Tod und Wiedergeburt aus tibetischer Sicht, Quellen und Dialog

  • Dieser Thread dient einem respektvollen und offenen Austausch zwischen dem tibetischen Buddhismus und anderen Sichtweisen, wie z.B. der Wissenschaft, nach dem Vorbild der "Mind and Life" Gespräche zwischen dem Dalai Lama und westlichen Wissenschaftlern. Beiträge die diesen Respekt und diese Offenheit vermissen lassen, werden nicht zugelassen, um die tibetische Sichtweise in einer gewissen Tiefe darstellen und diskutieren zu können.


    Wichtig: dies soll im Gegensatz zu einer der üblichen Diskussionen, die auf Meinungen usw. beruhen, mehr ein Pool von authentischen Texten und Erklärungen der jeweiligen Sichtweisen werden, aber in erster Linie zugespitzt auf die tibetischen Sichtweisen. Das soll auch helfen, Grundlagen für die Argumentation auf Basis von Belegen aus der Literatur zu sammeln. Am Ende könnte vielleicht ein gemeinsam komprimierter Artikel (oder mehrere) für das neue Lexikon dabei herauskommen, wo die tibetischen Sichtweisen z.B. zu Wiedergeburt, Karma usw. nachzulesen sind.


    Ich zitiere zu Beginn Francisco J. Varela aus "Traum, Schlaf und Tod" (Piper, 2001, S. 267 / 268)

    Zitat

    Die aussergewöhnlichen Darlegungen, die seine Heiligkeit zum Thema Tod gegeben hat, gestatten uns auch, ausführlicher auf das Thema des subtilen Bewusstseins einzugehen. ... Diese subtilen Bewusstseinsebenen sind per Definition prä-individuell - sie sind nicht personenbezogen. In westlichen Augen erscheinen sie deshalb als eine Form von Dualismus und werden vorschnell abgelehnt. Gleichwohl zeigt uns die Erfahrung auf dieser Konferenz, dass wie diese Lehren nicht leichtfertig behandeln dürfen ... Ebenso wichtig ist es zu bemerken, dass die subtilen Geistesebenen nicht theoretisch sind; vielmehr sind sie Schilderungen auf der Grundlage der tatsächlichen Erfahrung und verdienen die respektvolle Beachtung von jedem, der behauptet, sich auf empirische Fakten zu stützen. ... In einem gewissen Sinn eröffnen sich diese Phänomene nur denjenigen, die bereit sind, die Experimente selbst durchzuführen. ... In der herkömmlichen Wissenschaft bleiben solche Phänomene allerdings verborgen, da die meisten Wissenschaftler immer noch einer gewissenhaften Prüfung ihrer eigenen Erfahrung, sei es durch Meditation oder andere Methoden der Introspektion, aus dem Weg gehen. ... Zur Zeit ist der erkenntnistheoretische Graben zwischen moderner Wissenschaft und den buddhistischen Lehren allerdings noch tief. Nur Menschen, die auf beiden Wegen Zuhause sind, können die Brücken bauen, mit denen sich die Falle des Reduktionismus vermeiden lässt.

    (Hervorhebungen von mir)


    Es ist oft zu beobachten, dass Lehrer bestimmter Schulen / Richtungen in ihrem Sprachgebrauch ihre Sichtweise mit "dem Buddhismus" gleichsetzen. Dies kann verständlicherweise von anderen Praktizierenden als Vereinnahmung oder gar Anmaßung empfunden werden. In Zitaten lassen sich solche Formulierungen nicht immer ausklammern; oft bietet der Kontext auch alternative Formulierungen, die deutlich machen, dass der Vortragende das nicht so meint. Ich selbst verstehe ein "im Buddhismus" z.B. des Dalai Lama daher in der Bedeutung von "in vielen buddhistischen Philosophien" oder "in weiten Teilen des tibetischen Buddhismus" usw. Sollte so etwas in einem Zitat auftauchen, möchte ich ausdrücklich darauf verweisen, dass es in meiner Wahrnehmung wenige Aussagen gibt, auf die sich der gesamte Buddhismus einigen könnte. Es ist mein Bestreben, etwas zunächst mal innerhalb der Tradition schlüssig darzustellen, ohne deswegen behaupten zu wollen, sowas wie eine "universelle Wahrheit" zu postulieren.

