Beiträge von Mabli

    Liebende Güte ist kein Gefühl, sondern ein Zustand (so wie etwa Gleichmut). Und den kann man trainieren. Und damit wird das möglich, was Du weiter unten beschreibst: Sich den eigenen Gefühlen zu öffnen, sie zu untersuchen, und sie mit der Zeit zu überwinden, weil man die Ursachen überwindet (in der Regel Angst).

    Du meinst liebende Güte im Umgang mit sich selbst ist eine Voraussetzung für eine Anerkennung der eigenen schwierigen Gefühle und eine fruchtbare Auseinandersetzung mit ihnen? Das kann ich mir aus meiner Erfahrung heraus auch sehr gut vorstellen.


    Es ist ja auch durchaus nicht unwahrscheinlich, dass viele Menschen aggressive und zerstörerische Regungen ganz gut abgewehrt haben, so dass sie nicht wirklich bewusst erlebt werden oder in ihrem Bewusstsein in der hintersten Ecke irgendwo schlummern.


    Eine Frage, die mich brennend interessiert, ist es, wann es eher Sinn macht diese Regungen zu ignorieren. Nach dem Motto: Ein Samen, den man nicht wässert (dem man keine Aufmerksamkeit schenkt), wird auch nicht keimen und irgendwann vielleicht sogar ganz verschwinden. Und wann es Sinn macht die Abwehr gegen diese Regungen aufzulösen und sich bewusst mit ihnen auseinander zu setzen. Das sind ja zwei - wie ich meine - sehr verschiedene Umgangsweisen mit negativen Gefühlen.


    Ist das entscheidende Kriterium, ob die Gefühle eine verzerrte Wahrnehmung, also eine neurotische Konfliktbewältigung oder ein "gesunden" Ausdruck darstellen?


    Du meinst in der Regel liegt negativen Gefühlen Angst zugrunde? Und unter der Angst liegt da noch etwas?


    Weil ich habe jetzt auch schon öfter buddhistische oder charakteranalytische Erklärungen gehört oder gelesen, dass unter den negativen Gefühlen grundlegende liebevolle Regungen liegen. Das finde ich auch eine nachdenkenswerte Überlegung.

    Ich denke oft darüber nach wie man einen guten Umgang mit den eigenen Gefühlen finden kann. Als "Kopfmensch" fällt es mir persönlich eher schwer einen Zugang zu meinen eigenen Gefühlen zu finden. In der buddhistischen Lehre geht es nach meinem Verständnis auch um eine Überwindung von Anhaftung und starken Gefühlen wie Wut, Hass, Neid, Eifersucht, Verachtung oder Misstrauen. Das wird einerseits durch eine Beruhigung des Geistes und andererseits auch durch Einsicht in die Vergänglichkeit und Selbstlosigkeit aller Phänomene angestrebt.


    Ich bin da manchmal zwiegespalten, wenn es darum geht diese Gefühle "beiseite zu schieben" oder einfach durch positive Gefühle wie Mitgefühl und liebende Güte zu ersetzen, weil ich mich frage, ob das überhaupt funktionieren kann. Gerade wenn man keinen guten Zugang zu seinen Gefühlen hat und gefühlsmäßig eher eine "Leere" oder Abwehr vorherrscht, kommt mir dieser Schritt zur Überwindung der starken Gefühle vor wie der zweite Schritt vor dem ersten. Und die Leere und das nicht mit sich selbst in Kontakt sein wird mit einem Idealzustand von Gleichmut verwechselt.


    Tsoknyi Rinpoche spricht in Bezug auf schwierige Gefühle auch von "beautiful monsters", mit denen wir uns anfreunden können. Sie sind für ihn eine verhärtete und erstarrte Form oder Gewohnheit, die zu einer verzerrten (neurotischen?) Wahrnehmung der relativen Wahrheit führt. Eine offenes und nicht-urteilendes Gewahrsein dieser schönen Ungeheuer kann laut Tsoknyi Rinpoche dazu führen, dass diese sich von innen öffnen und transformieren.


    Dieses Spannungsfeld einer Einübung in eine Praxis und Haltung der liebevollen Güte ohne schwierige Gefühle beiseite zu schieben. Und eine Anerkennung von schwierigen Gefühlen in einem selbst ohne eine liebevolle und gütige Haltung aufzugeben. Das ist für mich die größte Schwierigkeit und Aufgabe glaube ich.

