Weil wir hier ja beim Pfad sind: hier das Theravada-Pfadmodell
Besonder wichtig erscheint mir ein klares Bild von den sog. Fesseln zu haben, weil man sich an diesen ja orientiert, was die Positionsbestimmung auf dem Pfad angeht. (Die Fesseln hatte ich oben mal fälschlicherweise als 'Hemnisse' bezeichnet oder als 'Hindernisse').
A. Beim Theravada haben wir folgende Fesseln (samyojana):
- Persönlichkeitsglaube (sakkāya-ditthi, siehe ditthi),
- Zweifelsucht (siehe vicikicchā),
- Hängen an Regeln und Riten (sīlabbata-parāmāsa; upādāna, 3),
- Sinnliches Begehren (siehe kāma-rāga),
- Groll (vyāpāda),
- Begehren nach Feinkörperlichkeit (rūpa-rāga),
- Begehren nach dem Unkörperlichen (arūpa-rāga),
- Dünkel (siehe māna),
- Aufgeregtheit (siehe uddhacca),
- Unwissenheit (siehe avijjā).
B. Beim Mahayana des mittleren Weges haben wir folgende Fesseln (gemäß Lamrim, Vasubandhu/Asanga):
1. Anhaftung
2. Abneigung
3. Stolz
4. Ignoranz
4.1 als getrübte Intelligenz
4.2 als disruptive Wahrnehmungs-Abweichung von der Realität
5. Zweifel
6. falsche Ansichten
6.1 Ansicht von 'ich, mir, mein', des Selbst der eigenen Person, im Kontext der vergänglichen Aggregate
6.2 extreme Ansicht, die das Selbst der eigenen Person entweder als permanent oder als komplett ausgelöscht durch den Tod ansieht
6.3 Ansicht, dass o.g. Ansichten rechte Ansicht sind
6.4 Ansicht, dass ethische Disziplin und/oder religöse Disziplin und Praktiken, welche bestimmte Rituale, Kleidungsvorschriften, Verhaltensweisen, Sprache, aber auch meditative Versenkungen beinhaltet, von Sünden oder den Fesseln oder dem Existenzkreislauf befreien würden
6.5 nihilistische Ansicht, dass es weder vergangene noch zukünftige Leben, noch Karma und seine Effekte gibt
Vergleicht man beide Auflistungen, so haben beide 10 Punkte (bei B werden 4.1 und 4.2 üblicherweise schlicht als ein Punkt 'Ignoranz' aufgeführt, so dass die Punkte 1-5 und die fünft Unterpunkte 6.1 bis 6.5 innsgesamt 10 Punkte ergeben) und es gibt folgende Entsprechungen:
A.1 entspricht B.6.1
A.2 entspricht B.5
A.3 entspricht B.6.4
A.4 entspricht B.1
A.5 entspricht B.2
A.6 entspricht B.6.4
A.7 entspricht B.6.4
A.8 entspricht B.3
A.9 hat keine Entsprechung
A.10 entspricht B.4, aber eigentlich können Unwissenheit bzw Ignoranz eigentlich auch als Sammelbegriff für alle Fesseln gelten.
Es überrascht ein wenig, dass A.9 Aufgeregtheit separat nennt, weil Aufgeregtheit doch eigentlich nur die Folge anderer Fesseln sein kann.
Würde man jeweils nur eine Fessel nennen, nämlich Unwissenheit bzw Ignoranz, wäre das zwar nicht falsch, es würde aber einer wirksamen Praxis und v.a. Orientierung auf dem Pfad der Boden entzogen werden, weil ja Fortschritte auf dem Pfad am besten am Fehlen der Manifestationen (also der Folgen) von Ignoranz zu erkennen sind und man am besten damit beginnt, die individuellen stärksten Fesseln/Manifestationen zu lösen, bevor man sich den individuellen schwächeren und individuellen schwachen zuwendet und dabei notwendigerweise mit den erworbenen Manifestationen, die sich auf konventionelle Objekte beziehen, beginnen muss.
Der wesentlichste Unterschied aber zwischen A und B ist, dass der Punkt B.4.2 also die Ignoranz als disruptive Wahrnehmungs-Abweichung von der Realität in A keine Entsprechung hat, weil der mittlere Weg im Theravada nicht in der Form gelehrt wird, in der er im Mahayana des mittleren Weges gelehrt wird.
Daraus könnte man nun folgern, dass mit der Beseitigung dieser disruptive Wahrnehmungs-Abweichung von der Realität alles erledigt sein müsste und man sich deshalb nicht mit der Unterscheidung der anderen Fesseln oder der Unterscheidung von starken und schwachen Fesseln befassen müsse. Das ist in gewissem Sinne zwar korrekt, aber auch von der disruptive Wahrnehmungs-Abweichung von der Realität gibt es erworbene und angeborene Aspekte und es gibt davon, wie von all den anderen Fesseln auch (außer der Abneigung) sogar unterschiedliche Formen im Begierdebereich und im formhaften und formlosen Bereich. Es ist also unmöglich die disruptive Wahrnehmungs-Abweichung von der Realität mit einem Schlag dauerhaft zu beseitigen und so ist es ratsam, sich am Auftreten oder Nicht-mehr-Auftreten jeder einzelnen Fessel zu orientieren.
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Soweit meine vorläufigen Überlegungen zu den Indikatoren für die Positionsbestimmung auf dem Pfad, welche bitte nicht als Belehrung zu verstehen sind. Ich halte diese hier deshalb in schriftlicher Form fest, weil ich es für mich privat sowieso schriftlich festhalte und ich aber vielleicht hier lesende Dharma-Freunde/Freunndinnen inspirieren kann und diese vielleicht mich wiederum durch ihren Kommentar inpirieren.