen werde (s. vor allem § 40), desgleichen auf die Frage, ob es nicht doch Indizien dafür gibt, daß es schon damals im buddhistischen Orden auch Kreise gabe, die im Gegensatz zu der die Texte dominierenden Einstellung einem konsequenten Verzicht auf Fleischverzehr das Wort redeten (s. Kap. I.2.2) oder ihn zumindest unter bestimmten Umständen praktizierten (s. Kap. I.2.3). Abgesehen davon dürfen die einleitenden Ausführungen nicht dahingehend mißverstanden werden, daß in den uns erhaltenen kanonischen Texten des Hauptstranges der älteren buddhistischen Überlieferung Fleischverzehr durchgängig und unter allen Umständen für unbedenklich erachtet worden wäre und es keine Probleme und Einschränkungen gegeben hätte. Es gab ganz im Gegenteil durchaus Probleme, die allerdings weitgehend nur im Zusammenhang mit den Ordinierten explizit thematisiert und geregelt werden (vor allem in den Vinayas). Notwendig wurden solche Regelungen vor allem angesichts der (primär doch wohl ethisch motivierten) Verpflichtung, keine Lebewesen zu töten (Kap. I.1), im Zusammenhang mit Forderungen nach einer strengeren asketischen Lebensführung (und damit zusammenhängenden Problemen) (Kap. I.2) und aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Konventionen (Nahrungstabus: Kap. I.3). Obwohl diese drei Gesichtspunkte deutlich unterscheidbar sind, spielt im Falle der Ordinierten das gesellschaftliche Ansehen des Ordens bei allen dreien eine wichtige Rolle. Im Falle der Laien (Kap. I.5) dürfte vor allem der ethische Aspekt von Belang gewesen sein.

    (Lambert-Schmithausen, a.a.O., S. 22f)

    Da hier mit den Bodhisattva-Gelübden nach dem Brahmajala Sutra argumentiert wird, ist es sicher nützlich, sich die entsprechenden Gelübde mal anzuschauen, damit wir wissen, wovon die Rede ist.

    1. Hauptgelübde - Über das Töten

    Zitat

    Ein Schüler des Buddha soll nicht selbst töten, andere zum Töten ermutigen, mit zweckdienlichen Mitteln töten, das Töten loben, sich darüber freuen oder durch Beschwörungen oder schädliche Mantras töten. Er darf nicht die Ursachen, Bedingungen, Methoden oder das Karma des Tötens schaffen und er darf kein Lebewesen absichtlich töten.

    Als Schüler Buddhas sollte er einen Geist des Mitgefühls und kindlichen Respekts [wie gegenüber seinen Eltern] pflegen und stets zweckmäßige Mittel zur Rettung und zum Schutz aller Wesen ersinnen. Wenn er sich stattdessen nicht zurückhält und fühlende Wesen ohne Gnade tötet, begeht er ein Parajika-Vergehen [das zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führt].

    Bemerkenswert, dass mit diesem Gelübde nicht nur direktem / unmittelbarem Töten entsagt wird, sondern ausdrücklich auch dem Schaffen von Ursachen und Bedingungen des Tötens, wozu sicherlich auch der Kauf getöteter fühlender Wesen gehört.


    3. Nebengelübde - Über das Essen von Fleisch

    Zitat

    Ein Schüler des Buddha darf nicht absichtlich Fleisch essen. Er sollte nicht das Fleisch eines fühlenden Wesens essen. Der Fleischesser

    verwirkt den Samen des Großen Mitgefühls, durchtrennt den Samen der Buddha-Natur und veranlasst die Wesen, ihn zu meiden. Diejenigen, die dies tun, machen sich unzähliger Vergehen schuldig. Deshalb sollte ein Bodhisattva nicht das Fleisch von irgendwelchen Lebewesen essen, welcher Art auch immer. Wenn er stattdessen absichtlich Fleisch isst, begeht er ein sekundäres Vergehen.

    Im Wesentlichen geht es darum, die zweite der (nach Kant) vier Grundfragen der Philosophie zu beantworten: Was soll ich tun? Für die Philosophie ist dies das Problemfeld des Ethos. Für den Buddhismus ist dies der Übungsbereich sīla, der gleichwertig neben den Übungsbereichen samādhi und prajñā steht - wobei sich diese Aspekte der 'dreifachen Übung' (triśikṣā) in wechselseitiger Bedingtheit entfalten.