    Korrektur: Metzinger spricht full absorption episodes nur die letzten drei Eigenschaften aus der Aufzählung ab. Demnach ist fundamental unity ( grundlegende Einheit) nach Metzinger durchaus als zutreffende Eigenschaft der minimalen phänomenologischen Erfahrung in full absorption episodes anzusehen. Aber aufgrund der maximalen Einfachheit, sprich Inhaltslosigkeit, dürften dann auch keine Freude oder Glück erfahren werden. Hier nochmal der genau Wortlaut aus dem oben zitierten Text (S.14):

    Zitat

    Extrovertive mysticism exhibits four clusters of phenomenological features – fundamental unity, certainty about objective reference[...], paradoxicality, and bliss/beatitude/joy – the last three of which do not seem to correspond to the ineffable contentlessness of full-absorption episodes.

    Es wird ja aber häufig über die Erfahrung von Freude und Glück in meditativen Vertiefungen berichtet. Das bekommen ich noch nicht so ganz zusammen.

    In der Einleitung / Anleitung zum Fragebogen heißt es:


    Zitat

    Beim vorliegenden Fragebogen geht es um alle Erlebniszustände, in denen ein Gewahrsein des Gewahrseins selbst oder ein Bewusstsein des Bewusstseins selbst auftritt. Wir wollen also das subjektive Erleben der „Bewusstheit als solcher“ erfassen. Manchmal werden diese Zustände auch als „reines Gewahrsein“ oder „reines Bewusstsein“ bezeichnet.


    Es geht uns dabei nicht in erster Linie um mystische Erlebnisse oder dramatische spirituelle Gipfelerfahrungen, sondern vielmehr um alle Zustände, die durch eine Erlebnisqualität des„reinen Gewahrseins“ oder der „Bewusstheit selbst“ charakterisiert sind. Das bedeutet, dass in uns – unabhängig von dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein andererBewusstseinsinhalte – auch ein „Gewahrsein des Gewahrseins“ entstanden ist, dass also die Qualität der „Bewusstheit“ selbst noch einmal klar und deutlich erlebt wird

    Es geht also um eine Art selbstreflexiver Bewusstheit, aber eben gerade kein Selbstbewusstsein. Vielleicht könnte man auch von einer Wahrnehmung der "Natur des Geistes" sprechen?


    Weiter steht in der Einleitung, das solche Erfahrungen in verschiedenen Praktiken gemacht werden können, darunter:


    Als sechs notwendige Bedingungen einer Erfahrung des "reinen Bewusstseins" nennt Metzinger (Minimal phenomenal experience. Meditation, tonic alertness, and the phenomenology of“pure” consciousness, S.7):


    • Wakefulness (Wachheit)
    • low-complexity (Einfachheit)
    • self-luminosity (Eigen-Leuchtkraft)
    • introspective availibility (Zugänglichkeit durch Innenschau)
    • Epistemicity (Qualität von Vertrauen und Wissen ohne Subjekt / Objekt-Struktur)
    • transparency / opacity (Spektrum von Undurchsichtigkeit und Transparenz)

    Die notwendigen Kriterien verstehe ich zum Teil noch nicht so ganz, insbesondere Self-Luminosity und Epistemicity erscheinen mir erstmal eher rätselhaft. Auch Transparenz und Undurchsichtigkeit finde ich in dem Zusammenhang keine besonders intuitiv zugängliche Beschreibung.


    In Bezug auf die ersten beiden Kriterien, Wachheit und Einfachheit, macht Metzinger eine Typologie auf. Bei angenommener maximaler Wachheit könnte man Erfahrungen anhand unterschiedlicher Grade von Einfachheit unterscheiden (also maximale, hohe und keine Einfachheit der Erfahrung). Wobei er mit Einfachheit vor allem eine negative Definition meint. Die Abwesenheit von sinnlicher Wahrnehmung eines Objekts, von motorischer Aktivität, von zeitlicher Erfahrung, von symbolischen oder nicht-symbolischen Denkprozessen, von Selbstlokalisierung in Raum und Zeit und von der Erfahrung von absichtsvoller Handlung.