  • ebenda, S. 208 / 209 Dalai Lama:

    Zitat

    Buddhisten stimmen zu, daß die groben Bewußtseinsebenen vom Körper abhängig sind, und daß sie nicht auftreten, wenn das Gehirn aufhört zu funktionieren. ... Wir sind uns also einig, daß das Bewußtsein in Abhängigkeit vom Gehirn entsteht. ... Was ist die Natur dieser kausalen Beziehung? Stellt die Gehirnfunktion eine substantielle Ursache für geistige Prozesse dar, oder liefert sie beitragende Bedingungen dafür? ... es [wäre] vernünftig zu vermuten, daß die Gehirnfunktion eine beitragende Bedingung für das Auftreten mentaler Prozesse darstellt. Doch was ist dann die substantielle

    Ursache der primären, unterscheidenden Qualität des Bewußtseins, nämlich von Klarheit und Erkennen? ... Im Vajrayana wird die substantielle Ursache, wie schon erwähnt, mit dem sehr subtilen, ursprünglichen Geist identifiziert. ... Was ist es, das die Verbindung zwischen dem Sehr Subtilen Geist und dem groben Körper oder dem groben Geist gewährleistet? An dieser Stelle sprechen wir von dem "sehr subtilen energieerhaltenden fünf-farbigen Licht". Damit wird nahegelegt, daß diese sehr subtile Energie ausgestattet ist mit dem Potential, letztlich die fünf Elemente hervorzubringen: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Aus dieser Energie entstehen zunächst die fünf inneren Elemente, und aus diesen dann die fünf äußeren Elemente.

    (Hervorhebungen von mir)

  • ebenda, S. 209 Dalai Lama:

    Zitat

    Es gibt eine Schnittstelle zwischen dem Karma der fühlenden Wesen und der natürlichen Umwelt. ... Wie entstehen heilsames und unheilsames Karma? Dies wird auf geistige Prozesse zurückgeführt, genauer gesagt, auf die eigene Motivation. Heilsame und unheilsame Motivationen sind von größter Bedeutung für die Bestimmung, ob eigene Handlungen, das eigene Karma, heilsam oder unheilsam sind. Sobald wir beginnen, uns für die Motivation zu interessieren, betreten wir den Bereich des Geistes. Und der Geist ist auf das engste mit der sehr subtilen Energie verbunden, der Energie der fünffachen Strahlung. ... Karma hätte demnach diese sehr subtile Energie als Träger, wie sie sich in den äußeren und inneren Elementen manifestieren. Darin besteht also eine zweiseitige Schnittstelle zwischen dem Geist und der physischen Umwelt.

    (Hervorhebungen von mir)

  • ebenda, S. 210 Dalai Lama:

    Zitat

    Es ist nicht der Fall, daß man zwei unterschiedliche Bewußtseinskontinua hat, eines sehr subtil und das andere grob. Vielmehr entstammt das grobe Bewußtsein dem Sehr Subtilen Geist; es erhält seine eigentliche Wirksamkeit aus dem Sehr Subtilen Geist. Es ist nicht etwas davon Verschiedenes.

    (Hervorhebungen von mir)

  • ebenda, S. 211 Dalai Lama:

    Zitat

    Ein Meditierender, der in seiner Praxis sehr weit fortgeschritten ist und über eine direkte Erfahrung des Sehr Subtilen Geistes verfügt, braucht keinen äußerlich wissenschaftlichen Beweis, um die Existenz des Sehr Subtilen Geistes zu bestätigen. Ohne diese Erfahrung jedoch kann die Existenz des sehr subtilen Geistes nicht bewiesen werden. ... Es handelt sich dabei um eine bestimmte Stufe auf dem spirituellen Pfad. Sobald man einmal diese Stufe erlangt hat, gibt es keinen Rückschritt mehr auf dem Pfad, und man geht nur noch voran. Dann erhebt sich die Frage: Wie können wir feststellen, ob eine Person diese Zeichen besitzt? Es gibt einander widersprechende Positionen dazu, ob diese Unumkehrbarkeit überhaupt endgültig entschieden werden kann. Selbst diejenigen, die behaupten, daß es bewiesen werden könne, geben zu, daß es sich dabei nicht um eine Schlußfolgerung, sondern um einen Beweis durch Analogie handelt.

