Ich habe noch mal darüber nachgedacht und komme für mich, wenn ich jetzt mal Theravada und den tibetischen Buddhismus vergleiche, zu folgendem Schluss - nicht nur bezogen auf die Wiedergeburt - sondern allgemeiner.
Wäre es richtig, wenn jetzt mal Theravada und den tibetischen Buddhismus vergleiche, folgendes anzunehmen:
Theravada bleibt in seiner Essenz der Lehre des Buddha treu, da es die ursprünglichen Schriften des Pali-Kanons als maßgeblich ansieht. Allerdings gibt es im Laufe der Zeit Interpretationen und Ergänzungen, die vor allem als kulturelle und kontextuelle Anpassungen oder als vertiefte Auslegungen der ursprünglichen Lehren betrachtet werden. Diese „Hinzufügungen“ betreffen hauptsächlich die Praxis und die Vermittlung der Lehren, nicht jedoch die grundlegenden Prinzipien des Buddhismus. So bleibt der Theravada-Buddhismus eine lebendige Tradition, die sowohl mit der Vergangenheit verwurzelt ist als auch in der Lage ist, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen.
Der tibetische Buddhismus entstand erst Jahrhunderte nach dem Tod des Buddha und wurde im 7. Jahrhundert n. Chr. nach Tibet gebracht. Er integrierte viele Elemente des indischen Buddhismus, aber auch vor-buddhistische tibetische Praktiken und Vorstellungen. Der tibetische Buddhismus umfasst vier Hauptschulen: Nyingma, Kagyu, Sakya und Gelug. Jede dieser Schulen hat ihren eigenen Ansatz und ihre eigene Interpretation der Lehren Buddhas, aber sie teilen viele grundlegende Prinzipien. Im tibetischen Buddhismus gibt es zahlreiche Elemente, die als „hinzugefügt“ oder als Weiterentwicklungen im Vergleich zu den frühen Lehren Buddhas verstanden werden können. Eine der auffälligsten dieser Ergänzungen ist die Ausweitung der buddhistischen Praxis durch tantrische Rituale und mystische Praktiken. Diese tantrischen Elemente, die sich auf die Verehrung von Gottheiten, Visualisierungen und Meditationstechniken stützen, spielen im tibetischen Buddhismus eine zentrale Rolle. Diese Praktiken sind weitgehend auf den tantrischen Buddhismus zurückzuführen, der später in Indien und Tibet entstand. Das tantrische System im tibetischen Buddhismus ist nicht in den ursprünglichen Lehren des Buddha enthalten, sondern stellt eine spätere Entwicklung dar. Tantrische Praktiken beinhalten komplexe Meditationstechniken, die den Körper und Geist vereinen, um spirituelle Einsichten zu erlangen und letztlich die Erleuchtung zu erreichen. Tantras wurden als Schriften verfasst, die nicht nur die philosophische Bedeutung der Lehren des Buddha weitergibt, sondern auch detaillierte Anweisungen zur Durchführung von Ritualen und Meditationen enthalten. Tantra ist eine Form der esoterischen Lehre, die als „höhere Praxis“ im Buddhismus angesehen wird und in der Regel nicht an alle Gläubigen weitergegeben wird, sondern nur an diejenigen, die als geeignet angesehen werden. Die Praxis umfasst komplexe Symbole, Meditationen und Rituale, die als Mittel zur Beschleunigung des spirituellen Fortschritts dienen. Solche Praktiken sind ein markanter Unterschied zu den eher minimalistischeren und pragmatischen Lehren des frühen Buddhismus.
Ein weiteres Merkmal des tibetischen Buddhismus ist die Betonung auf die Verehrung von Bodhisattvas. Im tibetischen Buddhismus werden Bodhisattvas als erleuchtete Wesen verehrt, die darauf verzichten, in das Nirwana einzugehen, um allen fühlenden Wesen zu helfen. Diese Praxis der Verehrung und Fürsprache von Bodhisattvas hat sich aus den frühen Mahayana-Lehren entwickelt, die sich später in Tibet verbreiteten. Im traditionellen Theravada-Buddhismus wird der Fokus eher auf die eigene Erleuchtung gelegt, während im Mahayana und tibetischen Buddhismus der Altruismus und das Streben nach der Erleuchtung für das Wohl aller Wesen im Mittelpunkt stehen.
Ein weiterer bedeutender Unterschied zwischen tibetischem Buddhismus und der ursprünglichen buddhistischen Lehre ist die Rolle des Lamas. Im tibetischen Buddhismus sind Lamas spirituelle Lehrer, die eine zentrale Rolle bei der Führung und Anleitung der Gläubigen spielen. Das Konzept des Lamas, das eine Art spirituelle Autorität innerhalb der Gemeinschaft darstellt, hat keine Entsprechung im frühen Buddhismus. Während der Buddha selbst als Lehrer und Wegweiser fungierte, lag die Verantwortung für das Lehren und das Praktizieren der Lehre meist bei den Mönchen oder in späteren Traditionen bei den Sanghas (Gemeinschaften).
Die philosophischen Hinzufügungen im tibetischen Buddhismus können als eine Weiterentwicklung und Erweiterung der ursprünglichen Lehre betrachtet werden, die im Kontext des kulturellen und historischen Umfelds Tibet’s entstanden sind. Die Praxis des tibetischen Buddhismus kann als eine Synthese aus den ursprünglichen Lehren und späteren Entwicklungen verstanden werden, die sowohl der ursprünglichen Botschaft des Buddha treu bleibt, als auch die Bedürfnisse und spirituellen Herausforderungen der Menschen in einer sich wandelnden Welt berücksichtigt.