    Bei maximaler Einfachheit und maximaler Wachheit spricht Metzinger von Full-Absorption Episodes, die er explizit auch mit der jhana praxis in Verbindung bringt. Im Gegensatz zu mystischen Erfahrungen spricht er der Minimal Phenomenal Experience aufgrund ihrer Inhaltslosigkeit die Qualitäten "fundamental unity, certainty about objective reference, paradoxicality, and bliss/beatitude/joy" ab. Ich habe mich nun gefragt wie es verstanden werden kann, dass in der Erfahrung mit meditativer Klarheit und Ruhe in der z.B. in der jhana Praxis ja durchaus auch Erfahrung von Freude und Glückseligkeit in der Literatur erwähnt werden. z.B. hier


    Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.

    Den Fragebogen aus dem Forschungsprojekt (Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.)kann man auf der Seite des Projekts runterladen. Also ich täte mir da in der Beantwortung einiger Fragen schon eher schwer.

    Man kann um seine Erfahrung "reinen Bewusstseins" zu charakterisieren auf einem Kontinuum von 0 bis 100 angeben wie sehr bestimmte Charakteristika auf die Erfahrung zutreffen.Insgesamt ist der aber schon sehr ausgefeilt und durchdacht habe ich den Eindruck.

    Ich bin auf einen Vorlesung von Thomas Metzinger zu dem Thema "Minimal Phenomenal Experience" (MPE) gestoßen. Er stellt dort ein Forschungsprojekt vor, das darauf abzielt, ein minimales Modell bewusster Erfahrung zu entwickeln. Dazu untersucht er subjektive Erfahrungen in der Meditation, die als Erfahrungen eines "reinen Bewusstseins" charakterisiert werden. Er nimmt in seinem Vortrag Bezug auf verschiedene buddhistische Traditionen und neurowissenschaftlichen Forschungen zu den neuronalen Korrelaten von Bewusstseinszuständen.


    Der Vortrag ist sehr akademisch und wurde vor einem philosophischen Fachpublikum an der Universität Lund gehalten.


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    Ich frage mich, ob man mit einem solchen Fragebogen, wie Metzinger und seine Forschungsgruppe ihn entwickelt haben, wirklich einen guten methodischen Zugang zu der meditativen Erfahrung bekommt. Oder wären andere Zugänge denkbar?


    Die eher qualitativen Beschreibungen der Erfahrungen in dem Freitext finde ich sehr spannend. Metzinger räumt aber auch ein, dass die Beschreibungen sehr wahrscheinlich stark durch "theoretisches" Vorwissen, das die Teilnehmer durch Bücher oder Meditationslehrer erworben haben sowie durch Glaubensüberzeugungen geprägt und überformt sind. Gibt es vielleicht eine Möglichkeit diese Verzerrungen oder Kontaminierung der Erfahrungsbeschreibungen zu minimieren?


    Hier noch der Link zur Seite des Forschungsprojekts mit weiteren Ressourcen (Texte, Vorträge): https://www.philosophie.fb05.u…ereiche/theoretische/mpe/

    Ein mögliches Szenario, das mir noch einfällt, wäre zum Beispiel: Man meditiert über die negativen Gefühle gegenüber einer Person, die man ablehnt, nennen wir es eine Kontemplation über liebende Güte. Hier könnte eine VR-Simulation einer kritischen Situation mit dieser Person, bei der der Geist genau so affiziert wird als ob die Situation real wäre, man also wirklich eintaucht in die Simulation (Stichwort: Immersion), eine Art Stresstest für die Erkenntnisse aus der Meditation sein und bei dem Transfer in den Alltag helfen.

    Alles andere sind Ideen und Versprechungen, aber null konkretes. Und wenn man sieht, dass die Artikel 6 oder 7 Jahre alt sind, in dem Bereich eine Ewigkeit, dann liegt die Vermutung nahe, dass man einfach keine entsprechende Anwendung gefunden hat.