    (Hervorhebungen von mir)

  • kilaya

    Hat den Titel des Themas von „Tod und Buddhismus im Dialog mit der Wissenschaft“ zu „Tod und Wiedergeburt aus tibetischer Sicht, Quellen und Dialog“ geändert.
  • ebenda, S. 151 / 152 Dalai Lama:

    Zitat

    Es scheint ziemlich klar zu sein, daß das Bewußtsein vom Funktionieren des Gehirns abhängt. Also gibt es eine kausale Beziehung zwischen der Gehirnfunktion und dem Entstehen eines groben Bewußtseins. Aber die Frage, die ich weiterhin stelle, ist: Welche Art von kausaler Verbindung ist es? Im Buddhismus unterscheiden wir zwei Typen von Ursachen. Die erste ist eine substantielle Ursache, bei der sich der Stoff der Ursache tatsächlich in den Stoff der Wirkung umwandelt. Die zweite ist eine beitragende Bedingung, nach der ein Ereignis infolge eines vorangegangenen Ereignisses stattfindet, wobei es aber keine Umwandlung des früheren in das spätere gibt.

    Die "beitragende Bedingung" würde ich vergleichen mit der sog. "strukturellen Kopplung" in der Systemik.


    weiter:

    Zitat

    Wir kennen drei Kriterien dafür, daß es eine kausale Beziehung zwischen, sagen wir A und B gibt. Zunächst muß A vorhanden sein, damit B auftritt. Dadurch wird die Vorstellung ausgeschlossen, daß durch etwas Nicht-Existierendes irgendetwas bewirkt werden könnte. ...

    Das zweite Kriterium wirkt der Vorstellung einer permanenten, unveränderlichen Ursache entgegen. Es lautet: Wenn A die Ursache von B sein soll, muß A selbst der Veränderung unterworfen sein; es muß unbeständig sein. Dann entsteht aus A seinerseits B, das ebenfalls unbeständig ist. ...

    Darüber hinaus muß die Ursache selbst auch die Wirkung von etwas anderem sein. Es gibt keine erste Ursache ohne eine vorangehende Ursache.

    Das dritte Kriterium besteht darin, daß, wenn es einen kausalen Zusammenhang zwischen A und B gibt, es eine gewisse Übereinstimmung zwischen der Ursache und ihrer Folge geben muß.


    weiter:

    Zitat

    Unserer Erfahrung nach kennen wir zwei Arten von Phänomenen, körperliche und geistige, die qualitativ verschieden zu sein scheinen. Physische Phänomene scheinen im Raum lokalisiert und neben anderen Eigenschaften, durch quantitative Meßbarkeit ausgezeichnet zu sein. Im Gegensatz dazu haben geistige Phänomene offenbar weder eine Position im Raum, noch können sie quantitativ gemessen werden, da sie ihrer Natur nach einfache Erfahrungen sind. Es scheint, als hätten wir es mit zwei sehr verschiedenen Arten von Phänomenen zu tun. Wenn in einem solchen Fall ein physisches Phänomen als substantielle Ursache für ein geistiges Phänomen herhalten sollte, so würde es zwischen den beiden scheinbar einen gewissen Mangel an Übereinstimmung geben. Wie könnte sich eins ins andere umwandeln, wenn sie qualitativ so unterschiedlich scheinen?