    Der Übungsbereich sīla wird für buddhistische Laien traditionell in fünf Übungswege (śikṣāpada) gegliedert. Zu jedem dieser Übungswege wird ein Gelübde abgelegt, ihm zu folgen, ihn zu entwickeln. Diese fünf Gelübde sowie die dreifache Zufluchtnahme definieren, was ein Buddhist / eine Buddhistin ist: Jemand, dessen persönlicher Lebensweg den 'drei Juwelen' (triratna) Buddha, Dharma und Saṅgha als Richtung der Zuflucht folgt, an ihnen ausgerichtet ist. Und Jemand, dessen / deren Verhalten gegenüber seinen / ihren Mitwesen dabei durch die Bemühung, den fünf Übungswegen zu folgen, gekennzeichnet ist.


    Der erste dieser fünf Übungswege findet im ersten Gelübde seinen Ausdruck: "Ich nehme den Übungsweg auf mich, vom Zerstören von Lebewesen Abstand zu nehmen."


    Natürlich kann man das nun intellektuell zerpflücken und relativieren, mit allen möglichen schlauen Argumenten - vom simplen "Pflanzen sind auch Lebewesen" bis hin zu philosophischen Śunyatā-Spitzfindigkeiten. Wer Gründe braucht, findet immer welche. Nur geht es darum gar nicht - um eine Art Ordnungswidrigkeiten-Katalog und einer quasi juristisch-kasuistischen Abwägung von 'Übertretungen' oder 'Nicht-Übertretungen'.


    Es geht vielmehr darum, für sich selbst offenzulegen, welche Folgen das Interagieren mit der scheinbar uns gegenüber stehenden Welt hat und dabei den Blick über das 'Ich' hinaus zu weiten - letzlich die Ich-Perspektive aufzugeben. Es geht darum, für dieses Interagieren und seine Folgen Verantwortung anzunehmen - was nicht zuletzt bedeutet, sich der eigenen Antriebe und Motive des Interagierens bewusst zu sein. Dies verweist deutlich auf die oben angesprochene Wechselbeziehung zu den beiden anderen Übungsfeldern: entwickeln lässt sich der Übungsbereich sīla in diese Richtung nicht ohne korrespondierende Entwicklung im Übungsbereich samādhi, insbesondere von Achtsamkeit (smṛti). Dass die Übung von sīla durch die 'Vier Unermesslichen' (apramāṇa), insbesondere karuṇa, gestützt und gestärkt wird, dürfte unmittelbar nachvollziehbar sein. Auch (um den Bereich prajñā nicht außer Auge zu lassen), sich etwas damit zu beschäftigen, wie Buddha 'Nahrung' definiert und welchen Umgang er damit empfiehlt, ist sinnvoll. Dazu (zu prajñā) gehört etwa auch, vor den hier angesprochenen Konsequenzen einer für den Markt der Fleischesser produzierenden Industrie nicht die Augen zu verschließen.


    Der Geist geht den Dingen voran. Ist dieser geübt, folgen 'die Dinge' entsprechend. Da braucht man sich dann auch nichts zu 'versagen'.

    Die buddhistische Regel heißt: Ich übe mich in ...

    Richtig. Und was den Umgang mit anderen Wesen angeht - also die Ethik, die Aspekte 3 - 5 des achtfachen Schulungsweges - so übt sich jemand, der diesem Weg folgt, in Nicht-Verletzen, ahiṃsā. Das ist die gemeinsame Maxime der Regulierung sozialen Verhaltens durch Übung. Nicht-Verletzen mit Geist, Sprache, Körper - manas, vāc, kāya. Wobei dieses soziale Verhalten inklusiv ist, also alle fühlenden Wesen mit einbezieht und nicht wie in den Monotheismen des syrisch-aramäischen Kulturraums lediglich auf die eigene Spezies als 'Krone der Schöpfung' ("macht euch die Welt untertan") bezogen ist.

    Aber kein Fleisch zu essen, weil es nicht notwendig ist, ist kein gutes Argument.

    Vor allem ein Argument, das nur ein untergeschobenes ist. Es ist nicht sinnvoll, Fleisch zu essen, weil man sich damit mitverantwortlich macht für den Schlachthausbetrieb, die endlose Masse von Verletzen und Töten von Tieren. Dass dem Verzicht auf fleischliche Nahrung keine gesundheitlichen Bedenken entgegen stehen (lediglich bei veganer Lebensweise sollte man ein Auge auf die essentiellen Aminosäuren haben) - dass es also nicht "notwendig" ist, Fleisch zu essen, ist lediglich ein Gegenargument zu der (auch schon von Prominenten gehörten) häufigen Ausrede, man könne aus gesundheitlichen Gründen nicht auf Fleisch verzichten. Das "ist kein gutes Argument".

    da fehlt es an Übung, weil es an Realitätssinn und umfassender Sicht fehlt.

    Ich denke, es ist nicht notwendig, Jetsunma Tenzin Palmo hier zu verteidigen, zumal ich ihren Realitätssinn und ihre umfassende Sicht nicht mit Deinen vergleichen kann. Ich denke, da geht mal wieder der Fahrkartenkontrolleur seinem Hobby nach.