    Ja, das ist gut möglich. Da wird ja auch viel gehyped, was dann erstmal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück geholt werden muss. Ich habe mich am Rande auch mit den Möglichkeiten des pädagogischen Einsatzes von VR befasst. Ich hatte aber erst zweimal so eine Brille auf. Das eine Mal ist mir auch richtig schlecht geworden. Mein Körper fand VR anscheinend nicht so gut. Wahrscheinlich kann man das auch trainieren. Ich kann auch nicht mehr auf einer Schaukel sitzen, ohne das mir schlecht wird. Mein Gleichgewichtsorgan ist da sehr empfindlich.

    Hi, Mabli , ich hatte sehr viele Geräte davon selbst benutzt. Es gibt sehr gutes Buch zum Thema:

    Hi Igor,


    das Buch ist ja noch aus dem letzten Jahrhundert. Scheint so als sei das ein Vordenker der technischen Möglichkeiten von heute. :)


    Deine Literaturliste zu dem Thema erschlägt mich ein bißchen. Soweit ich sehe geht es in der Literatur aber auch nicht direkt um Virtual Reality, oder?

    Ich kam ja auf die VR-Geschichte, weil ich den Gedanken hatte, dass dies bei Visualisierungsübungen hilfreich sein könnte. Es gibt ja Meditationsformen, z.B. im Vajrayana-Buddhismus, die besonders stark auf die visuelle Vorstellungskraft aufbauen. Und ich hatte mich gefragt, ob man das mit einer VR-Brille simulieren könnte. Da stellt sich natürlich die Frage, ob nicht gerade die eigentätige Vorstellungskraft einen wesentlichen Teil der Praxis und ihrer "Wirkung" ausmacht. Die VR-Brille ist ja im Grunde so etwas wie eine Prothese der menschlichen Einbildungs-/Vorstellungskraft (Ich glaube McLuhan war das, der Medien mal als Prothesen der menschlichen Organe bezeichnet hat). Und wenn man dann von außen, von einer Maschine die Bilder geliefert bekommt fehlt vielleicht gerade das Entscheidende. Andererseits können diese Bilder eine starken Effekt auf den Geist haben. Ich bin da noch unschlüssig, was ich davon halten soll.

    Ich weiss nicht, ob ich mit einer VR-Brille meditieren möchte. Ich hatte mal einen Produkttest mit einem Biofeedback-Gerät. Für mich war das nichts. Ein Freund dagegen fand das hilfreich.

    https://www.ursachewirkung.com…ion-mit-technischer-hilfe

    Mich würde so ein Biofeedback auch eher irritieren glaube ich. Ich kenne das vom Joggen mit Pulsmesser. Ich bin dann so fixiert auf die gemessenen Pulswerte, dass ich beim Joggen fast überhaupt nicht in einen flow kommen kann. Beim Meditieren stelle ich mir das ähnlich anstrengend vor. Ich könnte mir vorstellen, dass das hilfreich sein kann, wenn bestimmte Probleme auftreten oder um zu überprüfen, ob sich über einen Zeitraum etwas verändert.

    Da diese Diskussion unter Fachleuten keinen einzigen Bezug zwischen VR-Anwendungen und buddhistischer Praxis aufzeigt, sondern im Allgemeinen bleibt, bin ich da skeptisch. Um darüber zu diskutieren, bräuchte man schon was spezifischeres als "hey, ich kann Dir zeigen, wie leicht sich Deine Wahrnehmung austricksen lässt."

    Es geht ja auch darum, dass man die virtuelle Realität nutzen könnte, um die Erfahrung von "Realität" und das Greifen nach deren inhärenter Existenz erfahrbar zu machen. Wobei die Präsenz der raumzeitlichen Realität und die Präsenz der virtuellen Realität natürlich grundverschieden sind. Das Gefühl der Immersion in die virtuelle Realität dieses Als-Ob Gefühl hat wohl ein gewisses Potential die eigene Erfahrung zu de-zentrieren.

    An anderer Stelle sagt Holecek VR habe das Potential den Geist zu erforschen oder zum Super-Samsara zu werden.

    Ich habe mich gefragt, ob Virtual Reality ein Potential birgt für buddhistische Praxis. Beispielsweise könnten Visualisierungsübungen oder angeleitete Meditationen mit einer VR-Brille unterstützt werden. Oder auch die Wissensvermittlung zur buddhistischen Tradition könnte sich ja potentiell dieses Mediums bedienen. Ich habe dazu recherchiert und bin auf diese Podiumsdiskussion gestoßen.