  • ebenda, S. 155 Dalai Lama:

    Zitat

    Die Sutrayana-Sicht geht allgemein davon aus, daß es ein Kontinuum des Bewußtseins geben muß: Bewußtsein erzeugt Bewußtsein. Es muß eine Übereinstimmung zwischen Ursache und Wirkung geben, wenn sich eins ins andere umwandeln soll, und aus diesem Grund muß es ein vorangehendes Bewußtseinskontinuum geben, das der Anstoß für den ersten Bewußtseinsmoment nach der Empfängnis ist. ... Zusätzlich zum vorangehenden Bewußtseinskontinuum, das die substantielle Ursache für das spätere Bewußtsein ist, können sich auch latente Neigungen in Bewußtsein verwandeln; es gibt also zwei Arten substantieller Ursachen für die Entstehung des Bewußtseins.


    Zitat

    Im Kontext des Vajrayana findet man eine genauere Diskussion dazu unter dem Begriff des Sehr Subtilen Geistes, der auch Ursprüngliches Bewußtsein oder Ursprüngliches Klares Licht genannt wird. Dieser wird als substantielle Ursache aller Formen von Bewußtsein bezeichnet.

    (Hervorhebungen von mir)

  • Sehr interessantes Thema, finde ich. Danke dafür. :)


    Allerdings werde ich hier nicht viel beitragen können, nur versuchen zu verstehen und ggf. Fragen stellen, wie etwas gemeint ist...


    Z.B.: # 4 und # 2 widersprechen sich etwas, meinst du nicht?

    Im erwachten Herzen leuchtet jede Farbe. (Jack Kornfield)

  • ebenda, S. 210 Dalai Lama:

    Zitat

    Es ist nicht der Fall, daß man zwei unterschiedliche Bewußtseinskontinua hat, eines sehr subtil und das andere grob. Vielmehr entstammt das grobe Bewußtsein dem Sehr Subtilen Geist; es erhält seine eigentliche Wirksamkeit aus dem Sehr Subtilen Geist. Es ist nicht etwas davon Verschiedenes.

    (Hervorhebungen von mir)

    ich hab jetzt mal etwas anderes hervorgehoben...

    Im erwachten Herzen leuchtet jede Farbe. (Jack Kornfield)

  • Bitte sag konkret, was Du mit "4" und "2" meinst, sonst kann ich keinen Bezug herstellen. Im Buch werden scheinbare Widersprüche oft erstmal als offene Frage behalten um dann später aufgelöst zu werden. Dazu kommt, dass es ja auch nicht die eine tibetische Sichtweise gibt. Da kann es sein, dass eine Aussage sich auf die Sutraebene bezieht, eine auf Vajrayana und eine auf Dzogchen. Das wird im Buch meist neben einander dargestellt, auch wenn es sich widerspricht, die Systeme sind immer in sich schlüssig, aber nicht unbedingt mit einander kompatibel.

  • ebenda, S. 210 Dalai Lama:

    Zitat

    Es ist nicht der Fall, daß man zwei unterschiedliche Bewußtseinskontinua hat, eines sehr subtil und das andere grob. Vielmehr entstammt das grobe Bewußtsein dem Sehr Subtilen Geist; es erhält seine eigentliche Wirksamkeit aus dem Sehr Subtilen Geist. Es ist nicht etwas davon Verschiedenes.

    (Hervorhebungen von mir)

    ich hab jetzt mal etwas anderes hervorgehoben...

    Damit wird ja - so wie ich das verstehe - im Grunde hervorgehoben, dass zwar das grobe Bewusstsein an ein Gehirn usw. gebunden ist, aber nicht davon hergestellt wird bzw. nicht daraus hervorgeht. Die eigentliche Grundlage des groben Bewusstseins ist das sehr subtile Bewusstsein. Also nicht das Bewusstsein ist generell abhängig vom Gehirn, sondern umgekehrt. Was sich mithilfe von Gehirn und Sinnen in der Welt ausdrückt, basiert auf dem subtilen Bewusstsein. Damit ist der Gedanke auch nachvollziehbar, dass wenn sich Gehirn und Sinne auflösen und das grobe Bewusstsein mit ihnen, das subtile Bewusstsein fortbestehen kann. Seinerseits als Gefüge von Bedingungen und nicht etwa als etwas, das aus sich selbst heraus existieren würde.

