Überlegungen zum spirituellen Vorbild.
Es scheint doch, dass die Rolle des Vorbilds, des personifizierten Ideals, einen entscheidenden Stellenwert im spirituellen Bereich einnimmt. Sicher kann man sagen, dass eine Person wie Jesus für Gläubige im Rahmen ihres religiösen Empfindens ein ideales Sein personifiziert. Auch die Person Buddha inkludiert die Vorstellung von einem Menschen, der die höchste Verwirklichung erreicht hat.
Ich möchte in psychologischer Hinsicht über Verehrung und Bewunderung für ein spirituelles Vorbild nachdenken. Dabei geht es nicht darum, einer möglichen religiösen Sichtweise zu widersprechen oder psychologisch etwas wegerklären zu wollen. Ich würde im Gegenteil argumentieren, dass Verehrung, wie sie Milliarden Menschen praktizieren, auch im Sinne der Psychologie zu einer gesunden Psyche gehört.
Dabei scheint mir folgender Zusammenhang mit dem Kontext Sogyal und Guru-Verehrung. Der Fall Sogyal deutet auf einen deprimierenden Umstand hin. Soweit ich sehe, ist Sogyal ein ausgezeichneter Vortragender der Lehre, der tiefsinnig zur buddhistischen Ethik zu predigen vermag. Es scheint daher, als gäbe diese Fähigkeit keine Garantie dafür, dass sich ein solcher Lehrer im tatsächlichen Leben auch nur einigermaßen okay verhält. Womit ich natürlich überhaupt nicht unterstellen will, dass andere tibetische Lehrer genauso versagen würden.
Hinsichtlich eines spirituellen Vorbildes, das die Verehrung eines lebenden Menschen meint, ergibt sich somit die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen dem Wert dieser Idealisierung für die eigene Spiritualität und einer gewissen Objektivität gegenüber dem Meister. Eine psychologische Erklärung kann dabei hilfreich sein, meine ich.
Zu diesem Zweck möchte ich Freuds Modell der Psyche, von ES, Ich und Über-Ich in Erinnerung rufen. Dabei geht es mir nicht um Spekulation über Unbewusstes oder die fragwürdige Ansicht, man könne das Gute in den Über-Ich Bereich legen, wogegen alle Triebe und Instinkte einfach nur dunkel und böse wären. Doch trägt die Unterscheidung zum ES einmal dem Umstand Rechnung, dass Menschen gegenüber Trieben, Instinkten, primitiven Affekten mehr Autonomie besitzt, als dies für Tiere möglich ist.
Meine Überlegung gilt dem Über-Ich, seiner Funktion und Entwicklung. Einmal meint das Über-Ich Strukturen, die unser soziales Verhalten und Empfinden bestimmen und kontrollieren. Dieser Bereich hilft, damit Gemeinschaften ohne erhebliche äußere Zwänge funktionieren können. In Zusammenhang damit meint das Über-Ich die unwillkürliche Art, mit sich selbst umzugehen, betrifft das Selbstbild und die Werte, die einem Menschen aufgrund von Erziehung wichtig sind.
Besonders deutlich wird diese Funktion in problematischer Hinsicht, wenn Menschen einen Charakterzug quälender Strenge besitzen, der kein gutes Haar an sich selbst lässt, oder aber ganz im Gegenteil keinerlei Gewissen besitzen. Prinzipiell ist mit dem Über-Ich jedoch ein sehr notwendiger Bereich gemeint, dem man auch mit Wohlbefinden entsprechen können sollte. Der auch mal sagt: Das hast du gut gemacht! Bist ein sympathischer Typ! Oder so. Ein innerer Freund sozusagen.
Betrachten wir nun die Entwicklung des Über-Ichs: Allgemein geht man davon aus, dass Erziehung, Umfeld und Beruf Einfluss ausüben. In höchstem Maße scheinen jedoch frühe Bezugspersonen verantwortlich. Man kann daher als Metapher von inneren Bildern einer Mutter oder eines Vaters sprechen, welches später für die auf sich selbst bezogene innere Anerkennung oder aber Missachtung bedeutsam sind.
Besonders gilt natürlich, dass im reifen Menschen Einsicht hinzutreten soll. Also eine Einsicht, die autonome Richtlinien geben und den bloß anerzogenen Umgang mit sich selbst reflektieren soll.
Wie gesagt, geht es nicht darum, den spirituellen Bereich durch eine psychologische Erklärung verschwinden zu lassen. Der hilfreiche Aspekt, der sich aus dem Modell des Über-Ichs ergibt, scheint mir jedoch, dass es eine Vorstellung davon zulässt, welche Bedeutung der Bewunderung, Verehrung für einen Lehrer, Guru zukommen kann.
Sofern die vermittelte Lehre der Förderung von bewusst gesetzten persönlichen Werte gilt, von Einsicht - wie dies etwa der DL in seiner säkularen Ethik unterrichtet -, vermag das innere Bild eines verehrten Lehrers eine heilsame Wirkung für die eigene Persönlichkeit zu entfalten. Indem jenes Bild in Zusammenhang mit den inneren Werten immer neu entworfen und vor sich gehalten wird, vermag es ein geschicktes Mittel für den Umgang mit jenen anderen inneren Bildern früher Bezugspersonen darzustellen, die so wichtig für unser Selbstbild und den Umgang mit uns selbst sind, würde ich meinen. Denn das Bild des bewunderten Lehrers, wird es tief und stetig verinnerlicht, kann diese innere Welt ergänzen, kann destruktive Bilder korrigieren, kann zur inneren Versöhnung beitragen, so scheint mir.