    Was denkt ihr dazu? Ist das eine Chance oder eher eine unnötige Spielerei?

    Das ist ein wichtiger Punkt! Und es sollten bei jedem die Alarmglocken schrillen, wenn das Wohl einer religiösen Institution, Gruppe oder eines Zentrums über die Unversehrtheit eines einzelnen Menschen gestellt wird.

    Ich glaube das ist nicht spezifisch für religiöse Organisationen. Das kann auch in Organisation XY passieren. Wenn dort ein Verdacht auf Missbrauch vorliegt und es keine externe oder unabhängige Stelle gibt, die sich damit befasst, dann steht die Geschäftsführung oder der Vorstand vor der Frage: Gehen wir dem Verdacht nach und klären das auf oder kehren wir das unter den Teppich. Ausschlaggebend dafür den zweiten Weg einzuschlagen können Erwägungen sein wie, "Wenn das an die Öffentlichkeit kommt, dann können wir den Laden hier dicht machen."

    Die zentrale Aussage ist für, dass die katholische Kirche offensichtlich einen Raum bietet, in dem Macht unkontrolliert ausgeübt werden kann. Bei sexuellem Missbrauch spielt meines Wissens der Aspekt der Ausübung von Macht über Andere eine zentrale Rolle. Solch ein Raum kann auch die Psychotherapie, die Fahrschule (siehe jüngste Sendung des ZDF Magazin Royale) oder die Familie sein.

    Naja, zumindest die Neurobiologie ist sich zum Thema Entscheidungsfreiheit relativ einig.

    In der menschlichen Hirnforschung ist das seit Jahren nicht mehr Stand der Wissenschaft. Hast Du eine aktuelle Quelle?

    Oben siehst du eine, wo ich auf Determinismus und Physikalismus verweise. Vielleicht schickst du auch deine.

    Mir fällt da vor allem die Kritik an dem Libet-Experiment ein. Falls du dich darauf beziehst, ist das tatsächlich eine wackelige Grundlage in meinen Augen. vgl. z.B. hier: "Was von Libet übrig blieb"


    Ich erinnere mich auch, dass diese Frage der Willensfreiheit in den 90er Jahren viel diskutiert wurde. Da boomte die Hirnforschung gerade, nachdem der Hype um das Klonschaf und die Entschlüsselung der DNA abgeebbt war. Die akademische Philosophie, jedenfalls soweit ich das mitbekommen habe, hat damals schon die hemdsärmeligen Hirnforscher kritisiert, die den freien Willen für erledigt erklärten. Dabei spielte sicher auch ein bißchen verletzte Standesehre mit rein, immerhin war es der Philosophie in mehr als 2000 Jahren nicht gelungen die Frage nach dem freien Willen befriedigend zu beantworten.

    Das Problem beim Dalai Lama ist in meinen Augen, dass er sich als politische Führungsfigur und religiöse Führungsfigur - beziehungsweise nach tibetisch-buddhistischem Glauben als Wiedergeburt eines Boddhisattvas - in einem massiven Rollenkonflikt befindet.

    Im Christentum findet sich die Zwei-Reiche beziehungsweise Zwei-Schwerter-Lehre, die zwischen weltlichem und religiösem Reich bzw. Handeln unterscheidet.

    Nun folgert Martin Luther, dass wenn jemand der Meinung wäre, man könne in der Welt ein Evangelium haben ohne »Recht oder Schwert«, weil es nur »getaufte Christen«
    gäbe, so würde man schnell eines Besseren belehrt werden. Denn man würde dadurch »den wilden Tieren die Bande und Ketten auflösen […]« und »so würden die Bösen unter dem
    christlichen Namen die evangelische Freiheit mißbrauchen […]« Will man, dass Christen keinem Recht noch Schwert untertan sind, so Luther, müßte man zuerst dafür sorgen, dass aller Welt »voll rechter Christen« wäre. Ein »christliches Regiment« in einem Land zu führen würde einem Hirten gleichen, der »[…] in einem Stall Wölfe, Löwen, Adler und Schafe […]« halten würde, die frei miteinander leben.