  • ebenda, S. 158 Dalai Lama:

    Zitat

    Solange es den groben Körper und Geist gibt, wird das grobe Ich auf der Basis des groben Körpers und Geistes sowie ihres Verhaltens bestimmt. Deshalb kann man zu dieser Zeit kein subtiles Ich identifizieren. Mit dem Zusammenbruch des groben Körpers und Geistes aber an dem Punkt des Klaren Lichtes des Todes ist der grobe Geist völlig verschwunden, und alles was bleibt, ist das Kontinuum des Sehr Subtilen Energie-Geistes. Zur Zeit des Klaren Lichtes des Todes gibt es nur noch den Sehr Subtilen Energie-Geist, auf dessen Grundlage man die Sehr Subtile Person oder das "Ich" zuschreiben kann. Es gibt in diesem Stadium keinerlei grobes Ich mehr, weshalb die beiden - das grobe Ich und das subtile Ich - nicht gleichzeitig manifest sein können.

  • Zu dem ersten Zitat von Varela das Stück worauf ich mich beziehe:


    "Diese subtilen Bewusstseinsebenen sind per Definition prä-individuell - sie sind nicht personenbezogen. In westlichen Augen erscheinen sie deshalb als eine Form von Dualismus und werden vorschnell abgelehnt. "


    Das verstehe ich eben so, dass es sich auf Leerheit bezieht. Dass man zunächst die nicht-Existenz eines inhärent existierenden Selbst und der Objekte verstehen muss, wenn man die tibetischen Bardo-Belehrungen versucht zu verstehen. Die Bardo Belehrungen sind nicht wirklich zu verstehen, wenn man selbst im konzeptuellen Denken ist, das heißt sich als ein denkendes Subjekt erlebt.

    Denn dann glaubt man es permanent mit der Behauptung zu tun zu haben, dass äußerliche, an-sich-existierende Wesen dem Menschen nach dem Tod erscheinen usw. Es wird dann eben alles total naiv verstanden in dem Sinne, dass man Yidams sehen würde so wie Christen sich vorstellen, dass der Erzengel Michael einem an der Himmelspforte guten Tag sagen würde usw...

    Bei Dzogchen-Ponlop Rinpoche enthalten die Bardo-Belehrungen permanent Erläuterungen zur Ebene des nicht-dualen Bewusstseins. Ich denke mal, dass stammt so von Padmasambhava, aber ich weiß es nicht da ich das originale Totenbuch nicht gelesen habe.

    Jedenfalls: Die Basis ist das Verstehen von Shunyata und das könnte für Praktizierende anderer buddhistischer Schulen ein Ansatz sein, sich den Bardo-Belehrungen anzunähern. Oder auch für Wissenschaftler.


    Naiv ist, zu denken, dass der Baum auf den ich schaue, dort wirklich vorhanden ist. Aufgrund der Tatsache, dass im tibetischen Buddhismus, das Instrument des Erkennens, der Geist, zunächst untersucht wird, bevor "Erkennen" angewendet wird, kann kein Inhalt des tibetischen Buddhismus als "naiv" bezeichnet werden im Unterschied zur "nicht-naiven" Wissenschaft.

  • Bitte sag konkret, was Du mit "4" und "2" meinst, sonst kann ich keinen Bezug herstellen. Im Buch werden scheinbare Widersprüche oft erstmal als offene Frage behalten um dann später aufgelöst zu werden. Dazu kommt, dass es ja auch nicht die eine tibetische Sichtweise gibt. Da kann es sein, dass eine Aussage sich auf die Sutraebene bezieht, eine auf Vajrayana und eine auf Dzogchen. Das wird im Buch meist neben einander dargestellt, auch wenn es sich widerspricht, die Systeme sind immer in sich schlüssig, aber nicht unbedingt mit einander kompatibel.