    Ansonsten - ja, Leben heisst Leben nehmen; daran kommt man nicht vorbei. Letzlich geht es darum, den mittleren Weg zwischen den Idealen des Nicht-Verletzens des Selbst und des Nicht-Verletzens Anderer zu finden. Und gerade da ist dann die Frage der Notwendigkeit von Fleischkonsum eine Entscheidungshilfe. Diese Frage sollte man sich ehrlich beantworten und die Antwort ist relativ einfach, weil es nur zwei Alternativen gibt: entweder man isst Fleisch, um die eigene Gesundheit zu bewahren oder man isst Fleisch, weil es einem schmeckt. Wenn man es aus letzterem Grund tut, dann komme auch ich zu solch einer Einschätzung: "da fehlt es an Übung, weil es an Realitätssinn und umfassender Sicht fehlt."


    Ich finde es immer toll, wenn man in solchen Diskussionen um die armen Pflanzen und Bakterien barmt. Ja, die vier apramāṇa / brahmavihāra sind als Grundlage der oben umrissenen Ethik natürlich ebenfalls inklusiv, sie umfassen alles Sein. Das ist allerdings keine Begründung für ethische Beliebigkeit beim Gehen des mittleren Wegs zwischen den Idealen des Nicht-Verletzens des Selbst und des Nicht-Verletzens Anderer. Auch hier stellt sich eine wichtige Detailfrage: die nach der Schmerzempfindung.


    Zweifellos ist es schwierig, Schmerz von einer simplen Reaktion auf äußere Reize abzugrenzen. Der Evolutionsbiologe Michael Zimmerman definiert Schmerz als "eine aversive sensorische Erfahrung, die durch eine tatsächliche oder potenzielle Verletzung verursacht wird, die motorische und vegetative Schutzreaktionen auslöst, zu einer erlernten Vermeidung führt und das artspezifische Verhalten, einschließlich des Sozialverhaltens, verändern kann." Vorraussetzung für Schmerzempfindung ist ein Nervensystem, wobei nicht nur die meisten (wenn nicht alle) Wirbeltiere das Potential zur Schmerzempfindung haben, sondern auch etliche wirbellose. Anders gesagt: hinsichtlich des Leidens, das damit ausgelöst wird, sehe ich schon einen deutlichen Unterschied darin, ob ich Dich vergifte oder das Völkchen Helicobacter pylorii, das es sich in meinem Magen bequem gemacht hat. Und ich rede hier nicht von einem strafrechtlichen Unterschied ...

    Es ist besser, gar keinen Lehrer zu haben als einen, der einem Probleme nur schön redet. Zum Beispiel das Problem mit dem mitfühlenden Fressen anderer fühlender Wesen. Wobei das Gefressen-Werden ja nur das Ende ist. Davor stehen, insbesondere wenn man das vorrangig "preis-leistungstechnisch" sieht, so Dinge wie Qualzucht (die man anscheinend nur bei Haustieren bedenklich findet), Massentierhaltung und industrielle Schlachthöfe. Vom Raubbau an den Lebensgrundlagen nicht-domestizierter Wesen ganz zu schweigen ...


    Richtig ist, dass es schwierig ist, eingefahrene Verhaltensweisen zu ändern. Das gilt auch für Ernährungsgewohnheiten. Richtig ist auch, dass eine vegetarische Ernährungsweise keine Voraussetzung buddhistischer Praxis ist. Wo sie Teil der Praxis ist, hat man entsprechende Gelübde empfangen/gegeben. Meist im Rahmen einer Ordination und dann ist das auch keine Laienpraxis. Wobei auch ich ganz offen sage: wenn die Ernährung (auch, wenn man sie nicht erbettelt) nicht mit der Zeit zu einem Teil der persönlichen buddhistischen Lebenspraxis wird, ist es mit dieser wohl noch nicht allzu weit her.


    Mit "Verurteilen" hat das eigentlich nichts zu tun. Es hat etwas mit Verweisen auf Defizite zu tun, hier insbesondere mit einem Defizit in der Entwicklung von Mitgefühl. Auf solche Defizite zu verweisen, ist schließlich Aufgabe einer/s Dharmalehrer/in. Dass einem das nicht immer gefällt, was man da zu hören bekommt, ist völlig normal.


    Ich weiss nicht, was die Ehrw. Tenzin Palmo da in welchem Zusammenhang gesagt hat und ich werde es mir auch nicht anhören. Meine persönliche Empfehlung wäre, einfach an seinem Mitgefühl zu arbeiten - wozu auch gehört, sich über die Herkunft seiner Nahrung und die Bedingungen, unter denen sie produziert wird, zumindest im Klaren zu sein.