    Hier würden »[…] die Schafe wohl Frieden halten […] aber sie würden nicht lange leben […]« Aus dieser genannten Problematik gibt es für Luther keine andere Möglichkeit als die, dass »[…] man die beiden Regimente sorgfältig voneinander unterscheiden und beide bleiben lassen muß; eins, das fromm macht, das andere, das äußerlich Frieden schafft und bösen Werken wehrt. Keins reicht ohne das andere aus in der Welt.«

    Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass der Dalai Lama als politischer Führer eines Landes, das unter einer Fremdherrschaft steht, politische Entscheidungen treffen - oder zumindest mittragen muss - die in Konflikt zu seiner Rolle als religiösem Oberhaupt stehen. Wenn es darum geht politische Allianzen für die "Sache" Tibets zu schmieden ist wahrscheinlich einiges in Kauf genommen worden. Die Solidarität mit Tibet seitens politischer Akteure von Links und Rechts schwankten in der Geschichte ja auch im Zuge von Sympathie mit dem kommunistischem China, antiimperialistischen und antikommunistischen Bestrebungen in der Politik sowie dem Taktieren gegenüber China als Wirtschaftsmacht. Da muss man das Fähnchen als Dalai Lama wahrscheinlich schon mal in den Wind hängen.

    Traurig macht, dass ich überzeugter denn je bin, dass es eine große Lüge ist, wenn Institutionen von Aufarbeitung sprechen, weil es geschieht genau JETZT und wird immer geschehen, massiver als es je war, unabhängig von der geographischen Lage des Platzes.

    Ein möglicher Ansatzpunkt ist es ja die Möglichkeiten, dass Missbrauch passieren kann, möglichst gering zu halten und die Möglichkeit für Betroffene, wenn Missbrauch passiert ist, Hilfe und Unterstützung zu erhalten auszubauen. Dafür ist es in meinen Augen sinnvoll sich Fälle aus der Vergangenheit anzuschauen und aus dem, was dort schief gelaufen ist für die Zukunft zu lernen.

    In pädagogischen Einrichtungen wird zum Beispiel die Sensibilisierung der Mitarbeitenden in Bezug auf das Thema angestrebt, um auffälliges Verhalten erkennen und angemessen reagieren zu können. Außerdem wird in Einrichtungen ein Beschwerdemanagement als besonders wichtig angesehen. Das heißt, es muss eine unabhängige Stelle geben, die Beschwerden unvoreingenommen entgegen nimmt. Das sollte auch auf religiöse Gemeinschaften übertragbar sein.

    Was ist OKC ?

    OKC oder Ogyen Kunzang Choling ist eine Gruppierung aus Frankreich, in der in den 80er Jahren systematischer Missbrauch von Kindern statt gefunden hat. Die Gruppierung wurde in der ARTE Dokumentation behandelt. Vergleiche hier: Missbrauch und Buddhismus: Hinter der lächelnden Fassade


    Ich finde diese Anekdote deswegen problematisch, weil dahinter eine fatale Logik steht: Wenn jemand eine posttraumatische Belastungsstörung (oder andere psychische Probleme) entwickelt, ist an seiner Dharma-Praxis etwas nicht in Ordnung.


    Man kann die Aussage natürlich auch so verstehen, dass dies nur auf besonders fortgeschrittene Praktizierende zutrifft. Oder eben auf alle Tibeter. Diese Aussage finde ich aber auch in gewisser Weise problematisch. Sie begegnete mir auch in Vorträgen, wenn etwa davon die Rede war, dass Menschen aus dem Westen einen besonders entwickelten Verstand hätten, aber die Herzensbildung dafür bei ihnen zu kurz käme und sie den Kontakt zu den Gefühlen verloren hätten. Spiegelbildlich wird Menschen aus Tibet oder Nepal dagegen ein besonders entwickeltes Herz und Gefühlsleben zugesprochen, dafür ein unterentwickelter Verstand. Das sind natürlich erstmal Pauschalisierungen und Klischees, die womöglich auch koloniale Erzählungen reproduzieren.

    Im "Westen" gibt es die entsprechende Erzählung von der aufgeklärten - im gewissem Sinne durch das Licht der Aufklärung erleuchteten - Gesellschaft gegenüber dem primitiven und rückständigen "Osten". Solche Polarisierungen sind in meinen Augen eher schädlich und hinderlich.