    Ich hab das Buch selbst nicht da. Mit # 4 und # 2 beziehe ich mich auf die Beitragsnummern in diesem Thread. Mit meiner anderen Hervorhebung des Zitats aus # 4 scheint für mich die Irritation meinerseits aufgelöst, da ich wohl an einer unglücklichen Formulierung (ggf. aus der Übersetzung resultierend) hängen geblieben bin. Man hat also sehr wohl zwei unterschiedliche Bewusstseinskontinua (wie auch in # 2 beschrieben), wobei jedoch das grobe Bewusstsein nicht ohne das subtile (# 4) und nicht ohne den Körper (# 2) existiert, demzufolge auch nicht mit dem subtilen identisch ist, somit also "verschieden". :)

    Im erwachten Herzen leuchtet jede Farbe. (Jack Kornfield)

    Einmal editiert, zuletzt von Carneol ()

  • ebenda, S. 208 / 209 Dalai Lama:

    Zitat

    Buddhisten stimmen zu, daß die groben Bewußtseinsebenen vom Körper abhängig sind, und daß sie nicht auftreten, wenn das Gehirn aufhört zu funktionieren. ... Wir sind uns also einig, daß das Bewußtsein in Abhängigkeit vom Gehirn entsteht. ... Was ist die Natur dieser kausalen Beziehung? Stellt die Gehirnfunktion eine substantielle Ursache für geistige Prozesse dar, oder liefert sie beitragende Bedingungen dafür? ... es [wäre] vernünftig zu vermuten, daß die Gehirnfunktion eine beitragende Bedingung für das Auftreten mentaler Prozesse darstellt. Doch was ist dann die substantielle

    Ursache der primären, unterscheidenden Qualität des Bewußtseins, nämlich von Klarheit und Erkennen? ... Im Vajrayana wird die substantielle Ursache, wie schon erwähnt, mit dem sehr subtilen, ursprünglichen Geist identifiziert. ... Was ist es, das die Verbindung zwischen dem Sehr Subtilen Geist und dem groben Körper oder dem groben Geist gewährleistet? An dieser Stelle sprechen wir von dem "sehr subtilen energieerhaltenden fünf-farbigen Licht". Damit wird nahegelegt, daß diese sehr subtile Energie ausgestattet ist mit dem Potential, letztlich die fünf Elemente hervorzubringen: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Aus dieser Energie entstehen zunächst die fünf inneren Elemente, und aus diesen dann die fünf äußeren Elemente.

    (Hervorhebungen von mir)

    Ich empfinde es als einen Unterschied, ob ich zu einem Buddhisten sprechen würde, um zu versuchen die Sichtweise des tibetisches Buddhismus zu erklären, oder ob ich zu einem Wissenschafts-affinen Menschen sprechen würde der Atheist ist. Denn ich denke, ich kann zu jedem Buddhisten sagen, dass das Gehirn ein gedachtes Objekt ist und damit nicht im naiven Sinne existent ist. Damit hätte ich dann die Vorstellung schon weg, dass das Gehirn Gedanken absondere wie die Leber Galle usw. Denn nicht das Gehirn produziert Gedanken, sondern der Geist produziert das Denk-Objekt: Gehirn.


    Ist der Mensch Atheist und geht von der realen Existenz inhärenter Objekte aus, müsste man ja erst mal beweisen dass das nicht stimmt und diese Ansicht naiv und sozusagen unwissenschaftlich ist.


    Setz ich grad völlig anders an, als das Zitat ansetzt?

  • @kilaya : hab ich was übersehen oder wir den Zitaten: Subtiles Bewusstsein oder sehr subtiler Geist irgendwo definiert? Ich hab das Gefühl an der Stelle muss man Leerheit erklären, oder wie würdest du da erklären was das überhaupt sein soll?

    Sonst kann es nämlich gleich wieder als ein irgendwie feinstoffliches Zeug vorgestellt werden... und dann wird es gleich als Phantasiegebilde bezeichnet, was wir angeblich hätten. Hokuspokus und so....

  • ebenda, S. 210 Dalai Lama:

    Zitat

    Es ist nicht der Fall, daß man zwei unterschiedliche Bewußtseinskontinua hat, eines sehr subtil und das andere grob. Vielmehr entstammt das grobe Bewußtsein dem Sehr Subtilen Geist; es erhält seine eigentliche Wirksamkeit aus dem Sehr Subtilen Geist. Es ist nicht etwas davon Verschiedenes.