    Es gibt eine Anekdote, dass der Dalai Lama auf einer Konferenz mit Wissenschaftlern zu dem Thema Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) berichtet hat, dass Tibeter darunter nicht so sehr leiden würden.


    Thubten Chodron Lamrim Teachings - Foundations of the Path:


    At one science conference with His Holiness, His Holiness was astonished to learn that many Westerners had low self-esteem. We also talked about post-traumatic stress syndrome (PTS). His Holiness said that most Tibetans don’t suffer much from this. Some of them may have a few problems, but not to the extent of other people in similar situations who had been subjugated to torture and imprisonment. The scientists were completely shocked by this. There was one guy there whose whole profession was dealing with PTS. He could not believe it when he heard these stories about how the Tibetans survived these horrible atrocities in prison—being beaten, having electric cattle rods put on the body. Some of them might have a few problems, but they were not complete basket cases. I think this really comes through the force of their Dharma practice. By knowing how to put all these horrible things in perspective, and by being able to generate a positive attitude in spite of what’s going on around you.

    Ich frage mich nun, ob diese Wahrnehmung, dass Menschen in Tibet nicht in der Form unter PTBS leiden, wirklich nur mit deren Dharma Praxis zu tun hat oder nicht auch möglicherweise mit einer mangelnden Sensibilisierung in Bezug auf die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung in der Gesellschaft?

    Auch wenn jetzt schon mehrfach der Wunsch geäußert wurde, der Thread möge doch geschlossen werden, da so langsam doch alles zu dem Thema gesagt sei, möchte ich auch meine Gedanken dazu formulieren.


    In dem Fall kommt so einiges zusammen. Es stößt ein universalistischer Anspruch, die Grenzen eines jeden Menschen im Allgemeinen - und die eines Kindes als einem kleinen Menschen mit noch nicht voll entwickelter Autonomie im Besonderen - seien zu respektieren und zu wahren, auf einen Kulturrelativismus, der die Empfindung von Grenzen und Grenzverletzungen als ein kulturell bedingtes Phänomen ansieht. Dieses produktive Spannungsfeld des Universalen und des Partikularen wird nie gänzlich aufzulösen sein.


    Daneben spielt der Buddhismus und hier insbesondere der tibetische Buddhismus und Tibet als fernes Land auf dem Hochplateau des Himalaya als eine Projektionsfläche für westliche Gesellschaften in der ganzen Debatte eine große Rolle. Einerseits wurde Tibet verklärt zu einem Paradies auf dem Dach der Welt und die Tibeter zu einem vergeistigten und ganz der Religion hingegeben Volk. So schreibt der Tibetologe Thurmann noch 1996 in "Weisheit und Mitgefühl: Das Herz der tibetischen Kultur":


    Zitat

    Die Darstellung der persönlichen Energie, der selbstlosen Hingabe und der totalen Erfüllung enthüllt und formuliert das Wesen des tibetischen Lebensgefühls... Aus diesem Grund hält die tibetische Kultur die Transzendente Weisheit als ihr höchstes und bedeutendstes Ideal hoch. Alle kulturellen Formen erstrahlen

    in ihrem Innersten durch den lebendigen Gedanken an die karmische Verwandtschaft und Verbundenheit mit allen lebenden Wesen. Mitgefühl ist überall spürbar - in dem offenen Lächeln der Tibeter, in dem vertrauten, freundlichen Blick, der auch auf Fremde fällt, in der Liebenswürdigkeit gegenüber Kindern, alten

    Leuten und Tieren, in der Freundlichkeit von Mönchen und Nonnen, Heiligen und Bettlern. Die lebendige Einheit von Weisheit und Mitgefühl zeigt sich in der bemerkenswerten tibetischen Neigung, sich mit der farbenfreudigsten und energetischsten Erdverbundenheit auf die allerüberweltlichsten Angelegenheiten zu konzentriegen.


    Andererseits wird ein negatives Bild auf Tibet projiziert, das auf eine Entzauberung des Mythos abzielt. Aus der Zerstörung des positiven Mythos entsteht jedoch ein negativer Mythos.


    Kollmar-Paulenz: Die Entzauberung Asiens: Tibet und die Mongolei in der abendländischen Imagination:

    Die tibetische Geistlichkeit unter ihrem "Anführer", dem Dalai Lama, wird als eine finstere Macht dargestellt, die sich die Erlangung der Weltherrschaft zum Ziel gesetzt hat. Dieser Vorwurf des Strebens nach Weltherrschaft greift auf einen weiteren Rezeptionsstrang des "mystischen Asien" zurück und ist. keineswegs neu: Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Buddhismus von NS-Ideologen als "Zerfallserscheinung nordischen Rassengeistes” angesehen. Ihnen zufolge bedrohe der "Lamaismus" zusammen mit den jüdischen Freimaurern und dem römischen Papsttum die Völker Europas. General Ludendorff verfasste zusammen mit seiner Frau 1941 ein diesen Thesen gewidmetes Werk mit dem bezeichnenden Titel "Europa den Asiatenpriesiern?" Der Topos des tibetischen Buddhismus als "Zerfallserscheinung" hat eine lange Geschichte. Das erste Mal taucht er in den Berichten der Kapuzinermönche aus Lhasa zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf, Sie betrachteten den tibetischen Buddhismus als ein Werk des Satans, da er dem Katholizismus, der "wahren . Religion", so täuschend ähnlich sei.


    Diese beiden Spannungsfelder, zwischen Partikularität und Universalität und zwischen den positiven und negativen Projektionen auf das orientalisch-fremde Tibet, sind meines Erachtens in der ganzen Debatte um das grenzverletzende oder - überschreitende Verhalten des Dalai Lama sehr virulent und präsent.

    Gonzi


    Ja, das Verhalten des Dalai Lama ist aus meiner Sicht unangemessen und sehr strange. Ich würde ihm meine Kinder nach dieser Begebenheit nicht anvertrauen.

    Es ging mir oben nur um eine Richtigstellung bezüglich der rechtlichen Einordnung, nicht um eine ethische Bewertung des Verhaltens.

    Kleinreden kann man es nicht, da es nach unserem Rechtsverstaendnis - das ich hier nur wiedergebe, ohne es zu werten -, so aussieht: „Durch den Kuss auf den Mund des Kindes Olaf … hat der Angeklagte sich ferner des schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § § 176,176 a Abs. 1 und 6 StGB schuldig gemacht." (https://dost-rechtsanwalt.de/d…-missbrauch-eines-kindes/)


    Mit anderen Worten, nach dt. Strafrecht wäre der DL in Schwierigkeiten. Die Empörung einer offensichtlichen Mehrheit reflektiert dies m. E.

    Wenn man den Text auf der Seite zu Ende liest, sieht man, dass es eine Revision des BGH zu dem Urteil gibt.


    Zitat

    Der Kuss in der Revision zum BGH

    Das Urteil ist nun (auch) insoweit mit der Revision zum BGH angegriffen worden. Nach hiesiger Auffassung ist ein kurzer flüchtiger Kuss nicht unter § 176 StGB zu subsumieren.

    Sudhana

    Mit Marcuse als intellektuellem Schwergewicht zum Thema Wellness-Buddhismus handelt man sich natürlich einige Annahmen ein, über die man sich im Klaren sein sollte. Marcuse wurde rezipiert als Kritiker der Konsumgesellschaft und der sexuellen Liberalisierung "von oben" (Stichwort: repressive Entsublimierung). Er diagnostizierte eine "Schrumpfung" des bürgerlichen Ichs.


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    Marcuse stellt sich das als eine gesellschaftliche Pathologie vor, die er mit dem Begriff repressive Entsublimierung erklärt.


    Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.


    Es ist jedoch fragliche inwieweit Marcuse sich bei seiner Analyse wirklich auf empirische Evidenz stützt.


    Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.


    Quelle der Zitate: Reimut Reiche: Haben frühe Störungen zugenommen? aus: Reimut Reiche: Treibschicksal der Gesellschaft

    Den Begriff Buddhismus light verbinde ich mit einer Unterscheidung von Alexander Berzin zwischen einem auf dieses Leben ausgerichtete Buddhismus und einem, der es mit dem Glauben an Wiedergeburt und Karma ernst meint.