    (Hervorhebungen von mir)

    ich hab jetzt mal etwas anderes hervorgehoben...

    ich hab jetzt mal etwas anderes hervorgehoben...

    Damit wird ja - so wie ich das verstehe - im Grunde hervorgehoben, dass zwar das grobe Bewusstsein an ein Gehirn usw. gebunden ist, aber nicht davon hergestellt wird bzw. nicht daraus hervorgeht. Die eigentliche Grundlage des groben Bewusstseins ist das sehr subtile Bewusstsein. Also nicht das Bewusstsein ist generell abhängig vom Gehirn, sondern umgekehrt. Was sich mithilfe von Gehirn und Sinnen in der Welt ausdrückt, basiert auf dem subtilen Bewusstsein. Damit ist der Gedanke auch nachvollziehbar, dass wenn sich Gehirn und Sinne auflösen und das grobe Bewusstsein mit ihnen, das subtile Bewusstsein fortbestehen kann. Seinerseits als Gefüge von Bedingungen und nicht etwa als etwas, das aus sich selbst heraus existieren würde.

    Vielleicht muss man hier nochmal unterscheiden zwischen dem subtilen Bewusstsein (-s-strom?) und dem Sehr Subtilen Geist?

    Vgl. # 7:

    Zitat

    Zitat

    Im Kontext des Vajrayana findet man eine genauere Diskussion dazu unter dem Begriff des Sehr Subtilen Geistes, der auch Ursprüngliches Bewußtsein oder Ursprüngliches Klares Licht genannt wird. Dieser wird als substantielle Ursache aller Formen von Bewußtsein bezeichnet.

    Im erwachten Herzen leuchtet jede Farbe. (Jack Kornfield)

  • Ich hoffe ja, dass noch Zitate aus anderen authentischen Quellen dazu kommen, die offene Fragen klären. Ich kann schlecht das halbe Buch zitieren. Aber die Aussagen an sich sind ja in den tibetischen Texten überall in gleicher Bedeutung zu finden.

  • Turmalin:

    hab ich was übersehen oder wir den Zitaten: Subtiles Bewusstsein oder sehr subtiler Geist irgendwo definiert? Ich hab das Gefühl an der Stelle muss man Leerheit erklären, oder wie würdest du da erklären was das überhaupt sein soll?

    Sonst kann es nämlich gleich wieder als ein irgendwie feinstoffliches Zeug vorgestellt werden... und dann wird es gleich als Phantasiegebilde bezeichnet, was wir angeblich hätten. Hokuspokus und so....


    Wichtig erscheint mir dazu auch, was auch in einer Analogie mit der Trikaya-Lehre beschrieben wird; dann könnte man sagen:

    sehr subtil = Dharmakaya

    subtil = Sambhogakaya

    grob = Nirmanakaya


    So wie auch die drei Kayas alle von der gleichen Natur sind, sind auch die sehr subtilen, subtilen oder groben Bewusstseinsebenen alle von der gleichen Natur. Und diese Natur ist grundsätzlich mit dem Attribut "Leerheit" zu versehen.


    Das "grobe Ich" und das "subtile Ich" können - so der Dalai Lama - nicht gleichzeitig auftreten. Daraus würde ich schlussfolgern, dass man mit dem groben Bewusstsein das subtile Bewusstsein nicht erfassen kann. Man kann also das subtile Bewusstsein nicht mit den Mitteln erfahren, die auf der materiellen Welt basieren. Deswegen kann man es erfahren, aber nicht beweisen.

  • Ich denke man kann mit Hilfe von Leerheits-Erklärungen, klassischen, zumindest beweisen, dass es sich bei den tibetischen Bardo-Belehrungen keinesfalls um naive Vorstellungen handelt. Ich weiß aber nicht ob das richtig ist es zu tun. Leerheit sozusagen als Verteidigung gegen den Naivitäts-Vorwurf. Da müsste ich einen Lehrer anschreiben.

    Denn es könnte passieren, dass man zu Menschen über Leerheit spricht, die es nicht wissen wollen.


    Stichwort die Vajrayana-Samayas....

  • Alle Ebenen des Bewusstseins sind letztlich in gleicher Weise leer. Was da auf eine Ebene zutrifft, trifft auch auf die anderen Ebenen zu. Das wird ja auch damit ausgedrückt dass sie "von der gleichen Natur" seien. Ich denke man muss nur immer gleich mit dazu betonen, dass "Leer" nicht "Nichts" bedeutet, sondern "leer von etwas bestimmtem" - nämlich "leer von einem aus sich selbst heraus existierenden Kern" usw.

  • Dalai Lama, "Einführung in den Buddhismus. Die Harvard Vorlesungen" (Herder, 2000, S.88)

    Zitat

    Von den drei Erkenntnisgegenständen sind die manifesten Objekte jene, die unabhängig von jeder logischen Argumentation mit unmittelbarer Wahrnehmung erkannt werden. Die leicht verborgenen Objekte sind solche, die mit Schlußfolgerungen durch die Kraft der Tatsachen erkannt werden, das heißt durch gewöhnliche logische Argumente. Die äußerst verborgenen Objekte aber können nicht mit Hilfe einer gewöhnlichen Beweisführung erkannt werden, sondern nur durch einen Prozeß, der mit einbezieht, daß man sich auf die Worte anderer stützt. ...


    [In bezug auf die Lehre bedeutet dies:] Um einen Sachverhalt zu erkennen, der für uns äußerst verborgen ist, weil er weder der unmittelbaren Wahrnehmung noch der gewöhnlichen logischen Beweisführung zugänglich ist, müssen wir uns auf schriftliche Quellen stützen. Doch es reicht nicht aus, die Schriften hochzuschätzen. Vielmehr muß die Gültigkeit der schriftlichen Quelle selbst zuerst durch eine umfassende Analyse nachgewiesen werden.


    S. 89/90

    Zitat

    Jemand, der an den Lehren des Buddha über die nicht offensichtlichen, verborgenen Themen zweifelt, sollte seine Lehren über die Leerheit betrachten [die der direkten logischen Untersuchung mit Hilfe von Schlußfolgerungen durch die Kraft der Tatsachen zugänglich sind] und dadurch zu der Überzeugung kommen, daß auch die Lehren über die anderen Themen, die solchen Schlußfolgerungen nicht zugänglich sind, untrügerisch sind. Durch diese Art der Untersuchung kann die Gültigkeit solcher Aussagen in den Schriften nachgewiesen werden, die äußerst verborgene Sachverhalte behandeln. Eine solche analytische Erkenntnis wird "Schlußfolgerung aufgrund der Glaubwürdigkeit" genannt. Es geht also nicht darum, eine Aussage in den Schriften ungeprüft anzunehmen. Im Gegenteil, man muß sie mit logischem Denken untersuchen.

  • S. 91

    Zitat

    Frage: Sind die buddhistischen Lehren über den Zwischenzustand zwischen zwei Leben und über die Wiedergeburt wörtlich oder metaphorisch zu verstehen?


    Antwort [des Dalai Lama]: Sie werden wörtlich genommen.

  • Weiter "Einführung in den Buddhismus": (S. 101)

    Zitat

    Somit werden drei Ebenen des Bewußtseins voneinander unterschieden: die grobe Ebene, die vom Sinnesbewußtsein gebildet wird; die subtile Ebene, auf der die achtzig begrifflichen Denkstrukturen operieren; und die äußerst subtile Ebene, die in den vier Ebenen der Leere besteht. Unter diesen bildet der Geist des Klaren Lichtes die allersubtilste Bewußtseinsebene.

  • Ich denke man muss nur immer gleich mit dazu betonen, dass "Leer" nicht "Nichts" bedeutet, sondern "leer von etwas bestimmtem" - nämlich "leer von einem aus sich selbst heraus existierenden Kern" usw.

    Denke ich auch so. Ich frage trotzdem nach.